Heftige Kontroversen um mögliche Verkürzung der Arbeitszeit

Die schwedische Stadt Göteborg experimentiert mit der 30-Stunden-Woche - und könnte mitentscheiden, wie wir in Zukunft arbeiten. Angesichts von Rekordarbeitslosigkeit werden auch hierzulande Rufe nach einer Verkürzung der Arbeitszeit laut. Doch die Heilsversprechungen sind umstritten.

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Wenn Daniel Bernmar das Altersheim im schwedischen Göteborg betritt, kann es schon einmal vorkommen, dass ihm die Mitarbeiter um den Hals fallen. Der Stadtrat der ortsansässigen Linkspartei hat dort im Februar den Sechsstundentag eingeführt - bei vollem Lohnausgleich. Vorerst ist die Arbeitszeitverkürzung nur in der Testphase. 60 städtische Bedienstete kommen in den Genuss der reduzierten Arbeitszeit, alle anderen arbeiten weiterhin acht Stunden. "Wir wollen herausfinden, was passiert, wenn man die Tagesarbeitszeit von acht auf sechs Stunden reduziert", erklärt Bernmar. Die Universität in Göteborg begleitet das Experiment und wird ein Jahr lang erforschen, welche Auswirkungen die Reduktion der Arbeitszeit mit sich bringt.

Das Pilotprojekt in Schwedens zweitgrößter Stadt könnte zum Vorbild für den österreichischen Arbeitsmarkt werden. Zumindest wünscht sich das der heimische Gewerkschaftsbund. Und das, obwohl die Bewegung ihr historisches Ziel einer 40-Stundenwoche längst erreicht hat. Unter dem Schlachtruf "acht Stunden arbeiten, acht Stunden schlafen und acht Stunden Freizeit" hatten die Arbeiternehmervertreter seit 1890 für eine Arbeitszeitverkürzung mobilgemacht. Von bis zu 80 Wochenstunden Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Arbeitszeit schrittweise reduziert. Vor genau 40 Jahren trat die aktuell gültige 40-Stunden-Regelung in Kraft. Seither hat sich wenig getan.

Doch nun scheinen die Gewerkschafter und Teile der Politik die Arbeitszeitverkürzung neu für sich zu entdecken. Bundeskanzler Werner Faymann gab sich am 1. Mai, dem Tag sozialdemokratischer Folklore, kämpferisch und forderte eine sechste Urlaubswoche. ÖGB-Präsident Erich Foglar geht sogar noch weiter. "Während die einen keine Arbeit haben oder unfreiwillig in Teilzeit sind, arbeiten die anderen so viel, dass sie krank werden", sagte er bei der traditionellen Maikundgebung am Wiener Rathausplatz vergangenen Freitag. Die Gewerkschaft will daher die 30-Stunden-Woche einführen. Bei vollem Lohnausgleich, versteht sich.

"Retro-Ideen" nennen das die Unternehmervertreter, die derartigen Forderungen naturgemäß nichts abgewinnen können. Vielmehr würden sie gerne die Zeit zurückdrehen: Sie forcieren eine Ausweitung der Tageshöchstarbeitszeit auf zwölf Stunden und weitere Flexibilisierungen, zudem eine Anhebung des Pensionsantrittsalters. Parallel zu diesem Stellungskrieg nehmen prekäre Beschäftigungsverhältnisse wie unbezahlte Praktika oder freie Dienstnehmer rasant zu. Wir befinden uns also inmitten eines neuen Arbeitskampfes. Die zentrale Frage lautet: Werden wir künftig mehr oder weniger Freizeit haben? Und: Was werden wir verdienen? Die Antworten darauf werden darüber entscheiden, wie wir in Zukunft arbeiten - und leben.

Man kann es sich auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr leisten, auf Arbeitszeitverkürzungen zu verzichten (Jörg Flecker, Soziologieprofessor an der Uni Wien)

Die Ausgangslage gestaltet sich schwierig. Obwohl so viele Menschen in Beschäftigung sind wie noch nie, ist die Arbeitslosenquote auf ein Rekordhoch gestiegen. 428.519 Menschen sind derzeit ohne Job, so viele wie seit 1950 nicht mehr. Dem Problem will die linke Reichshälfte nun mit der Verkürzung von Arbeitszeit entgegenwirken. Das Konzept, dass alle, die bereits einen Arbeitsplatz haben, fortan einfach weniger arbeiten und der freiwerdende Bedarf an Arbeitsleistung neue Jobs schafft, klingt auf den ersten Blick nachgerade verführerisch.

