Ausland

Was macht ein Ombudsmann in Zeiten des Krieges?

Der ukrainische Menschenrechtsbeauftragte Dmytro Lubinets über schwierige Verhandlungen zum Austausch von Gefangenen mit Russland, Kriegsverbrechen und den skurrilen Fall zweier von Tirol nach Moskau gebrachter ukrainischer Jugendlicher.

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Herr Lubinets, als Ombudsmann der Ukraine sind Sie auch in die Koordinierung von Gefangenenaustausch involviert. Über welche Kanäle wird da verhandelt?
Lubinets
Es gibt dafür eine neue Koordinierungszentrale in Kyjiw (Kiew). Ich bin ein Mitglied dieser Zentrale und in Verhandlungen mit der russischen Ombudsfrau Tatjana Moskalkowa involviert, wenn es um die Rückkehr von Zivilisten geht. Wir helfen beim Austausch von Kriegsgefangenen, zuständig sind aber die Militärs.
Finden die Deals eins zu eins statt? Wie werden die Soldaten ausgesucht?
Lubinets
Ob eins zu eins ausgetauscht wird, ist Gegenstand der Verhandlungen. Der Austausch muss nicht immer eins zu eins stattfinden. Die Ukraine hält sich an die Regelungen der Genfer Konvention. Die russische Seite hält sich aber nicht daran. Laut der Genfer Konvention sollte eine Vermittlungsstelle zwischen den Konfliktparteien eingerichtet werden. Doch das ist nicht geschehen. In der Ukraine hat das Internationale Komitee des Roten Kreuz Zugang zu russischen Kriegsgefangenen, in Russland nicht. Die Lager für ukrainische Gefangene sind für Außenstehende völlig abgeriegelt.
Ist schon einmal ein Austausch schiefgegangen?
Lubinets
Ja, das ist geschehen – wegen der russischen Seite. Sie hat sich nicht an die Liste mit den Namen der Kriegsgefangenen gehalten und hat andere Leute geliefert. Russland versucht, Zivilisten gegen Soldaten auszutauschen. Es gab auch Situationen, in denen mehrere Länder vermitteln mussten. Als 2014 ukrainische Soldaten und Leiter von Militäreinheiten ausgetauscht wurden, haben etwa die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate vermittelt. Manches kann nicht öffentlich gemacht werden, darunter die Anzahl von Menschen und die Orte, wo der Tausch stattfindet.
Ein Video von der Erschießung am Boden liegender russischer Soldaten hat zuletzt auch im Westen für viel Entsetzen gesorgt. Für die Ukraine ist es besonders wichtig, in dem Krieg die moralische Hoheit zu bewahren. Was tut Kyjiw, um sicherzustellen, dass russische Kriegsgefangene nicht gefoltert oder gar hingerichtet werden?

„Bis heute ist mir kein Fall von Kriegsverbrechen gegen russische Gefangene vorgelegt worden. Umgekehrt sind etliche ukrainische Soldaten hingerichtet, verstümmelt und zuletzt sogar enthauptet worden.

