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Was taugt die 35-Stunden-Woche?

In der Corona-Krise erhält eine alte Forderung neuen Zulauf: die Arbeitszeitverkürzung. Die Grünen zum Beispiel kampagnisieren im Wiener Wahlkampf für die 35-Stunden-Woche. Eine gute Idee?

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Krisenzeiten haben es an sich, dass in ihnen radikale Ideen sprießen. Oder besser gesagt Ideen, die bis dahin als radikal erachtet wurden. Im Gefolge der internationalen Finanzkrise 2008/2009 beispielsweise diskutierten renommierte Ökonomen, Politiker und Zentralbanker plötzlich über Fragen, die zuvor höchstens ein paar Sektierer umgetrieben hatten. Vom Sinn oder Unsinn einer Totalumstellung des Geldsystems war da die Rede oder von "Helicopter Money", also dem Geldverteilen an alle Bürger.

Nun ist wieder Krise. Die ökonomischen Folgen der Corona-Pandemie schlagen voll durch. Die Wirtschaftsleistung bricht noch stärker ein als 2009. Und erneut werden, angesichts wöchentlich neuer Insolvenzen und rasant steigender Arbeitslosenzahlen, Vorschläge salonfähig, die zu normalen Zeiten als radikal gelten.

Auftritt Arbeitszeitverkürzung. Die alte Idee, die alle paar Jahre hochkommt, um danach wieder in der Versenkung zu verschwinden, schafft es heute sogar prominent in den Wiener Wahlkampf. Die Grünen, Juniorpartner in der Stadtregierung, fordern eine 35-Stunden-Woche für sämtliche Angestellte der Gemeinde, vom Kanalarbeiter bis zur Krankenschwester im AKH. Doch nicht nur Grüne entdecken das Thema neu. SPÖ-Parteiobfrau Pamela Rendi-Wagner präsentiert ähnliche Vorschläge. Noch weiter geht eine Riege von SPÖ-Politikern, etwa Andreas Schieder und Max Lercher: Sie fordert eine neue Normalarbeitszeit von 30 Wochenstunden, also den Sechsstundentag. All dies wohlgemerkt bei vollem Lohnausgleich, also ohne Einkommensverluste trotz kürzerer Arbeit. Was ist davon zu halten?

 

Wer über eine Arbeitszeitverkürzung nachdenkt, muss zunächst verstehen: Die Maßnahme mag wie eine ferne Utopie klingen, ist es aber nicht. Vielmehr hat die Verkürzung längst stattgefunden. Allerdings nicht in Form einer gesetzlichen Stundenreduktion. Österreichs 40-Stunden-Woche gibt es bereits seit den 1970er-Jahren; kleinere Reduktionen fanden seither lediglich auf Ebene einzelner Branchen und Kollektivverträge statt. Nein, die Arbeitszeitverkürzung geschah ungesteuert und ungeplant. Und ebendies zieht allerlei Probleme auf Österreichs Arbeitsmarkt nach sich. Konkret eine immer größere Kluft zwischen gut abgesicherten Vollzeitangestellten und prekären Teilzeitkräften.

Zum besseren Verständnis ein Blick in die Statistiken: Die jährliche Gesamtsumme aller geleisteten Arbeitsstunden in Österreich (circa sieben Milliarden) stagniert laut Statistik Austria seit vielen Jahren. Im Jahr 2018 zum Beispiel lag sie geringfügig niedriger als 2008. Zugleich jedoch wächst die Anzahl der Beschäftigten: Im Jahr 2009 waren es knapp vier Millionen Menschen, heute sind es bereits 4,36 Millionen. Der Zuwachs hat unterschiedliche Gründe. Ausländische Arbeitskräfte kommen nach Österreich; vor allem aber gehen Frauen häufiger einer Lohnarbeit nach als früher.

Eine stagnierende Anzahl Stunden trifft also auf mehr Arbeitende. Das bedeutet, dass der durchschnittliche Österreicher (und vor allem die Österreicherin) längst nicht mehr volle 40 Stunden pro Woche arbeitet. Knapp ein Drittel aller heimischen Arbeitnehmer, überwiegend Frauen, sind Teilzeitkräfte. Mit vielen negativen Folgen: Sie haben weniger Aufstiegsmöglichkeiten im Job und geringere Absicherung im Alter. Sie verdienen weniger und finden sich oft in ökonomischer Abhängigkeit wieder, etwa vom Mann oder der Familie.

Bei Österreichs Vollzeitkräften hingegen ist die Lage umgekehrt. Laut einer Eurostat-Erhebung aus dem Jahr 2016 arbeiten sie, inklusive Überstunden, durchschnittlich 41,4 Wochenstunden. Das ist länger als in den meisten anderen EU-Staaten. Umfragen zeigen, dass Vollzeitkräfte, vor allem ältere Jahrgänge, gerne etwas kürzer arbeiten würden.

Eine Arbeitszeitverkürzung könnte beitragen, die wachsende Kluft zwischen Vollzeit und Teilzeit zu schließen. Die vormaligen Teilzeitkräfte würden mehr verdienen und hätten eine sozialstaatliche Absicherung für Alter und Arbeitslosigkeit. Angesichts dessen würden sich viele wohl entscheiden, ihre Arbeitsstunden etwas aufzustocken, um in den Genuss der neuen-kürzeren-Vollzeit zu kommen. Umgekehrt würden die Vollzeitkräfte von ihren Stunden etwas abzwacken. Bei einer Arbeitszeitverkürzung geht es also nicht nur darum, dass insgesamt weniger gearbeitet wird. Sondern auch darum, dass die Arbeit gleichmäßiger verteilt wird. Und vieles deutet darauf hin, dass die Folgen für alle Beteiligten positiv wären.

