Petra Draxl
Interview

AMS-Chefin Draxl: „Werden uns mit Erhöhung des Pensionsalters beschäftigen müssen“

AMS-Österreich-Co-Chefin Petra Draxl über die Erhöhung des Pensionsalters, die Kannibalisierung der EU am Arbeitsmarkt – und warum sie die 32-Stunden-Woche für kein gangbares Modell hält. Noch nicht.

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Die Arbeitslosigkeit steigt zwar, ist aber dennoch so niedrig wie schon lange nicht mehr – andererseits gibt es so viele offene Stellen wie schon lange nicht mehr. Macht Sie die Gesamtsituation eher glücklich oder unglücklich?

Petra Draxl

Grundsätzlich ist es positiv, dass sich die schwierige wirtschaftliche Situation noch nicht stark negativ auf den Arbeitsmarkt niederschlägt. Die aktuelle Wirtschaftsprognose war nicht sehr erfreulich, bei einer Rezession ist ja mit steigender Arbeitslosigkeit zu rechnen.  Es werden mehrere Faktoren einwirken: Wir haben steigende Beschäftigung im Wissen, dass mehr Menschen weniger Stunden arbeiten wollen – was nicht immer nur positiv ist, weil es perspektivisch für die Pension ein Problem werden kann. Der Arbeitskräftemangel führt auch dazu, dass Betriebe in wirtschaftlich schwierigen Situationen versuchen, Personal zu halten. Sie fürchten, nach überstandener Krise Probleme zu haben, Leute zu finden. Ob das so bleibt, ist abzuwarten.

Bis 2050 soll die Zahl von Menschen über 65 von 1,67 auf 2,6 Millionen wachsen. Sollten die Menschen länger arbeiten?

Petra Draxl

In Hinblick auf die Demografie müssen wir unterschiedliche Strategien fahren. Wir müssen das inländische Arbeitskräftepotenzial heben. Heißt: Wir müssen auf Menschen zugehen, die eine stille Reserve bilden. Das sind Menschen, die prinzipiell arbeiten würden, aber dem Arbeitsmarkt trotzdem fern sind. Und ja, wir müssen auch schauen, dass Menschen länger arbeiten. Da liegt viel am Arbeitgeber, das rechtzeitig schmackhaft zu machen. Ich denke, da werden sich auch Arbeitsmodelle verändern. Prinzipiell bleiben allein wegen der progressiven Anhebung des Frauenpensionsalters in den nächsten zehn Jahren rund 20.000 Frauen jährlich länger am Arbeitsmarkt.

Und ja, wir müssen auch schauen, dass Menschen länger arbeiten. Da liegt viel am Arbeitgeber, das rechtzeitig schmackhaft zu machen.

Petra Draxl

Über eine Möglichkeit, den Arbeitskräftemangel zu lindern

Aber soll das Pensionsalter angehoben werden?

Petra Draxl

Wenn man sich in Europa umschaut, lässt sich die Tendenz erkennen, dass das Pensionsalter der erhöhten Lebenserwartung angepasst wird. Die Deutschen arbeiten bis 67, Dänemark hat einen Pensionsautomatismus, da wurde bis 68 erhöht. Auch wir werden uns mit der Erhöhung des Pensionsalters beschäftigen müssen, auch wenn das kein beliebtes Thema ist und es immer gleich einen Aufschrei gibt.

Gibt es genug attraktive Modelle für längeres Arbeiten – Altersteilzeit etc. wurden ja wieder zurückgefahren. War das eine kluge und vorausschauende Idee in Anbetracht der Entwicklungen? Natürlich ist ein 30-Jähriger leistungsfähiger als jemand mit 60.

Petra Draxl

Wir werden auch auf die Branchen schauen müssen. Menschen, die etwa noch körperlich schwer am Bau arbeiten, weil sie noch nicht so viel technologische Unterstützung haben, werden nicht so lange arbeiten können.

Das wird wohl auch individuell zu entscheiden sein. Denn wer vom Sitzen drei Bandscheibenvorfälle hat, wird wohl auch nicht ewig arbeiten können.

Petra Draxl

Ja, gleichzeitig stellt sich in einer Gesellschaft, die immer mehr mit Wissensarbeit zu tun hat, schon die Frage: Warum soll man nicht bis 68 arbeiten, wenn man kann und will? Dafür bräuchte es aber auch eine Kulturänderung: Wir starren immer auf dieses Datum hin. In meinem Alter ist das fast wie ein Begrüßungshandschlag: Wie alt bist du, und wann gehst du in Pension? Es braucht eine Flexibilität im Denken und in der Haltung, wann der richtige Zeitpunkt ist, um aus dem Arbeitsprozess auszusteigen.

