Reisefrust: Die Unkultur des Überbuchens

Ein gültiges Ticket bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Reise auch angetreten werden kann. Immer wieder verweigern Airlines Passagieren den Flug. Über die Unkultur des Überbuchens - und Erfahrungen der profil-Leser.

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Samstag, 3. März 2018. Frühmorgens macht sich Lenny Hampel auf den Weg zum Flughafen Wien-Schwechat. Der junge österreichische Tennisprofi will zu einer Turnierserie nach Sardinien. Die Flüge sind lange gebucht - über Rom soll es nach Cagliari gehen. Doch dann die böse Überraschung: Am Check-in wird ihm mitgeteilt, dass der Eurowings-Flug überbucht sei. Er könne mit der Abendmaschine in die italienische Hauptstadt reisen. Ein Weiterflug auf die Insel sei dann aber nicht mehr möglich. Hampel will nicht so recht glauben, dass dies die einzige Möglichkeit ist. Er kontaktiert sein Reisebüro. Und siehe da, die Experten finden eine Reihe von Alternativflügen - betrieben von der Eurowings-Mutter Lufthansa. Die Dame am Checkin ist jedoch nicht bereit, ihn auf einen dieser Flüge umzubuchen. Hampel zieht unverrichteter Dinge wieder ab und fliegt letztlich einen Tag später über München nach Sardinien. Ein Tag verloren, der ihm bei der Akklimatisierung zugute gekommen wäre.

Es ist international gängige Praxis: Fluggesellschaften vergeben regelmäßig mehr Plätze, als vorhanden sind. Doch ist es überhaupt legitim, dass Airlines ein und dasselbe Produkt - nämlich einen bestimmten Sitzplatz - quasi zweimal verkaufen? Schließlich haben sie mit ihren Passagieren in spe einen Vertrag geschlossen, die Tickets wurden bezahlt, und der Kunde hat ein Recht auf Beförderung.

Doch warum überbuchen Fluglinien überhaupt? Und nach welchen Kriterien wird eigentlich entschieden, für wen es heißt: "boarding denied" - also wer am Boden bleiben muss?

profil hat seine Leser gebeten, persönliche Erfahrungen mit überbuchten Flügen via E-Mail und sozialen Medien zu schildern. Die Berichte werden hier auszugsweise wiedergegeben.

Oktober 2017, Städtereise nach Lissabon mit meiner 72-jährigen Mutter, bereits im Mai gebucht und keineswegs ein Billigflug. Ich hatte keine Möglichkeit, vorab einen Web-Check-in durchzuführen, wir waren drei Stunden vor Abflug am Schalter und mussten vernehmen, dass der Flug überbucht wäre. Wir könnten uns aber beim Gate einfinden und dort abwarten, ob jemand zurücktrete. Das Gate werde aber erst später bekanntgegeben. Wir haben uns also im fraglichen Terminal vor einer Hinweistafel postiert und auf die Bekanntgabe des Gates gewartet, um nach Möglichkeit die ersten Anwärter zu sein. Diese Idee hatten aber augenscheinlich mehrere Reisende, die unmittelbar nach Einblendung des Gates dasselbe stürmten. Wir waren hinter einer mehrköpfigen Damenrunde aus Portugal gereiht, die meinte, bei dieser Fluglinie wäre das gängige Praxis. Nach mehreren Durchsagen mit Lockangeboten (Entschädigung und Hotelaufenthalt in Wien) fanden sich doch 15 Rücktrittswillige (darunter welche, die aufgrund der Verspätung ohnehin ihre Anschlussflüge verpasst hätten), die auch wirklich ihre Flüge abtraten. Das Bodenpersonal war von ausgesuchter Unfreundlichkeit und tat so, als würde uns ein Gnadenakt erwiesen, dass wir doch noch mitdurften. Anonym

Airlines, die ihre Maschinen überbuchen, spekulieren darauf, dass eine ganze Reihe von Passagieren ihre Tickets verfallen lässt. Das ist ziemlich leicht verdientes Geld. Aber ist es auch korrekt? Gemeinhin würde man einem Unternehmen, das ein Produkt verkauft, welches gar nicht existiert, Betrug vorwerfen. Weshalb ist das bei Fluggesellschaften anders?

