Wissenschaft

Der Mensch und das Virus: Geschichte einer Beziehung

Viren haben Imperien gestürzt, Massensterben ausgelöst, Kontinente verändert und die Medizin revolutioniert. Sie beeinflussen die Geschicke des Menschen seit Jahrtausenden – und wohnen sogar in unserem Erbgut.

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Zuerst glühte der Kopf, dann röteten sich die Augen, die Kehle und Zunge. Die Menschen husteten, litten an Krämpfen, Übelkeit und Gedächtnislücken. Schließlich war der Körper übersät mit roten Flecken. Sieben bis neun Tage später starben viele der Erkrankten, gingen zugrunde „an der inneren Hitze“. Die Toten lagen auf den Straßen, oft übereinander. Diese Schilderung stammt von dem griechischen Geschichtsschreiber Thukydides, der einen detailreichen Bericht von einer Epidemie lieferte, die Athen zwischen 430 und 426 vor unserer Zeitrechnung heimsuchte. Dieser „attischen Seuche“ erlagen vermutlich rund 100.000 Personen, ein Viertel bis ein Drittel der damaligen Bevölkerung Athens.

Thukydides’ Chronik ist die erste präzise Überlieferung des Wütens einer Infektionskrankheit und zugleich eine frühe Darstellung, wie ein Virus eine prosperierende Gesellschaft in die Knie zwingen kann. Im Fall Athens war wahrscheinlich ein Masernausbruch dafür verantwortlich. Zu jener Zeit wurde Athen von den Spartanern belagert, die Bevölkerung der Metropole und des Umlands verschanzte sich hinter den Stadtmauern. Viele harrten dicht an dicht gedrängt in schäbigen Behausungen aus, was dem Krankheitserreger einen optimalen Nährboden bot. Das folgende Massensterben besiegelte den Zusammenbruch Athens und trug zum Niedergang des antiken Griechenland bei.

Es besteht kein Zweifel: Infektionskrankheiten prägten die Geschicke der Menschen zu allen Zeiten. Sie stürzten Weltreiche, beendeten Epochen, entvölkerten ganze Kontinente und ermöglichten deren Neubesiedlung. Viren und Bakterien töteten bis ins 19. Jahrhundert weit mehr Menschen als Kriege. Mikroorganismen können gefährlicher sein „als die heftigsten Vulkanausbrüche, Wirbelstürme oder Erdbeben“, meint der amerikanische Virologe und Autor Nathan Wolfe, Infektionskrankheiten würden „eine gewaltige Naturkraft“ darstellen.

Mikroorganismen können gefährlicher sein als die heftigsten Vulkanausbrüche, Wirbelstürme oder Erdbeben.

Nathan Wolfe, Virologe

Epidemien und Pandemien seien ein „unterschätzter Teil der Menschheitsgeschichte“, konstatiert der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht, der kürzlich ein äußerst lesenswertes Buch zum Thema verfasst hat: „Plagen haben in der Vergangenheit Geopolitik gemacht.“ Allerdings würden wir allzu oft „ihre gestalterische Kraft“ ignorieren.

Wenn die Welt stillsteht

Dabei haben wir gerade erst erlebt, was eine Pandemie anrichten kann; wie pulsierende Metropolen plötzlich zu Geisterstädten werden und das Leben buchstäblich stillsteht; wie Ökonomie, Medizinsysteme und soziale Gefüge an den Rand des Kollaps geraten; wie Menschen in erbitterten Konflikt geraten, weil scheinbare Gewissheiten in Trümmern liegen. Die Jahre der Coronavirus-Pandemie mögen uns als einzigartige Zumutung erscheinen, historisch betrachtet waren Seuchen aber eher der Normalfall als die Ausnahme. In der Vergangenheit, als die Wissenschaft nicht die geringste Ahnung von deren Ursachen hatte und meist eine Strafe grantiger Götter vermutet wurde, waren die Auswirkungen natürlich viel schlimmer als heute – zum Beispiel, als die Pocken den Anfang vom Ende des Römischen Reiches einläuteten.

