Impfstoff

Nur eine von fünf Fabriken liefert AstraZeneca-Impfstoff ...

... das sagt Sandra Gallina, oberste Impf-Koordinatorin der EU-Kommission. Sie macht dem Pharmakonzern schwere Vorwürfe. Was ist da los? Eine Spurensuche.

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Die breite Öffentlichkeit hat von Sandra Gallina noch kaum etwas gehört. Doch in der Corona-Krise spielt die Italienerin, die seit dem Jahr 1988 in Brüssel lebt, eine wohl wichtigere Rolle als die meisten EU-Regierungschefs. Gallina ist Spitzenbeamtin, sie leitet die Abteilung für Gesundheit und Ernährungssicherheit der EU-Kommission, der zentralen Behörde der Union unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Zugleich ist Gallina oberste EU-Impfstoffbeschafferin. Seit vergangenem Jahr verhandelt sie im Namen aller 27 Mitgliedstaaten mit Pharmakonzernen über Impflieferungen.

Heute jedoch muss Gallina immer öfter erklären, warum die Sache mit den Impfungen in Europa gar so holprig läuft. Zum Beispiel im EU-Parlament am 23. März. Die EU-Abgeordneten wollen von Gallina wissen, warum in der EU erst 14 Prozent der Erwachsenen den Stich bekommen haben, während es in den USA bereits 32 und in Großbritannien gar 47 Prozent sind. Schuld daran sei vor allem AstraZeneca, sagt Gallina. Der britisch-schwedische Pharmakonzern galt noch vor wenigen Monaten als großer Hoffnungsträger der EU im Kampf gegen die Krise. Billig, leicht handhabbar, gut wirksam: Hunderte Millionen Dosen des AstraZeneca-Stoffs Vaxzevria, den der Konzern zusammen mit der britischen Universität Oxford entwickelt hat, hätten Europa den Weg aus der Krise ebnen sollen.

Was ist AstraZeneca?

AstraZeneca entstand im Jahr 1999 aus der schwedischen Astra AB und der britischen Zeneca PLC. Der Hauptsitz des Konzerns (rund 22 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz, 64.000 Mitarbeiter) liegt im britischen Cambridge. Vorstandschef Pascal Soriot-61, gelernter Tierarzt und Ökonom, geboren in Paris, wohnhaft in Australien - leitet das Unternehmen seit 2012. Er führte es aus einer tiefen Krise und wehrte unter anderem einen Übernahmeversuch durch Pfizer 2014 ab. Impfstoffe sind eigentlich nicht das Kerngeschäft von Astra-Zeneca, vielmehr etwa Krebs-Medikamente. Dennoch ging man im April 2020 einen Deal mit der Universität Oxford ein und sicherte sich die Rechte am dort entwickelten Impfstoff. Zuvor waren Gespräche der Uni mit den Pharmakonzernen Merck und Glaxo-Smith-Kline gescheitert. AstraZeneca stellt die Impfung laut Eigenangaben zum Selbstkostenpreis her, verdient also nichts daran. Die Österreich-Tochter von AstraZeneca im 3. Wiener Bezirk beschäftigt 140 Mitarbeiter.

Heute spricht Gallina vor den Abgeordneten von "einer Schande", "einem Image-Schaden gewaltigen Ausmaßes", "einer Frage von Menschenleben". Sie stünden auf dem Spiel, weil AstraZeneca nicht hält, was es der EU versprochen hat. Im ersten Quartal 2021 trafen anstelle der vereinbarten 120 Millionen Dosen lediglich 30 Millionen in den EU-Staaten ein. Für das zweite Quartal hat der Konzern die angekündigte Liefermenge auch schon mehr als halbiert. Österreich ist von dem Engpass besonders betroffen, weil die türkis-grüne Bundesregierung relativ viel von AstraZeneca bestellt hat im Vergleich zu Präparaten anderer Hersteller.

Die EU gegen AstraZeneca-einen derart erbitterten Konflikt mit einem Unternehmen hat man in der jüngeren Geschichte Europas noch nicht erlebt. Besonders schmerzhaft für die Europäer ist, dass das abtrünnige Großbritannien rascher mit dem Impfen vorankommt. London verwendet ebenfalls viel AstraZeneca-Stoff; allerdings ist die Insel interessanterweise von den Lieferschwierigkeiten weniger betroffen als das Festland. Die EU fühlt sich verraten und benachteiligt.