Grundsätzlich steckt hinter der Praxis des Überbuchens kein Betrug, sondern man hat den Kunden zugestanden, flexibel zu sein

"Grundsätzlich steckt hinter der Praxis des Überbuchens kein Betrug, sondern man hat den Kunden zugestanden, flexibel zu sein", sagt Ronald Schmid. Der deutsche Jurist ist einer der profiliertesten Experten im Bereich Luftverkehrsbund Reiserecht und zudem Sprecher des österreichischen Portals Fairplane, welches Fluggästen bei der Durchsetzung ihrer Rechte unter die Arme greift. Man müsse das historisch betrachten, so Schmid. Früher sei es viel unkomplizierter gewesen, Flugtickets umzubuchen. Wenn ein Geschäftsreisender etwa seinen Heimflug auf Freitagabend gebucht hatte, er dann aber doch bereits zu Mittag seine Termine erledigt hatte, konnte er beispielsweise - sofern Plätze vorhanden - einen Flug am frühen Nachmittag nehmen. Das war kostenlos oder gegen eine geringe Bearbeitungsgebühr möglich. Im Laufe der Zeit sammelten die Airlines Erfahrungen, auf welchen Routen und zu welchen Zeiten gebuchte Passagiere ihre Reise doch schon früher antraten. Um die Maschinen optimal auszulasten, wurden die leergewordenen Plätze verkauft. So wurde die Praxis des Überbuchens eingeführt. "Die Prognosen darüber, wie viele Passagiere ausfallen werden, gehen auch meistens auf", sagt Schmid. Nachsatz: "Aber leider nicht immer."

Meine Frau und ich planten im März 2017 einen Urlaub auf Sri Lanka. Start der Reise sollte der 27.12.2017 sein. Wir wussten, dass wir bis zum Weihnachtsfest komplett unter Stress stehen würden. Um die Erholung schon im Flieger beginnen zulassen, waren wir daher auch bereit, schon im Frühjahr 2017 den teuersten Business-Class-Tarif der Austrian Airlines zu wählen. Dem Reisebüro teilte ich ausdrücklich mit, dass ich den Urlaub nicht buchen würde, wenn ich Economy fliegen müsste. Als wir einchecken wollten, sagte man uns am Schalter der Austrian, dass wir ein "involuntary downgrade" akzeptieren und in der Economy-Class Platz nehmen müssten. Die Differenz zwischen dem ursprünglich gebuchten Ticket und dem Wert des Economy-Class-Tickets bekämen wir ersetzt. "Das System" habe das so beschlossen, man könne seitens Austrian auch gar nichts dagegen tun. Die Reise nicht anzutreten, war - in Anbetracht der gebuchten Hotelreservierungen auf Sri Lanka -dann keine Option mehr. Wir flogen Economy und waren äußerst unzufrieden. Ernst Brandl, Rechtsanwalt, Wien

Überbuchungen sind ein Instrument, um wettbewerbsfähige Preise anbieten und hohe Auslastungen erreichen zu können

"Überbuchungen sind ein Instrument, um wettbewerbsfähige Preise anbieten und hohe Auslastungen erreichen zu können", sagt Eurowings-Sprecherin Natalie Gerber. Würden Plätze nicht doppelt belegt, wären Flugtickets viel teurer, ist ein häufiges Argument der Airlines.

Jede Fluglinie hat eigene Prognosemodelle, nach denen Flüge überbucht werden. Schon Monate vor dem Abflug beginnt das System mit der Berechnung der voraussichtlichen Passagierzahl. Der Vorgang wird bis zum Take-off ständig aktualisiert. Die Systeme werden laufend mit Informationen gefüttert. Anhand historischer Daten zum Reiseverhalten und Prognosen zu externen Einflussfaktoren wie Messen, Ferienzeiten oder kulturellen und sportlichen Großereignissen wird kalkuliert, wie viele Kunden trotz Buchung ihren Flug nicht antreten werden. Diese sogenannten "No-Shows" betragen beispielsweise bei den Austrian Airlines (AUA) rund drei Prozent. Das entspricht etwa 370.000 Passagieren im vergangenen Jahr. "Wir verwenden ein aufwendiges Prognosesystem, das die Erfahrungswerte, die wir gesammelt haben, berücksichtigt. Das klappt sehr genau", sagt AUA-Sprecher Leonhard Steinmann . Die Überbuchungsrate sei mit 0,05 Prozent sehr niedrig. Experten gehen jedoch davon aus, dass Airlines im Schnitt bis zu 15 Prozent mehr Tickets verkaufen, als Sitzplätze vorhanden sind. Bei Billigfliegern sogar bis zu 30 Prozent.