"Man kann es sich auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr leisten, auf Arbeitszeitverkürzungen zu verzichten", sagt Jörg Flecker, Soziologieprofessor an der Uni Wien. Geht es nach Flecker, sollen die 5,7 Milliarden Arbeitsstunden, die Österreichs Beschäftige jährlich abspulen, auf mehr Menschen verteilt werden. Trotz 40-Stundenwoche bringen es die heimischen Vollzeitbeschäftigten im Schnitt auf 43 Arbeitsstunden (2014). Damit liegt Österreich im EU-Spitzenfeld, nur die Griechen arbeiten noch mehr. Grund dafür ist die hohe Anzahl an Überstunden, die sich auf knapp 300 Millionen Stunden im Jahr summieren. Ein Viertel davon bleibt sogar unbezahlt. 180.000 Jobs könnte man alleine durch die Streichung der Überstunden schaffen, rechnet die Gewerkschaft vor. Zwar hält Flecker die Zahl für weit überzogen, doch glaubt auch er an die Schaffung neuer Arbeitsplätze.

Wegen der hohen Arbeitsbelastung bekommt Österreich im sogenannten Better-Life-Index der OECD ein schlechtes Zeugnis ausgestellt, was die Balance zwischen Arbeit und Freizeit angeht. Die Krankenstände - derzeit 13 Tage pro Arbeitnehmer und Jahr - könnten durch eine Reduktion der Arbeitszeit sinken.

Aber es geht längst nicht nur um Jobs und Gesundheit. Eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit auf 30 Stunden würde auch das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern reduzieren, argumentiert Beate Littig, Soziologin am Institut für höhere Studien. Sie spricht in diesem Zusammenhang von der "Notwendigkeit einer neuen Normalarbeitszeit". Damit gelinge es Frauen leichter, aus der Teilzeitfalle auszubrechen und auf eine Vollzeitbeschäftigung zu wechseln, während Männer wiederum mehr Freizeit hätten, um ihren Teil zum Haushalt und der Kinderbetreuung beizutragen.

Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich verteuert die Arbeitskraft (Martin Gleitsmann, Abteilung Sozialpolitik der Wirtschaftskammer)

Ist die Arbeitszeitverkürzung also ein Wundermittel gegen Arbeitslosigkeit, Krankenstände und Ungleichgewichte zwischen den Geschlechtern? Ganz so einfach ist es nicht.

"Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich verteuert die Arbeitskraft", gibt Martin Gleitsmann von der sozialpolitischen Abteilung der Wirtschaftskammer zu bedenken. Gleitsmann glaubt daher nicht an die Verheißungen einer Arbeitszeitverkürzung. Unternehmen würden sich keine neuen Arbeitskräfte leisten können. Vielmehr werde der "Wirtschaftsstandort geschwächt" und die Arbeitslosigkeit entgegen den Versprechungen steigen. Tatsächlich ist die einzelne Arbeitsstunde in Österreich überdurchschnittlich teuer: 31,4 Euro kostet sie den Arbeitgeber unter Einrechnung der Lohnnebenkosten, im EU-Schnitt sind es nur 23,20 Euro. Gerade Branchen, in denen die Arbeitskräfte einen hohen Anteil der Gesamtkosten ausmachen, kämen durch eine Reduktion der Arbeitszeit massiv unter Druck. Das Gastgewerbe etwa, aber auch der gesamte Dienstleistungssektor.

Diese negativen Effekte gesteht selbst Jörg Flecker ein, der eigentlich ein glühender Anhänger der Arbeitszeitverkürzung ist. Er schlägt daher vor, die Lohnnebenkosten für Unternehmen deutlich zu senken. Statt die Abgaben an den Lohn zu koppeln, könnte eine Wertschöpfungsabgabe, die sogenannte Maschinensteuer, zu einem Ausgleich zwischen den Branchen führen.