Ende März gipfelte der Konflikt gar in einer Razzia. Auf Bitte der EU-Kommission filzten italienische Behörden ein Impfstoff-Abfüllwerk nahe Rom. "Wir hatten den Verdacht, dass AstraZeneca über mehr Produktionskapazität in Europa verfügte, als sie angegeben hatten", begründete ein Kommissionssprecher die Aktion. Die Behörden entdeckten 29 Millionen Impfdosen, die laut italienischen Medien "versteckt" worden sein sollen. Ein Vorwurf, den AstraZeneca zurückweist.

Was ist da los? Schmeißt die EU-Kommission angesichts immer lauter werdender Kritik am Impfprogramm die Nerven weg? Erklärt sie einen Pharmakonzern zum Sündenbock? Oder führt ein mächtiges Unternehmen, das auf einem hochbegehrten Gut sitzt, 450 Millionen EU-Bürger an der Nase herum?

Man kann sich dieser Frage anhand einer konkreten Aussage Gallinas nähern. In der Fragestunde des EU-Parlaments sagt sie: "AstraZeneca produziert derzeit nur in einer Fabrik von fünf, die wir vertraglich vereinbart haben. Das sind die Fabriken, mit denen das Unternehmen den europäischen Markt versorgen muss." Welche fünf Fabriken sind das? Und vor allem: Warum liefern vier davon nicht? Möglicherweise bringt der Blick auf diese Standorte mehr Aufklärung.

Erster Versuch. Anfragen bei der EU-Kommission und AstraZeneca. Aus dem Wiener Büro der EU-Kommission heißt es, Auskünfte zu Produktionsabläufen müsse man bei AstraZeneca selbst einholen. Die Österreich-Niederlassung von AstraZeneca wiederum lässt auf profil-Anfrage wissen: "Aus Sicherheits-und Vertraulichkeitsgründen geben wir keine spezifischen Details über die Anzahl der Impfstoffproduktionsstätten in einem bestimmten Gebiet bekannt." AstraZeneca äußert sich nicht einmal dazu, ob Gallinas Behauptung überhaupt stimmt, wonach von fünf Standorten nur einer an die EU liefere.

Zweiter Versuch. Ein Blick in die "Vorkaufsvereinbarung". Das ist ein Vertrag, 42 Seiten lang, abgeschlossen zwischen der EU und AstraZeneca vergangenen Sommer. Darin wurde alles festgehalten, worüber man in den Monaten zuvor verhandelt hatte: Liefermengen, Preise, Kaufbedingungen. Die Vereinbarung blieb zunächst geheim; doch als vergangenen Jänner der Streit zwischen der Union und dem Konzern ausbrach, kam man überein, sie zu veröffentlichen. Wenn auch mit seitenlangen Schwärzungen.

Auf Seite 39 dieser Vorkaufsvereinbarung finden sich die fünf Fabriken, von denen Gallina gesprochen hat.. Sie gehören nicht unmittelbar zu AstraZeneca, sondern es sind Subunternehmen, die vom Konzern mit der Impfstoffproduktion beauftragt wurden. Die Firmennamen sind geschwärzt, lesbar sind aber die Staaten, in denen sich die Zulieferer befinden. Eine Fabrik liegt in Belgien, eine in den Niederlanden, zwei in Großbritannien, eine in Italien.


Noch mehr Licht in die Causa bringt die EMA, Europas Arzneimittelbehörde mit Sitz in Amsterdam, eine Unterorganisation der EU. Auf profil-Anfrage will die EMA ebenfalls nicht beantworten, welche AstraZeneca-Werke aus welchen Gründen nicht liefern.

Allerdings muss die Regulierungsbehörde jede Produktionsstätte einzeln bewilligen und dies auch bekannt geben. Laut EMA haben vier Unternehmen die Erlaubnis, AstraZeneca-Impfstoff für die EU zu produzieren. Die Firmen befinden sich in der belgischen Stadt Seneffe("Henogen S. A."), im britischen Oxford ("Oxford Biomedica Limited"),im niederländischen Leiden("Halix B. V.") und in Harmans, einem Vorort von Baltimore in den USA ("Catalent Inc.").