Dmytro Lubinets

Ukrainischer Ombudsmann

Lubinets
Die Situation war eine andere: In dem Video sieht man, wie sich die russischen Soldaten ergeben. Ich habe eine Untersuchung darüber in Auftrag gegeben. Die Experten sagen, dass es sich um ein Kriegsverbrechen der russischen Soldaten handelte. Es waren insgesamt zwölf russische Soldaten, zehn von ihnen lagen auf dem Boden. Die Ukrainer dachten zuerst, alle würden sich ergeben, und haben ihre Waffen gesenkt, um die Soldaten festzunehmen. In diesem Moment stürmten zwei russische Soldaten aus einem Verschlag und eröffneten das Feuer auf die Ukrainer, mehrere Soldaten wurden getötet.
Das Genfer Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen schreibt vor, dass Soldaten, die sich ergeben und damit als Kriegsgefangene gelten, nicht getötet werden dürfen …
Lubinets
Sie schreibt auch vor, dass die Gegenseite nicht getäuscht werden darf. Das Vortäuschen der Absicht, sich zu ergeben, gilt im Sinne der Genfer Flüchtlingskommission als Kriegsverbrechen. Deswegen wurde das Kriegsverbrechen in diesem Fall von den russischen Soldaten begangen. Ich bekomme jeden Tag Videos zugespielt, untersuche diese mit meinem Team und schreibe dann an den Generalstaatsanwalt. Sollte es Verbrechen durch die Ukraine geben, muss das untersucht werden. Bisher aber ist mir kein solcher Fall untergekommen.
Die Vereinten Nationen haben zuletzt beiden Parteien vorgeworfen, Dutzende Kriegsgefangene ohne Prozess hingerichtet zu haben. Russische Soldaten hatten den UN-Ermittlern von Hinrichtungen russischer Kriegsgefangener berichtet.
Lubinets
Ich habe mich sehr über den Bericht der UN-Mission zur Überwachung der Menschenrechte gewundert. Ich schrieb ihnen einen Brief und fragte: Wir treffen uns regelmäßig, wieso habt ihr mich nie darauf angesprochen und mir die angeblichen Beweise vorgelegt? Ich hätte mir das angesehen. Ich habe nie eine Antwort auf meine Fragen erhalten. Bis heute ist mir kein Fall von Kriegsverbrechen gegen russische Gefangene vorgelegt worden. Umgekehrt sind etliche ukrainische Soldaten hingerichtet, verstümmelt und zuletzt sogar enthauptet worden.
Es tauchen dazu immer häufiger Videos auf. Werden die Fälle mehr?
Lubinets
Ja. Die Russen wollen unter den ukrainischen Soldaten Angst verbreiten. Deswegen machen sie diese Videos auch öffentlich. Es geht auch darum, den russischen Kämpfern zu vermitteln, bis zum Ende zu kämpfen und sich keinesfalls zu ergeben, weil sie sonst für die Verbrechen der Russen zur Verantwortung gezogen werden. Das ist die Logik der russischen Armee.
Wie sollen sich die Ukrainer in den besetzten Gebieten verhalten? Sie haben ihnen geraten, mit den Russen zu kooperieren und russische Pässe anzunehmen. Vize-Premierministerin Iryna Wereschtschuk sagte hingegen, man solle keine russischen Pässe akzeptieren und nicht kooperieren. Was ist nun für die Sicherheit der Zivilisten die bessere Strategie?
Lubinets
Die beste Überlebensstrategie ist, alles zu tun, um zu überleben. Die Position der Regierung ist eine andere als unsere, und das ist auch in Ordnung. Ich leite eine unabhängige Stelle, mein Fokus liegt auf Menschenrechten. Natürlich kann die Regierung nicht sagen: Nehmt russische Pässe an. Ich aber kann sagen: Wenn das nötig ist, um zu überleben, dann tut es. Selbstverständlich erkennen wir diese Pässe nicht an.
Wie würde Kyjiw bei einer Rückeroberung der besetzten Gebiete wie der Krim mit den dort angesiedelten Russen umgehen?
Lubinets
Die russische Bevölkerung, die nach 2014 angesiedelt wurde, kann sich entscheiden, ob sie das Gebiet verlassen oder in einem demokratischen Land bleiben will. Schwierigkeiten bekommt nur, wer Verbrechen begangen hat.
Es wurden Tausende ukrainische Kinder nach Russland verschleppt. Wie viele konnten bisher wieder zurückgeholt werden?
Lubinets
Deportiert wurden bisher rund 19.300 Kinder und Jugendliche, wir konnten mehr als 360 zurückholen. Wir kennen die Namen der Kinder, die Geburtsdaten. Manchmal wissen wir auch, wo sie sind.
Russland spricht von mehr als einer halben Million „evakuierten“ Kindern.
Lubinets
Das ist Propaganda. Sie behaupten, dass die Kinder ins Mutterland evakuiert wurden.
Was geschieht mit ihnen? Sie haben zuletzt von sexuellem Missbrauch gesprochen: Es habe den Versuch gegeben, über das Internet einen Buben zu verkaufen, um ihn für die Darstellung sexuellen Missbrauchs zu missbrauchen.
Lubinets
Wir sammeln Informationen über sexuelle Gewalt auf unserem Territorium. Doch dieser Fall hat sich zum Glück nach Rücksprache mit der Polizei und den Nachrichtendiensten als falsch herausgestellt. Es gibt aber etliche Fälle von sexueller Gewalt auch gegen Minderjährige durch russische Soldaten in der Ukraine. Das jüngste Opfer ist vier Jahre alt. In den zurückeroberten Gebieten wie Charkiw habe ich mit vielen Menschen gesprochen, die von sexuellen Übergriffen durch russische Soldaten berichten. Sie haben jede Nacht Frauen, Mädchen und Buben vergewaltigt. Viele Opfer haben Angst, darüber zu sprechen, wollen keine Ermittlungen. Meine Aufgabe ist es, ihre Rechte zu schützen. Die Opfer brauchen medizinische und psychologische Hilfe. Es gibt auch Fälle, in denen Frauen schwanger wurden. Ich habe mit einer Frau gesprochen, die ein Kind ausgetragen hat.
Ist es für diese Frauen möglich, in der Ukraine eine Abtreibung vornehmen zu lassen?
Lubinets
Ja. Aber viele tragen die Kinder aus.
Sie haben vor einigen Monaten Ihren Mitgliedsausweis des Europäischen Ombudsmann-Vereins (EOI) zerschnitten. Der Grund: Ein Beamter des Landes Tirol, der auch Generalsekretär und Geschäftsführer des EOI war, hat im Jänner dabei geholfen, zwei ukrainische Jugendliche nach Russland zu bringen. Der Beamte war zuvor als russophil aufgefallen. Wie kann ein dermaßen befangener Beamter auf einen so hohen Posten in einer internationalen europäischen Organisation gelangen?