 

Die These von der besseren Verteilung der Arbeit lässt allerdings einen Aspekt außer Acht. Die Befürworter einer Arbeitszeitverkürzung äußern gern ein Argument, das mit der Verteilungsfrage gar nichts zu tun hat: Neue Jobs würden entstehen, wenn jeder Einzelne kürzer arbeitet. Wiens Grüne zum Beispiel haben berechnet, dass durch Einführung einer 35-Stunden-Woche für städtische Angestellte 7000 neue Arbeitsplätze im kommunalen Sektor entstehen würden. Stimmt's? Wäre eine Arbeitszeitverkürzung ein Weg aus der krisenbedingten Massenarbeitslosigkeit? Studien ergeben ein widersprüchliches Bild. Manche Ökonomen erwarten geradezu Jobwunder infolge von Arbeitszeitverkürzungen, andere warnen vielmehr vor Arbeitsplatzvernichtung, weil Unternehmen ins Ausland abwandern. Nicht nur in den Studien bleiben Fragen offen, sondern auch bei bisherigen internationalen Erfahrungen. In Frankreich etwa wurde zwar im Jahr 2000 eine (teilweise) 35-Stunden-Woche eingeführt, doch über deren Auswirkungen besteht bis heute keine Einigkeit. Ähnlich in Österreich: Inwiefern die letzte Verkürzung unter Bruno Kreisky die Beschäftigungslage verändert hat, lässt sich kaum sagen angesichts vieler anderer wirtschaftlicher Entwicklungen in Österreich, die parallel stattgefunden haben.

Vielleicht sollte man sich daher ein konkretes Beispiel ansehen. In den Jahren 2015 und 2016 fand in Göteborg in Schweden ein Experiment statt. Die Arbeitszeit der Pfleger in städtischen Altersheimen wurde stark reduziert, auf 30 Wochenstunden, bei vollem Lohnausgleich.

Die Erkenntnisse: Die Arbeitnehmer mochten die neue Regelung. Die Zufriedenheit in Job und Privatleben stieg, wie Umfragen zeigten. Zudem gingen die Krankenstände deutlich zurück. Auch wuchs die Produktivität-die Pfleger gingen also bei der Betreuung ihrer Klienten flotter und motivierter vor. Überdies mussten die Altersheime einige zusätzliche Mitarbeiter einstellen. Daraus lässt sich schließen, dass infolge einer deutlichen Arbeitszeitverkürzung durchaus neue Jobs entstehen könnten. Zumindest gilt das für Branchen mit hohem Personalbedarf.

Das Experiment von Göteborg ergab allerdings auch einen eindeutigen Nachteil: die Kosten. Die neuen Mitarbeiter schlugen sich mit umgerechnet einer Million Euro Mehrausgaben zu Buche. Dies war der Grund, warum die Stadt das Projekt nach zwei Jahren nicht verlängerte.
 

Das Fazit aus all dem: Vieles deutet darauf hin, dass eine Arbeitszeitverkürzung zu einer besseren Arbeitswelt und zufriedeneren Menschen führt. Außerdem könnten, zumindest in einigen Sektoren, tatsächlich neue Jobs entstehen. Dies wiederum hätte einen Schwall weiterer positiver Effekte: Wenn Leute ihre Jobs nicht verlieren, liegen nicht ihre Fähigkeiten und Ausbildungen brach, bis sie nicht mehr zu gebrauchen sind.

Allerdings sind all die Vorteile nicht gratis zu haben. Studien, wie teuer eine Arbeitszeitverkürzung etwa in Österreich genau wäre, gibt es zwar nicht. Doch es ist davon auszugehen, dass insbesondere Branchen mit hohem Personalbedarf, beispielsweise die Gastronomie, wohl mit deutlich höheren Kosten rechnen müssten. Genauso wie die öffentliche Hand. Es sind meist Kommunen oder Bundesländer, die Einrichtungen wie Schulen, Spitäler oder Pflegeheime betreiben-die allesamt zahlreiche Arbeitskräfte benötigen. Deshalb dürfte es infolge der Arbeitszeitverkürzung zu höheren Staatsausgaben und Staatsschulden kommen.

Aber soll man nun wegen dieser Kosten darauf verzichten, die Arbeitszeit zu verkürzen? Das ist schwierig zu beantworten. Immerhin geben die Staaten auch heute Milliarden aus, ganz ohne Arbeitszeitverkürzung, um die Wirtschaft zu stützen. Im Kampf gegen die Corona-Krise etwa hat Österreichs Regierung bisher rund 50 Milliarden Euro reserviert, um Unternehmen zu helfen und die Arbeitslosigkeit im Zaum zu halten. Entsprechend rasch wachsen derzeit Österreichs Staatsschulden. Zumindest in Krisenzeiten lässt sich also argumentieren: Wenn schon hohe Kosten anfallen, warum nicht gleich in Verbindung mit einer Arbeitszeitverkürzung, die potenziell Jobs rettet und zugleich zu einer besseren Arbeitswelt führt? Bei ihrer Einführung müsste man lediglich beachten, dass die ohnehin fließenden Unterstützungsgelder hauptsächlich an jene personalstarken Branchen gehen, welche die finanzielle Hauptlast der Arbeitszeitverkürzung tragen.

Doch die Umsetzung dieser radikalen Idee führt über einen weiten Weg. Vorerst lässt sich die Vision nicht einmal im rotgrün regierten Wien realisieren. Die mächtige Rathaus-SPÖ verweigert dem grünen Vorstoß einer 35-Stunden-Woche für städtische Angestellte ihre Zustimmung. Die Begründung des SPÖ-Finanzstadtrats Peter Hanke: "im Budget nicht darstellbar".