Ganz stimmen sie nicht überein, die EMA-Angaben und jene in der Vorkaufsvereinbarung. Die EMA spricht von vier Standorten, in der Vereinbarung liest man von fünf. Die EMA nennt die USA, die in der Vereinbarung nicht vorkommen. Dennoch, zumindest grob ergibt alles eine schlüssige Gesamtdarstellung. Dass es in den Niederlanden, Belgien und Großbritannien Fabriken gibt, darin sind sich EMA und Vereinbarung einig. Und in Italien? Der US-Konzern Catalent, ein großes Pharmaunternehmen, verfügt in Italien über wichtige Europa-Niederlassungen. Was also in der Vorkaufsvereinbarung als italienischer Standort angegeben ist, dürfte in Wahrheit Angelegenheit von Catalent sein.

Welches dieser Werke liefert nun in die EU-Staaten, welche nicht? Ein Hinweis findet sich in einem Zeitungsinterview vom Jänner. Damals sprach Pascal Soriot, der Vorstandschef von AstraZeneca, mit mehreren europäischen Zeitungen. Soriot erklärte die Lieferausfälle teilweise damit, dass es in einem AstraZeneca-Werk in Belgien Probleme mit der Ausbeute an Impfstoff gebe. Die Fabrik im belgischen Seneffe muss also jene sein, die liefert, wenn auch die Produktion nicht reibungslos läuft. Im Umkehrschluss schicken die Werke in den Niederlanden, Großbritannien und den USA keinen Stoff an Europa. Zumindest falls die Aussage von Gallina stimmt.

Aber warum liefern sie nicht? An dieser Stelle wird die Recherche kompliziert. Weil weder EU-Kommission noch EMA noch AstraZeneca Fragen beantworten, ist man auf dürftige offizielle Verlautbarungen und Hintergrundgespräche mit Branchenkennern angewiesen. Die solcherart gewonnenen Informationen sind bruchstückhaft, manchmal widersprüchlich. Es zeigt sich: Selbst in einer Causa wie den Corona-Impfstoffen, die für viele Menschen über Leben oder Tod entscheiden, herrscht totale Intransparenz, sobald man nach tiefer gehenden Informationen abseits offizieller Bekanntgaben sucht. Die Öffentlichkeit erfährt fast nichts über konkrete Produktionsund Lieferabläufe, nicht einmal bei diesen Impfungen, die gerade weltweit die Debatten dominieren.

Am Beispiel USA: Der dortige AstraZeneca-Zulieferer Catalent müsste Impfstoffe an die EU-Staaten schicken-was aber, laut Sandra Gallina, nicht geschieht. Die britische BBC allerdings berichtete kürzlich das Gegenteil: Die AstraZeneca-Impfdosen für die EU würden teilweise "aus den USA" stammen, so die Fernsehanstalt. Außerdem kündigte Catalent selbst vergangenes Jahr per Aussendung an, dass im US-Werk in Harmans "ab dem späten dritten Quartal 2020" AstraZeneca-Impfstoffsubstanz hergestellt werde. Was stimmt nun? Kommen, entgegen Gallinas Behauptung, doch Impfungen über den Atlantik?

Oder nicht? Es lässt sich schlicht nicht herausfinden. Eine profil-Anfrage an Catalent bleibt genauso unbeantwortet wie alle anderen.

Etwas klarer ist der Fall in den Niederlanden. Die dortige Impfstofffabrik-die Firma Halix in Leiden-war bis vor wenigen Tagen noch gar nicht behördlich befugt, Impfstoff zu liefern. Das geht aus einer Mitteilung der EMA vom 26. März hervor. Darin heißt es, dass "in Leiden, Niederlande, eine neue Stätte für die Produktion der AstraZeneca-Impfstoffsubstanz zugelassen wird".Zuvor hatte sich das Zulassungsprozedere monatelang hingezogen, seit Ende vergangenen Jahres. War die EMA langsam? Oder lag die Verzögerung an AstraZeneca? Auch hier herrscht Schweigen. Einzig die US-Nachrichtenagentur Reuters vermeldete im März, dass die EMA der niederländischen Fabrik kein grünes Licht gebe, weil AstraZeneca nicht ausreichend Dokumente und Daten zum Standort übermittelt habe. Immerhin, heute verfügt Leiden über die Zulassung und wird wohl bald Impfstoffe schicken.