Allen Berechnungen zum Trotz passiert es immer wieder, dass Fluggäste am Boden bleiben. Nach welchen Kriterien entschieden wird, wen es trifft, ist völlig intransparent. Es entscheidet "das System". Grundsätzlich werde darauf geachtet, dass Familien und Gruppen nicht auseinandergerissen würden, heißt es bei den Fluglinien. Außerdem würden Passagiere, die einen Anschlussflug erreichen müssen, bevorzugt behandelt. Doch auch dann sollte man sich nicht in Sicherheit wiegen, wie etwa profil-Herausgeber Christian Rainer kürzlich bemerken sollte. Auf dem Weg zu einer Konferenz nach San Francisco wurde ihm - obwohl zwei Stunden vor Abflug am Flughafen - das Boarding für den Zubringerflug nach Frankfurt verweigert.

Im Sommer 2017 sind meine Frau und ich mit einem befreundeten Ehepaar übers Wochenende nach Amsterdam geflogen. Am Sonntagabend hatten wir eine hektische Fahrt zum Flughafen Schiphol, der Zug war aufgrund eines Defekts ausgefallen. Wir bekamen glücklicherweise ein Taxi und kamen doch noch rechtzeitig zum Flughafen. Am Schalter hieß es: Die Maschine ist überbucht. Natürlich wollte kein Fluggast für die bescheidenen 250 Euro, die geboten wurden, aussteigen. Die Maschine, die wir durchs Glasfenster sehen konnten, hob ohne uns ab. Nach einiger Zeit bekamen wir Bankomatkarten ausgehändigt, auf denen die Entschädigungen sein sollten. Man hat uns ohne Begleitung losgeschickt, die eigenen Koffer zu suchen. Anschließend durften wir an der Bushaltestelle warten, bis uns nach einer weiteren Stunde ein Bus zu unserem "charmanten" Hotel im Industriegebiet des Flughafens gebracht hat. Im Hotel gab's kein À-la-carte-Essen, sondern ein sehr simples Reisgericht. Den Rücktransport zum Flughafen am nächsten Morgen mussten wir mühsam an der Rezeption ausdiskutieren. Frühstück gab's keines. In Wien hatten wir vier Stunden Aufenthalt, bis wir nach Innsbruck weiterfliegen konnten. Besonders erwähnenswert ist, dass keiner von uns vieren mit seiner Bankomatkarte die 250 Euro beheben konnte. Erst nach meiner Reklamation kam es zur Auszahlung. Anonym

Laut der Agentur für Passagier- und Fluggastrechte bezogen sich sechs Prozent aller Verfahren betreffend Flugverkehr im vergangenen Jahr auf Nichtbeförderung (wegen Überbuchung, Krankheit des Passagiers oder fehlender Reisedokumente). Gemäß Daten der EU muss im Schnitt einer von 10.000 Fluggästen damit rechnen, trotz gültigen Tickets nicht befördert zu werden. Früher war die Quote freilich noch viel höher. Diese Erfahrung musste auch die inzwischen verstorbene EU-Verkehrskommissarin Loyola de Palacio machen. Bei ihren regelmäßigen Flügen zwischen Madrid und Brüssel mit der spanischen Fluglinie Iberia hatte sie häufig mit Verspätungen und Überbuchungen zu kämpfen. Sie zog die Konsequenz und brachte die EU-Fluggastrechte-Verordnung auf den Weg.

Seither sind Fluglinien verpflichtet, bei Überbuchung nach Freiwilligen zu suchen, die für eine gewisse Gegenleistung bereit sind, von ihrer Buchung zurückzutreten und auf den nächsten Flug auszuweichen. Bei den entstehenden Wartezeiten haben sie Anspruch auf Betreuungsleistungen, also auf Verpflegung, kostenlose Telefonate und gegebenenfalls auch auf eine Übernachtung. Zusätzlich steht ihnen eine Ausgleichszahlung zu. Diese beträgt je nach Flugstrecke zwischen 250 und 600 Euro. "Diese Regelungen gelten aber nur bei Flügen, die in einem EU-Mitgliedsstaat, in Island oder Norwegen starten. Bei Flügen aus einem Drittstaat in diese Länder muss die durchführende Fluggesellschaft ihren Sitz in der EU beziehungsweise in Island oder Norwegen haben, damit Passagiere einen Anspruch auf Ausgleichszahlungen haben", erklärt Barbara Forster vom Europäischen Verbraucherzentrum Österreich.

