Ohne diesen Mann gäbe es die erste Covid-Impfung nicht
Christoph Huber kommt auf die Minute pünktlich, keinen Augenblick früher. Das ließe sein praller Terminkalender nicht zu. Jeder Tag ist vollends durchgetaktet: Telefonate, Videokonferenzen, Hintergrundgespräche. So sieht die Zeitplanung seit Jänner 2020 aus – seit die genetische Sequenz des Coronavirus SARS-CoV-2 veröffentlicht wurde. Vor einigen Monaten erzählte Huber, soeben 36 Stunden durchgearbeitet zu haben. Wie hält man das als bald 80-Jähriger aus? „Sehe ich erschöpft aus?“, fragt Huber. „Ich mache nur, was mir guttut. Es muss Sinn ergeben unter Berücksichtigung meiner Lebensphase. Und es hält fit, wenn man gefordert ist. Aber ich muss das Gefühl haben, dass es gewollt und nützlich ist.“
Es ist nicht ganz leicht, Hubers Rolle bei der Bekämpfung der Pandemie präzise zu beschreiben. Man ist geneigt, ihn das Mastermind hinter dem ersten Impfstoff und BioNTech zu nennen, jenem Mainzer Startup, das das Vakzin entwickelte. Doch da widerspricht Huber vehement: Die Zuschreibung sei maßlos übertrieben. Viel eher sieht er sich als Mentor und Forschungsmanager. Richtig ist zweifellos: Ohne Huber gäbe es BioNTech und den in Europa wichtigsten Covid-Impfstoff „Comirnaty“ nicht. Über Jahrzehnte hat er wissenschaftliche Strukturen befördert, die solch ein Unternehmen gedeihen ließen, hat Brücken zwischen Grundlagenforschung und praktischer Anwendung geschlagen.
Huber entstammt einer Tiroler Gelehrtenfamilie, die stets auch in Wien verankert war. Urgroßvater Alfons war Historiker, der Großvater schlug eine Richterlaufbahn ein, Vater Paul war ein bedeutender Chirurg in Innsbruck und Wien. In der NS-Zeit kostete ihn die Weigerung, Zwangssterilisationen vorzunehmen, die Karriere, doch die Familie blieb unbeschadet. Sicherheitshalber verfrachtete man die Kinder ins Stift Zwettl. Als Christoph Hubers eigene Berufswahl anstand, gab es in der Familie jede Menge Ärzte und ein halbes Dutzend Ordinarien, doch er hatte andere Pläne: Literaturgeschichte wollte er studieren. Oper, Konzert, Kaffeehaus, das hätte ihm gefallen. Dass es letztlich doch Medizin wurde, lag nicht an der Vorprägung durch die Verwandtschaft, sondern an Hubers Frau, die er schon im Innsbrucker Gymnasium kennengelernt hatte, damals eines von zwei Mädchen unter 1000 Buben. Sie sagte: Du musst etwas mit Menschen machen. „Sie hatte mich durchschaut“, sagt Huber, der mit der Archäologin seit sechs Jahzehnten verheiratet ist.
Folglich nahm er ein Medizinstudium an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck auf und spezialisierte sich auf das Fach Innere Medizin. Besonderes Interesse brachte er für Lymphozyten auf, die zu den weißen Blutkörperchen zählen und eine zentrale Rolle bei der Immunabwehr spielen. Damals, in den 1960er-Jahren, war deren Aufgabe noch weitgehend unbekannt. Daher war es für den Jungforscher eine epochale Entdeckung, als es gelang, die runden Blutzellen zur Teilung anzuregen: „Ich dachte, wenn man die Lymphozyten zum Teilen bringen kann, müssen sie eine Funktion haben.“
Zugleich interessierte er sich für die Krebsforschung, ausgelöst durch ein tragisches privates Erlebnis: Ein Freund verstarb binnen zweier Wochen an Leukämie. Es war der erste Mensch, den der Jungmediziner sterben sah. Bald gelang es ihm, eine Verbindung zwischen Immun- und Krebsforschung herzustellen: Huber erkannte, dass sich Lymphozyten bei Krebs massiv im Blut vermehren. Hier geschah offensichtlich etwas Bedeutsames: Das Immunsystem fuhr gegen den Krebs hoch. Noch als Student veröffentlichte er darüber seine erste Publikation im renommierten Fachjournal „Nature“. Es war ein früher Beitrag zur Krebsimmuntherapie – heute eine zentrale Hoffnung der Medizin, um Tumore mithilfe der Körperabwehr zu bekämpfen.