Die Arbeitslosenstatistik zeigt, dass vor allem Menschen über 50 schwer einen Job finden. Das liegt wohl auch daran, dass diese Arbeitskräfte verhältnismäßig teuer sind. Ketzerische Frage: Sind die Kollektivverträge, die vorsehen, dass man im zunehmenden Alter immer mehr verdient, nicht auch aus der Zeit gefallen? Der Peak der Leistungsfähigkeit – und wo man auch privat am meisten Geld braucht – ist wohl irgendwo zwischen 30 und 45. Warum Gehaltsstrukturen nicht eher als Kurven andenken? Würde das älteren Arbeitssuchenden helfen?

Petra Draxl

Da sind die Branchen sehr unterschiedlich. Das Senioritätsprinzip ist kein durchgängiges mehr, und es hat in vielen Kollektivverträgen eine Abflachung der Kurven gegeben – und das hat auch geholfen.

In Hinblick auf die Energiewende fehlen Qualifikationen. Zum Beispiel ein Autobauer: Der erkennt vielleicht sogar, dass der Verbrennungsmotor nicht die Zukunft ist – hat aber andererseits vor allem Personal, dem die Qualifikationen für die neuen Herausforderungen schlicht fehlen. Was tut man da?

Petra Draxl

Wir glauben, dass die ökologische Transformation eine Hauptherausforderung ist. Da müssen wir gut investieren: Sowohl in die Qualifikation von Arbeitslosen wie von Beschäftigten. Wir haben mit der Umweltstiftung die Möglichkeit, Ausbildungen in über 200 Berufen zu machen. Da machen wir erste Schritte. Dazu diskutieren wir, ob wir als AMS in die Qualifizierung von Beschäftigten einsteigen sollen, um Arbeitslosigkeit vorzubeugen. Es gibt da schon kleine Länderprogramme – auch der Bund geht erste Schritte, gerade im Bereich der Digitalisierung. Wenn wir es im großen Stil machen wollen und sollen, brauchen wir Mittel und einen Auftrag.

In meinem Alter ist das fast wie ein Begrüßungshandschlag: Wie alt bist du, und wann gehst du in Pension?

Petra Draxl

über eine notwendige Kulturänderung in Dingen Pensionsantrittsalter

Apropos Qualifizierung: Rund die Hälfte aller Arbeitslosen hat nicht mehr als einen Pflichtschulabschluss. Das ist ein Problem, das seit Jahren mehr oder weniger gleich ist. Ist da irgendwo Land in Sicht?

Petra Draxl

Grundsätzlich hat sich in der österreichischen Bevölkerung seit den 1980er-Jahren einiges positiv geändert. Es gibt viel mehr Akademiker und viel weniger Personen mit maximal Pflichtschulabschluss – und die Ausbildungspflicht hat geholfen. Aber es stimmt: Es ist nach wie vor die problematische Gruppe – also wer sind die? Einerseits sind wir noch immer eine Art Reparaturzentrum für das Schulsystem. Es gibt Menschen, die es dort nicht schaffen, und die holen das bei uns nach. Und dann haben wir ein Problem mit dem Zuzug. Viele junge Flüchtlinge kommen aus ihren Heimatländern oder aus Lagern ohne schulische Karriere. Und für die will ich endlich 18 Monate Schule haben. Wir nennen es Jugendcollege, wir haben das schon einmal gemacht, und es war sehr erfolgreich. Bitte sehen wir diese Menschen als Ressourcen und nicht immer als Problem. Das sind junge Menschen, die auch bildungsorientiert sind – und ja, die brauchen vielleicht auch etwas Druck, aber geben wir ihnen die Basisbildung, damit wir dann von ihnen profitieren können.

Flüchtling ist ja nicht gleich Flüchtling. Bei den Menschen aus dem arabischen Raum geht es wohl oft auch um ganz profane Dinge, etwa dass sie unsere Schrift nicht lesen können. Und dann kamen vergangenes Jahr viele gut gebildete Ukrainer, von denen man sich Linderung am Arbeitsmarkt erhofft hat. Das hat nicht geklappt. Ist das ein Problem der Nostrifizierungen?

Petra Draxl

Das ist ein altes Thema, das uns schon lange beschäftigt – aber positiv gesprochen: Es hat sich in den letzten zehn Jahren schon was getan. Etwa im medizinischen Bereich wurden Hürden abgebaut. Ein Grundproblem bleibt, dass unser System zu komplex ist. Es sind Bund und Länder zuständig, und da werden die Leute hin und her geschickt. Wir müssen über Vereinfachungen nachdenken. Und dann gibt es auch das Problem: Manche Berufe kann man schlicht nicht nostrifizieren. Eine ukrainische Richterin hat ukrainisches Recht gelernt. Es ist frustrierend für die Menschen, aber damit kannst du hier nichts anfangen.

Viele junge Flüchtlinge kommen aus ihren Heimatländern oder aus Lagern ohne schulische Karriere. Und für die will ich endlich 18 Monate Schule haben.

Petra Draxl

über dringend nötige Qualifizierung von Zuzug

Aus der Ukraine sind viele Frauen mit Kindern gekommen. Es gibt ein Henne-Ei-Problem: Keine Kinderbetreuung ohne Job – kein Job ohne Kinderbetreuung. Wie kommt man da raus?