Für Schmid, der damals als Justiziar der deutschen Fluggesellschaft Aero Lloyd bei den Anhörungen dabei war und die Verordnung mitgestaltet hat, sind die zu leistenden Ausgleichszahlungen zu gering: "Im Kommissionsvorschlag waren sie doppelt so hoch, doch die Airlines haben aufgeschrien." Auch im internationalen Vergleich fallen sie mager aus. In den USA etwa werden bis zu 1350 Dollar bezahlt. Und in Neuseeland haben Flugreisende auf Inlandsflügen Anspruch auf Ausgleichszahlungen in bis zu zehnfacher Höhe des Ticketpreises.

Die Fluggesellschaften nehmen dieses Geschäftsrisiko bewusst in Kauf. Dafür müssen sie jedoch haftbar sein

Nachdem im vergangenen Jahr bei einem Flug von United Airlines Passagiere gewaltsam aus einem überfüllten Flugzeug entfernt worden waren, wurden Rufe nach einem Verbot des Überbuchens laut. Gehört wurden sie freilich nicht. "Das ist eine Praxis, die man dulden muss", meint Schmid. "Die Fluggesellschaften nehmen dieses Geschäftsrisiko bewusst in Kauf. Dafür müssen sie jedoch haftbar sein und auch finanziell bluten."

Rechtsanwalt Brandl hat einen Vorschlag, wie das Problem zur Zufriedenheit der Passagiere gelöst werden könnte: Die Airlines sollten verpflichtet werden, eine Auktion durchzuführen. Den Fluggästen sollte ein Preis angeboten werden, um sie zu einem Verzicht auf ihren Sitzplatz zu überreden. Findet sich niemand, sollte das Angebot - etwa in 50-Euro-Schritten - erhöht werden. "Irgendwann wird ein Preis bestimmt, der dem Marktpreis der Aufgabe des reservierten Sitzplatzes entspricht und den Passagiere als fair erachten", so Brandl.

Das Risiko wäre somit von der Fluggesellschaft und nicht vom Passagier zu tragen. Ob sich Brandls Idee durchsetzen wird, ist daher mehr als fraglich.

Weitere Erfahrungsberichte unserer LeserInnen:

Daniela G. via Facebook: Vor 30 Jahren bei einem Urlaub in Tunesien kamen wir in der Nacht im Hotel an und es wurde uns gesagt, dass es kein freies Zimmer mehr gäbe. Wir wurden um 3 Uhr Früh in ein anderes Hotel gebracht. Später erfuhren wir mal von Animateuren, dass die Hotels oft ums Dreifache überbucht werden. Vor 20 Jahren waren wir wieder in Tunesien und mussten die erste Nacht mit fünf anderen Gästen das Zimmer teilen wegen Überbuchung. Andere wurden gleich verlegt. Und beim Abendessen gab es nie Platz für alle. Viele mussten sich ihre Teller nehmen und in der Rezeption essen, was dazu führte, dass sich die Leute schon um 17 Uhr fürs Essen um 18:30 Uhr anstellten. Am Strand und Pool waren auch keine Liegen zu bekommen, bis in der zweiten Woche zwischen jede Liege noch zwei Liegen gestellt wurden und alle da lagen wie die Sardinen. Aber da bekamen wir den gesamten Urlaubspreis zurück.

Oskar P. via Facebook: Das extra gebuchte Strandhotel in Koukla Zakinthos war derart überbucht, dass gleich der halbe Bus in billigen Pensionen untergebracht wurde. Das Strandhotel wurde zum Albtraum am Busparkplatz, im Hotel gab's nur Hohn und Lächeln dafür, vom Reiseveranstalter fünf Prozent pro Person. Vom Hotel Drohungen wegen der Bewertung und des Kommentars.

Christina   Hiptmayr

Christina Hiptmayr

ist Wirtschaftsredakteurin und Moderatorin von "Vorsicht, heiß!", dem profil-Klimapodcast (@profil_Klima).