Im Lauf der 1970er-Jahre verbrachte Huber mehrere Forschungsaufenthalte im Ausland, darunter am berühmten Karolinska-Institut in Schweden. Er lernte dazu, verbesserte seine Fertigkeiten. Von „Handwerk“ spricht er selber gerne: „Ich sehe mich als soliden Handwerker mit Ambitionen.“ Ende des Jahrzehnts gelang es ihm, einen großen Grant, einen wissenschaftlichen Etat, des Forschungsförderungsfonds an Land zu ziehen. Ziel: Aufbau eines Zentrums für klinische Immunbiologie in Innsbruck, das grundlegende Erkenntnisse gewinnen und reif für praktischen Einsatz machen sollte. „Translationale Forschung“ heißt dies. Einen Teil des Geldes verwendete Huber, um dem Land Tirol leere Dachböden abzukaufen und dort Laborplätze einzurichten.
Eines Tages läutete das Telefon. Am Apparat war Heinz Fischer, damals Wissenschaftsminister. Fischer hatte von Hubers Arbeit Wind bekommen und fragte nun: „Brauchen S’ was?“ Ein paar Tage später trafen sich die beiden im Ministerium. Fischer saß in seinem Büro und rauchte Pfeife, im Nebenzimmer machte seine Tochter Hausaufgaben. Huber hatte tatsächlich ein paar Ideen, was er brauchen könnte. Im Rahmen ihrer Forschungen in Innsbruck konnten Huber und sein Team fortan genauer studieren, wie Lymphozyten Krebszellen attackieren und zerstören – auf ähnliche Weise wie Viren. „Wir konnten direkt dabei zusehen“, erinnert sich Huber. „Das war ein Schlüsselerlebnis.“
Ein weiterer Auslandsaufenthalt führte ihn in den 1980er-Jahren ans Fred Hutchison Center in Seattle, eines der wichtigsten Zentren der internationalen Krebsforschung. Sein Oberarzt war der spätere Nobelpreisträger Edward Donnall Thomas. Wieder einige Jahre später stellte sich die Frage, wo er seine Laufbahn fortsetzen wollte. Die USA kamen nicht infrage, aufgrund der „Grausamkeit des geldgetriebenen Systems“. Huber sah Patienten, die starben, weil sie kein Geld hatten. Und er sah solche, die zwar Vermögen besaßen, es aber nicht liquide hatten, und deshalb an die Schwelle des Todes gerieten. Daher musste es Europa sein. Aber wo? Schweden? Auf Dauer schlichtweg zu finster. Österreich, wo er studiert und erste wichtige Erkenntnisse gewonnen hatte? Kam auch nicht infrage: „In Österreich gab es zu der Zeit nichts, das entsprechendes Format gehabt hätte“, sagt Huber.
Damit ist keineswegs gemeint, in Österreich mangle es an Spitzenforschern oder hoch motivierten, innovativen Talenten, die mit viel Elan, Hirnschmalz und kluger Methodik zu bedeutenden wissenschaftlichen Leistungen imstande wären. Im Gegenteil: Es ist immer wieder beeindruckend, welches Ausmaß an Begabung das Land hervorgebracht hat und auch heute hervorbringt. Doch beim Vorhaben, zündende Ideen in praktische Anwendung zu überführen, war Österreich für viele Forschende die längste Zeit nicht erste Wahl. Viele herausragende Persönlichkeiten sahen in einer Karriere im Ausland bessere Chancen, ihre Pläne zu verfolgen. Dies lag wohl an einer tradierten Skepsis gegenüber der Verquickung von Grundlagenforschung und marktfähigen Produkten, von akademischer Expertise und deren kommerzieller Nutzung. Das hat sich inzwischen fraglos geändert, doch Huber stellte seine beruflichen Weichen vor drei Jahrzehnten.