Den deutschen Ökonomen Wolfgang Scherf überzeugt das nicht. Er warnt davor, allzu große Beschäftigungsimpulse durch Arbeitszeitverkürzungen zu erwarten. Und plädiert demgegenüber für eine "wachstumsorientierte Stabilitätspolitik". Allein: Beim Wirtschaftswachstum steht seit Jahren eine Null vor dem Komma. Es bräuchte etwa dreiprozentige Wachstumsraten, um die Arbeitslosigkeit einzudämmen. Eine Progression dieses Ausmaßes ist für die nächsten Jahre nicht zu erwarten.

Die Effekte einer Arbeitszeitverkürzung sind also wild umstritten. Mangels heimischer Erfahrungswerte lohnt ein Blick ins Ausland: Frankreich wagte das Experiment Ende der 1990er-Jahre. Die gesetzliche Arbeitszeit wurde von 39 auf 35 Stunden reduziert. Schon damals war es das erklärte Ziel der Regierung, die Arbeitslast auf mehr Schultern zu verteilen und so die Arbeitslosenrate (sie lag 1997 bei 12,7 Prozent) zu senken.

Das französische Modell

Mit den Auswirkungen hat sich die Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt in einer Studie auseinandergesetzt. Jörg Flecker ist einer der Autoren. Die französische Regierung versprach sich von der Maßnahme 700.000 neue Arbeitsplätze zwischen 1998 und 2002. Geworden sind es deutlich weniger, nämlich 350.000. Flecker meint, dass das an den Begleitmaßnahmen lag: So wurde etwa die Arbeitszeit flexibilisiert. Unternehmen konnten damit besser auf schwankende Auftragslagen reagieren, ohne zusätzliche Arbeitnehmer beschäftigen zu müssen. Als 2002 die Linkskoalition abgewählt wurde, stoppte die neue konservative Regierung die Ausweitung der Arbeitszeitreduktion auf Betriebe mit weniger als 20 Mitarbeitern. Außerdem wurde das Überstundenkontingent massiv ausgeweitet. "Die 35-Stunden-Woche wurde zwar bis heute nicht abgeschafft, aber deutlich verwässert", bilanziert Flecker.

Selbstredend haben Gegner der Arbeitszeitverkürzung ihr eigenes Narrativ zum französischen Arbeitszeitmodell. Was Flecker unerwähnt lässt, hebt Gleitsmann von der Wirtschaftskammer hervor: "Die Personalkosten haben sich massiv erhöht und die Wettbewerbsfähigkeit hat darunter gelitten." Auf dem französischen Arbeitsmarkt sieht es trist aus. Nach einer anfänglichen Reduktion der Arbeitslosenzahlen, stieg die Rate von 8,6 Prozent im Jahr 2000 wieder auf 10,6 Prozent im Februar 2015. Die Arbeitszeitverkürzung habe großen Anteil an den "gravierenden Problemen, die Frankreich derzeit hat", meint Gleitsmann.

Während die Befürworter der Arbeitszeitverkürzung die Maßnahmen der Grande Nation als Erfolg preisen, nutzen die Gegner sie als mahnendes Negativbeispiel. Die Fragen bleiben. Fragen, die man sich längst nicht nur hierzulande stellt.

Dreitagewoche?

Vor einem Jahr forderten mehr als 100 deutsche Wissenschaftler, Politiker, Gewerkschafter und Publizisten in einem offenen Brief eine 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Aktuell schwelt zwischen Deutscher Post und Gewerkschaft ein Streit um eine kürzere Wochenarbeitszeit für 140.000 Beschäftigte. Die Gewerkschaft fordert eine Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeiten auf 36 Wochenstunden. Die Verhandlungen stocken. Unterdessen denkt selbst der Multimilliardär Carlos Slim, zeitweise der reichste Mensch der Welt und nunmehr Großaktionär der Telekom Austria, laut über eine Dreitagewoche nach. Allerdings sollen die Arbeitnehmer dann täglich elf Stunden arbeiten und das Pensionsalter möchte Slim auf 75 Jahre anheben.

Zurück nach Schweden. Dort sollen, so hofft der linke Stadtrat Bernmar, die Mitarbeiter des Altersheimes durch die reduzierte Arbeitszeit "gesünder, aber auch glücklicher werden" und dadurch "eine bessere Pflegequalität im Altersheim gewährleisten". Das linke Prestigeprojekt ist als Prototyp eines neuen Arbeitszeitmodelles für ganz Schweden gedacht, mit dem Druck auf die nationale Regierung ausgeübt werden soll.