Bleibt eine letzte Produktionsstätte, die laut Gallina keinen Impfstoff an die EU liefert: jene in Großbritannien. Warum nicht? Dies erklärte AstraZeneca-Chef Soriot in seinem Interview im Jänner. Darin führt er aus, dass aus den Verträgen hervorgehe, dass der Konzern aus den britischen Werken zunächst einmal den Bedarf auf der Insel decken müsse, ehe an die EU geliefert wird.

Warum fühlt sich AstraZeneca gegenüber London stärker in der Pflicht als gegenüber Brüssel? Das ist schwer zu beantworten, weil die Öffentlichkeit die Verträge nur teilweise kennt. Die EU-Kommission

jedenfalls weist zurück, dass aufgrund der Verträge die Briten vorzureihen seien. Sie betont gerne, dass in umgekehrter Richtung durchaus Exporte der EU nach Britannien stattfinden würden-bis Mitte März gingen rund neun Millionen Dosen auf die Insel (aus welchen Fabriken, das wird nicht verraten).

Guy Verhofstadt, ein liberaler EU-Parlamentsabgeordneter aus Belgien, sieht trotzdem Hinweise darauf, dass die Briten eine Spur wasserdichter verhandelt haben als die Europäer. Verhofstadt vergleicht auf seiner Website die AstraZeneca-Verträge mit Großbritannien und der EU, so weit bekannt. Im britischen Vertrag entdeckt er Klauseln, die sich in der EU-Fassung nicht finden. Zum Beispiel hat sich Großbritannien eine Passage ausbedungen, wonach "Astra-Zeneca keine Vereinbarung mit einer ausländischen Regierung schließen darf,()die verhindert, dass AstraZeneca seiner Verpflichtung aus diesem Vertrag (also dem mit Großbritannien, Anm.)nachkommt".

Was also lässt sich nun mit einiger Sicherheit sagen über die Aussage der EU-Beamtin Gallina, dass nur eine von fünf Fabriken AstraZeneca-Impfstoff nach Europa schickt? Ein Fazit: Da wäre zunächst die Produktionsstätte in Belgien. Sie liefert Impfstoff, auch wenn die Ausbeute geringer ausfällt als erhofft.

Weiters gibt es die Fabrik in den Niederlanden. Sie liefert nicht, weil sie bis vor wenigen Tagen in ein langes und kompliziertes Zulassungsverfahren verstrickt war, dessen Hintergründe unklar sind.

Drittens der US-Konzern Catalent. Ob er Impfstoff an die EU-Staaten liefert oder nicht, lässt sich schlicht nicht feststellen.

Und zuletzt die Fabrik in Großbritannien. Hier vertritt AstraZeneca den Standpunkt, dass es aufgrund vertraglicher Verpflichtungen zuerst London bedienen muss.

Bei all dem sollte man sich vor Augen halten, dass Impfstoffproduktion keine triviale Tätigkeit ist. Die Technologie, wie sie beispielsweise AstraZeneca anwendet, darf man sich weniger wie das Zusammenschrauben eines Autos am Fließband vorstellen-vielmehr wie einen enorm komplizierten Gärprozess. In großen Metallkesseln, sogenannten Fermentern oder Bioreaktoren, blubbern lebendige Organismen in einer Nährlösung vor sich hin. Rund 1000 Parameter müssen exakt aufeinander abgestimmt werden, damit am Ende genug Ausbeute herauskommt. Die internationale Pharma-Industrie darf es sich durchaus zugutehalten, innerhalb weniger Monate-mit immens viel Steuergeld-enorme Kapazitäten für die Covid-19-Impfstoffproduktion hochgezogen zu haben. Insgesamt fast eine Milliarde Impfdosen wurde weltweit in kurzer Zeit produziert.

Allerdings reicht diese Menge längst noch nicht aus. Nicht einmal für die reiche EU ist genug Impfstoff da, geschweige denn für ärmere Staaten. Viele Fabriken sollten längst liefern. Zu wenige tun es.