Er entschied sich für Mainz. An der dortigen Johannes-Gutenberg-Universität bekam er die Gelegenheit, exakt jene Strukturen aufzubauen, die ihm vorschwebten: ein Zentrum mit dem Anspruch, die besten Köpfe an Bord zu holen und den Geist universitärer Forschung in Entwicklungen zu tragen, die bis zum Patienten führen. „Tumorabwehr und ihre therapeutische Beeinflussung“ hieß dieser Sonderforschungsbereich, der Mitte der 1990er-Jahre in Mainz etabliert wurde. „Der Name war eigentlich vermessen, denn beeinflussen konnten wir anfangs noch gar nichts“, erinnert sich Huber.
Genau das sollte geändert werden: Es galt, das Immunsystem gezielt gegen Krebs zu lenken. Das Wissenschafterteam nahm genetische Veränderungen an Lymphozyten vor und manipulierte Rezeptoren dieser Blutzellen, um sie in die Lage zu versetzen, Schlüsselstellen von Tumoren zu erkennen, sogenannte Antigene. Es war klassische Grundlagenforschung, die Huber für die unabdingbare Voraussetzung für brauchbare Therapien hält – um Forschung in Leben zu übersetzen, wie er es nennt.
Die Gruppe experimentierte, testete Hypothesen, publizierte Daten. Huber kam im Lauf seines Berufslebens auf mehr als 500 Fachartikel. Es war eine Phase der Entdeckungen und des Aufbruchs, geprägt von Huber als Motor, die damaligen Kollegen noch lebhaft in Erinnerung ist. „Er war für uns ein Manager und Motivator der Forschung“, sagt Thomas Wölfel, heute Professor und stellvertretender Direktor der III. Medizinischen Klinik in Mainz. Wölfel betont Hubers „Konsequenz, Persistenz, Unnachgiebigkeit und, wenn für die Sache erforderlich, Konfliktbereitschaft. Was er dabei geboten hat, war sicher auch auf internationalem Niveau Spitzenklasse.“
Eine Ambition bestand darin, das Team um Leute zu erweitern, die zusätzliche Aspekte in die Forschung einbrachten. Weil Huber auch als Gutachter für die Deutsche Forschungsgemeinschaft fungierte, hatte er einen guten Überblick über die junge Wissenschaftsszene. Rasch fiel sein Auge auf zwei Namen: Ugur Sahin und Özlem Türeci. Die beiden sind die heute international bekannten Gesichter hinter der ersten Covid-Impfung. Huber holte sie an Bord des Mainzer Sonderforschungsbereichs. Er gerät schnell ins Schwärmen, wenn er die Leistungen des Forscherpaars würdigt. Sahin sei „ein ganz großer Methodenentwickler, ein technisches Genie, völlig unglamourös und sachbezogen“. Ohne die Kompetenz der beiden, wissenschaftlich, strategisch wie auch ökonomisch, wäre seiner Meinung ein Durchbruch wie die Covid-Impfung undenkbar gewesen.
Vorerst konzentrierte man sich allerdings auf Krebs, und Sahin hatte eine feste Idee, welches Instrument er benutzen wollte. Das Kürzel dafür kennt nun ebenfalls die ganze Welt: mRNA, was für messenger Ribonucleic Acid steht, für Boten-Ribonukleinsäure. Das Prinzip besteht darin, die Bauanleitung für ein bestimmtes Protein in Körperzellen zu schleusen, die das gewünschte Eiweiß dann herstellen. Dabei kann es sich um Schlüsselstellen eines Virus handeln oder um Tumorantigene, die es in weiterer Folge ermöglichen, Krebs zu erkennen und gezielt anzugreifen. mRNA ist in gewisser Weise ein Universalwerkzeug, schließlich ist Eiweiß ein Grundbaustoff allen Lebens.