Wenn Anfang nächsten Jahres die ersten Ergebnisse in Göteborg vorliegen, werden die österreichischen Sozialpartner ebenfalls gespannt gen Norden blicken. Welchen Ausgang das Projekt auch findet: Es könnte zu einem neuen Referenzpunkt in der Ausgestaltung von Arbeitszeit werden.

Arbeitsstunden pro Woche

GRIECHENLAND

44,2

23 Urlaubstage und 10 Feiertage im Jahr

ÖSTERREICH

43,0

25 Urlaubstage und 11 Feiertage im Jahr

GROSSBRITANNIEN

42,9

24,6 Urlaubstage u. 8 Feiertage im Jahr

PORTUGAL

42,8

22 Urlaubstage und 11 Feiertage im Jahr

POLEN

42,4

20 Urlaubstage und 8 Feiertage im Jahr

ZYPERN

42,4

20 Urlaubstage und 13 Feiertage im Jahr

SLOWENIEN

41,9

20 Urlaubstage und 9 Feiertage im Jahr

TSCHECHIEN

41,8

25 Urlaubstage und 11 Feiertage im Jahr

SLOWAKEI

41,7

21,2 Urlaubstage u. 13 Feiertage im Jahr

SPANIEN

41,6

22 Urlaubstage und 14 Feiertage im Jahr

DEUTSCHLAND

41,5

30 Urlaubstage und 10 Feiertage im Jahr

BELGIEN

41,4

20 Urlaubstage und 10 Feiertage

MALTA

41,3

24 Urlaubstage und 13 Feiertage im Jahr

BULGARIEN

41,2

20 Urlaubstage und 9 Feiertage im Jahr

KROATIEN

41,2

20 Urlaubstage und 12 Feiertage im Jahr

NIEDERLANDE

40,9

25 Urlaubstage und 5 Feiertage im Jahr

UNGARN

40,9

20 Urlaubstage und 9 Feiertage im Jahr

ESTLAND

40,8

20 Urlaubstage und 9 Feiertage im Jahr

LUXEMBURG

40,8

25 Urlaubstage und 10 Feiertage

SCHWEDEN

40,8

25 Urlaubstage und 9 Feiertage

FRANKREICH

40,5

25 Urlaubstage und 10 Feiertage im Jahr

ITALIEN

40,5

28 Urlaubstage und 9 Feiertage im Jahr

LETTLAND

40,5

20 Urlaubstage und 10 Feiertage im Jahr

RUMÄNIEN

40,4

21 Urlaubstage und 6 Feiertage im Jahr

IRLAND

40,3

24 Urlaubstage und 8 Feiertage im Jahr

FINNLAND

40,0

25 Urlaubstage und 9 Feiertage im Jahr

LITAUEN

39,5

20 Urlaubstage und 11 Feiertage im Jahr

DÄNEMARK

38,8

30 Urlaubstage und 10 Feiertage

EU-28

41,5

24 Urlaubstage und 10 Feiertage im Jahr

ARBEITSSTUNDEN/WOCHE-RANKING:

1. Griechenland 2. Österreich 3. Großbritan. 4. Portugal 5. Polen 6. Zypern 7. Slowenien 8. Tschechien 9. Slowakei 10. Spanien 11. Deutschland 12. Belgien 13. Malta 14. Bulgarien 15. Kroatien

LOHNNEBENKOSTEN-RANKING:

1. Schweden 2. Frankreich 3. Litauen 4. Italien 5. Belgien 6. Slowakei 7. Tschechien 8. Estland 9. Österreich 10. Spanien 11. Niederlande 12. Ungarn 13. Rumänien 14. Finnland 15. Deutschland

JAHRESURLAUBSTAGE-RANKING:

1. Deutschland 2. Dänemark 3. Italien 4. Niederlande 5. Tschechien 6. Luxemburg 7. Österreich 8. Frankreich 9. Schweden 10. Finnland 11. Großbritan. 12. Irland 13. Malta 14. Griechenland 15. Spanien

Jakob   Winter

Jakob Winter

ist Digitalchef bei profil und leitet den Faktencheck faktiv.