Ich rufe Österreich dazu auf, diesen Fall zu klären. Wir wollen wissen, wie es dem Beamten gelingen konnte, gemeinsam mit den Kindern nach Moskau zu fliegen.

Dmytro Lubinets

Ombudsmann

Lubinets
Die Eltern der Kinder hatten sie nach Tirol geschickt, damit sie in Sicherheit sind. Ich frage mich: Wie kann ein Beamter aus Österreich zwei ukrainische Kinder auf eigene Faust nach Moskau bringen? Ich denke, dass die EOI ein Netzwerk für russische Geheimdienste ist. Sehen Sie sich die Mitglieder an: Russen, Serben, Österreicher, Italiener – aber nicht der amtierende italienische Ombudsmann, sondern ein ehemaliger Regionalvertreter ohne jegliche Akkreditierung. Die russische Ombudsfrau Moskalkowa meinte selbst, dass die Kinder mithilfe der russischen Geheimdienste nach Moskau gebracht wurden. Der Beamte scheint ein russischer Agent zu sein.
Möglicherweise war er auch ein nützlicher Idiot und kein Agent.
Lubinets
Ich kann das nicht überprüfen, das könnten die österreichische Regierung und der Nachrichtendienst. Ich rufe Österreich dazu auf, diesen Fall zu klären. Wir wollen wissen, wie es dem Beamten gelingen konnte, gemeinsam mit den Kindern nach Moskau zu fliegen. Er hatte zwar eine Vollmacht dabei, aber die war rechtswidrig.
Die Staatsanwaltschaft Innsbruck hat keine Ermittlungen aufgenommen. Damit ist der Fall aus Sicht Österreichs erledigt.
Lubinets
Die ukrainische Exekutive sollte sich bezüglich der Aufklärung dieser Angelegenheit an die österreichische Seite wenden und fordern, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden.
Haben Sie Kontakt zu den Müttern und Kindern, die sich nun in Russland befinden?
Lubinets
Nein.
Es laufen Bemühungen, die Verantwortlichen im Kreml für ihre Verbrechen in der Ukraine zur Verantwortung zu ziehen. Ist die strafrechtliche Verfolgung auch beim ukrainischen Volk Thema oder ist es für die Betroffenen noch zu früh, sich damit zu befassen?
Lubinets
Wir stehen voll hinter diesen Bemühungen. Für die Menschen ist das eine sehr wichtige Angelegenheit. Die Verbrechen dürfen nicht ohne Strafe bleiben. Es geht um Gerechtigkeit, nicht nur für die Ukraine, sondern für die gesamte demokratische Welt. Wenn die Verbrechen Russlands nicht geahndet werden, dann wird so etwas wieder geschehen. Der Krieg in der Ukraine hat nicht erst 2022 begonnen, sondern mit der Annexion der Krim. Ab 2015 wurden von dort Kinder nach Russland deportiert und andere Verbrechen begangen. Es gab kaum Reaktionen aus dem Westen, er hat den Kopf in den Sand gesteckt. Es blieb weitgehend bei mündlichen Verurteilungen und Bekundungen. Erst am 24. Februar 2022 ist die Welt aufgewacht.

Der Krieg in der Ukraine hat nicht erst 2022 begonnen, sondern mit der Annexion der Krim.

Dmytro Lubinets

Ombudsmann

Die Ukraine hat die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) zwar anerkannt, ist ihm aber noch immer nicht beigetreten. Wieso nicht?
Lubinets
Vor allem, weil wir sehen, dass das internationale System nicht funktioniert. Zudem könnte Russland das ausnutzen. Wir wollen keine Strafverfolgung des ukrainischen Militärs. Die Ukraine ist bereit, Mitglied des IStGH zu werden, sobald Putin strafrechtlich verfolgt wird.
Laut den USA fordert die Ukraine nun Lieferungen der international geächteten Streumunition. Stimmt das?
Lubinets
Ich kann das nicht kommentieren, nur so viel: Die Ukraine hat den Vertrag über das Verbot von Streumunition nicht unterschrieben. Ich bin als Ombudsmann aber nicht für Waffenlieferungen zuständig, sondern für Menschenrechte.

Interview: Siobhán Geets

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort und gehört zum "Streiten Wir!"-Kernteam.