2001 gründeten Türeci, Sahin und Huber ihr erstes Startup: Ganymed spezialisierte sich auf die Identifizierung von Tumorantigenen, somit auf molekulare Krebserkennung, und entwickelte maßgeschneiderte Antikörper dagegen – Waffen des Immunsystems gegen Krebs. Später verkaufte das Trio Ganymed um einen dreistelligen Millionenbetrag. Da hatte es bereits wichtige Erfahrungen gesammelt: wie man ein Unternehmen führt und Investoren gewinnt.
Schon vor dem Verkauf entstand jene Firma, deren Name längst auch abseits der Fachwelt ein Begriff ist: BioNTech, inzwischen an der Technologiebörse NASDAQ gelistet. 2008 gegründet, lag der Hauptfokus ebenfalls auf der Entwicklung von Immuntherapeutika gegen Krebs. Zusätzlich waren Infektionskrankheiten wie Influenza Thema – bis zu jenem Tag im Jänner 2020, als die Gensequenz von SARS-CoV-2 publiziert wurde. Am selben Tag fiel die Entscheidung, einen Impfstoff gegen das Coronavirus zu entwickeln. „Die Zeit war reif für die Technologie“, sagt Huber.
Wenn noch immer manche Leute klagen, bei dem mRNA-Impfstoff handle es sich um eine neues, unerprobtes Präparat, ignorieren sie die Vorgeschichte: mehrere Dekaden der Forschung und des Aufbaus wissenschaftlicher Strukturen, die solch ein Produkt erst ermöglichten. „Comirnaty“ ist nicht der Beginn von Arzneien auf mRNA-Basis, sondern deren vorläufiger Endpunkt. „Man lernt daraus, dass so etwas Jahrzehnte braucht und es nicht aus eigener Kraft geht“, meint Huber.
Womit er meint: Wissenschaftliche Expertise ist wichtig, aber längst nicht genug. Es braucht Persönlichkeiten, die ausreichend Kompetenz und Charisma besitzen, um Innovation bis zur Produktionsstraße zu geleiten. Und es braucht ein gedeihliches Umfeld dafür. Staaten können die Entwicklung moderner Pharmazeutika nicht stemmen, sie verschlingt zu viel Geld. Auch „Big Pharma“, die traditionellen großen Pharmakonzerne, sind längst nicht mehr die Brustätten für zukunftsweisende Medizin. Sie steigen ein, wenn neue Präparate ihren Nutzen bewiesen haben und übernehmen dann die Produktion im großen Maßstab sowie den globalen Vertrieb. Die Wiege der wirklich bedeutenden Durchbrüche sind aber universitäre Spinoffs, schlanke, flinke, forschungsgetriebene Startups, denen es gelingt, ihre Finanzierung bei risikobereiten Venture-Capital-Gesellschaften abzuholen.
Dies ist die amerikanische Innovationskultur, sie möge einem gefallen oder nicht, so Huber, sei aber schlicht Realität. Europa dagegen sei vielfach risikoscheu, weshalb zwar oft Verbesserungen existierender Präparate gelingen, aber selten echte Umwälzungen. „Das hat nichts mit Intelligenz zu tun, aber mit Forschungskultur.“ Länder wie Österreich seien gut beraten, diesen Geist allmählich zu verinnerlichen.
Ein anderer österreichischer Spitzenforscher, der ebenfalls im Ausland Karriere gemacht hat, pflichtet bei: Peter Palese, wie Huber Jahrgang 1944, erforscht an der Mount Sinai School of Medicine in New York unter anderem Influenzaviren. Huber habe „die Welten von universitärer Forschung und kommerzieller Anwendung erfolgreich überbrückt“, urteilt Palese. Das Resultat dieser Initiative habe „Millionen von Menschenleben gerettet“.
Palese rät zudem Studierenden und jungen Wissenschafterinnen und Wissenschaftern, sich mit dem Lebenweg eines Forschungsmanagers wie Huber zu befassen: Exzellent ausgebildet in Österreich, habe er „Lehr- Wanderjahre“ im Ausland verbrachte und stelle ein Modell für junge Menschen in Österreich dar, das zeige, „dass harte Arbeit und visionäres Denken den entscheidenden Unterschied machen können“.