Petra Draxl

Ich halte das für ein Problem, aber nicht für das Hauptproblem. Wir wissen, dass sich die Gruppe der Ukrainer stark die Frage stellt: Wie viel darf ich verdienen, um nicht aus der Grundversorgung zu fallen? Denn das könnte etwa mit dem Verlust von Wohnmöglichkeiten einhergehen usw. Außerdem glauben wir, dass es für die hoch qualifizierten Ukrainer andere Deutschformate braucht – die sind derzeit auf traumatisierte Flüchtlinge aus dem arabischen Raum ausgelegt, die wenig Qualifikation haben. Das passt einfach nicht.

Entspricht diese Deutschpflicht, die in Österreich am Arbeitsmarkt so hochgehalten wird, noch einer globalisierten Welt?

Petra Draxl

Da hat sich einiges getan. Englisch zählt jetzt in der Rot-Weiß-Rot-Karte viel mehr als vorher, und bei den Deutschkenntnissen hat man die Anforderungen nach unten geschraubt. Wir sind noch immer attraktiv für Zuwanderung, das zeigen die Zahlen: Betrachtet man das Arbeitskräftepotenzial, erkennt man, dass dieses im Jahr 2022 im Vergleich zu 2021 um 42.765 Personen aus der EU und um 23.519 Personen aus Drittstaaten gestiegen ist. Das inländische Arbeitskräftepotenzial hingegen ist um 26.213 gesunken.

Stimmt es, dass weniger Osteuropäer kommen als früher?

 Petra Draxl

Die Frage ist, woher. Es gibt sicher einen branchenspezifischen Rückgang– und aus manchen Staaten. Sehen Sie nach Bulgarien, die haben zwei Millionen Menschen weniger am Arbeitsmarkt als Anfang der 2000er-Jahre. Man muss sich vorstellen, was das für ein Land heißt – und auch für uns ist nicht mehr viel zu holen. Aber gerade für Menschen aus Ex-Jugoslawien sind wir attraktiv, auch weil es hier Communities gibt.

Woher sollen die Leute also kommen?

Petra Draxl

Man muss sehen, dass die europäischen Staaten miteinander um Fachkräfte konkurrieren. Wir brauchen eine EU-weite Strategie, damit wir uns nicht gegenseitig kannibalisieren. Und gute Abkommen mit Drittstaaten. Die gibt es schon teilweise, aber es scheitert da noch an sehr banalen Dingen: Zum Beispiel, dass man keinen elektronischen Antrag stellen kann, wenn man in einem solchen Drittstaat ist und sich in Österreich in einer gesuchten Branche bewerben will.

Was soll das heißen?

Petra Draxl

Momentan müssen Sie auf die Botschaft gehen. Nehmen wir etwa Indien. Wir wollen dort um IT-Kräfte werben. Erstens kann der Weg auf die österreichische Botschaft wirklich weit sein. Zweitens gibt es bei vielen Botschaften schlicht keine Termine unter einer Wartezeit von 1,5 Jahren. Solange das so ist, werden wir keine großen Schritte machen können. Wir brauchen einen durchgängigen Prozess mit Beratung für Interessenten. Und eine Plattform für die Unternehmer, damit das auch matcht. Daran müssen wir dringend arbeiten.

Man muss sehen, dass die europäischen Staaten miteinander um Fachkräfte konkurrieren. Wir brauchen eine EU-weite Strategie, damit wir uns nicht gegenseitig kannibalisieren.

Petra Draxl

über neue Märkte für Arbeitskräfte

Also Österreich wird internationaler sein?

Petra Draxl

Ja. Wir haben die Zielvorgabe, dass wir jedes Jahr noch 2000 Leute über EURES in den österreichischen Arbeitsmarkt bringen. Und es sollen 15.000 Rot-Weiß-Rot Karten ausgestellt werden.

Das Wifo hat jetzt lange herumgerechnet und ist zu dem Schluss gekommen, dass wir ins schon länger in einer Rezession befinden. Rechnen Sie mit mehr Arbeitslosen?

Petra Draxl

Wir rechnen mit leicht steigender Arbeitslosigkeit 2024. Ein anderer Aspekt ist die Kurzarbeit, für die  20 Millionen vorgesehen sind– wenn das nicht reicht, weil die wirtschaftliche Lage schwieriger wird, ja, dann gibt es mehr Arbeitslose. Wenn die Politik aufstockt, wird es weniger sein. Schwierig zu sagen, es sind kommunizierende Gefäße.

32-Stunden-Woche bei gleichbleibendem Lohn, wie die SPÖ das fordert. Ja oder nein?

Petra Draxl

Meine Tage werden mitunter schon auch lange – aber ich achte auf Ausgleich. Ich koche gerne, fahre Rad, habe Freunde. Und das Wochenende halte ich mir frei, das dient der Erholung.

Fotos: Alexandra Unger

Anna  Thalhammer

Anna Thalhammer

ist seit März 2023 Chefredakteurin des profil. Davor war sie Chefreporterin bei der Tageszeitung „Die Presse“.