SARS-CoV-2

Am Coronavirus, das vermutlich auf einem chinesischen Wildtiermarkt auf Menschen übersprang, zeigt sich der typische Verlauf einer Pandemie: Ein neuartiger Erreger löst mehrere Infektionswellen aus und verursacht anfangs bei bestimmten Personengruppen gravierende Erkrankungen. Mit der Zeit jedoch lernt das Immunsystem durch Impfungen oder Infektionen, damit umzugehen, zugleich wird das Virus milder – bis  es zu einem endemischen Begleiter wird. Das Bild zeigt ein Virusmodell aus dem 3D-Drucker, das im Rahmen einer Ausstellung über Viren und andere Mikroorganismen im Technischen Museum Wien zu sehen ist.

Die „Antoninische Plage“ im zweiten nachchristlichen Jahrhundert war die erste Pandemie: Sie tobte in Europa, Asien und Afrika zugleich, getrieben durch das weitverzweigte Handelsnetz des römischen Imperiums. Es handelte sich um einen frühen Fall von Globalisierung, die auch zur internationalen Verbreitung von Infektionskrankheiten beitrug, diesfalls des in Afrika entstandenen Pockenvirus. Am Höhepunkt der Plage starben allein im Rom 2000 Menschen täglich, darunter wohl auch Kaiser Marc Anton.

Als der Spuk überstanden war, kam die nächste Seuche: die Cyprianische Pest, deren Auslöser nicht das Pestbakterium war, sondern vermutlich ebenfalls Pockenviren. Die Konsequenzen reichten über das unmittelbare Krankheitsgeschehen weit hinaus: Dem Reich fehlten Soldaten zur Verteidigung, es fehlten Bauern, um das Land zu bestellen, und generell Menschen, die Steuern hätten zahlen können – eine ganze Kaskade an Folgen schwächte das einst glorreiche Imperium.

Pockenvirus

Das Pockenvirus, seit 1979 ausgerottet, zählte zu den größten Plagen der Menschheit: Allein im 20. Jahrhundert starben an dem Virus, das durch Tröpfchen übertragen wird, rund 300 Millionen Menschen. Besonders grausam wütete es, von Europäern eingeschleppt, unter der indigenen Bevölkerung Amerikas. Die allererste Impfung 1796, entwickelt vom Briten Edward Jenner, richtete sich ebenfalls gegen die Pocken. Auch dieses Bild zeigt ein Virusmodell aus dem 3D-Drucker – wie auch alle anderen Fotos in dieser Geschichte.

Es ist ebenso gespenstisch wie faszinierend, sich vorzustellen, wodurch derartige Weltreiche ins Wanken gerieten: durch winzige Partikel, die 20 bis wenige 100 Nanometer (millionstel Millimeter) messen, damit kleiner als die Wellenlänge des sichtbaren Lichts sind und deshalb nur unter einem Elektronenmikroskop studiert werden können. Viren sind für unser Auge nicht wahrnehmbar und dennoch allgegenwärtig. Einige tausend sind im Moment bekannt, runde, stäbchenförmige und vieleckige, manche von ihnen mit einer Hülle aus Fett umgeben. Sie besiedeln Tiere, Pflanzen und jeden Quadratzentimeter unserer Haut, sie sind zu Millionen in jedem Tropfen Meerwasser sowie in der Atmosphäre enthalten und würden, könnte man alle irdischen Exemplare in einer Reihe antreten lassen, eine Kette von 200 Millionen Lichtjahren bilden. Könnten wir diesen Mikrobenzoo sehen, wäre sofort klar: Viren sind die wahren Herrscher dieses Planeten.

Zugleich sind Viren die denkbar minimalistischs-ten biologischen Einheiten. Sie können sich nicht bewegen, nicht atmen, sich ernähren oder fortpflanzen und benötigen stets einen Wirt, dessen Ressourcen sie anzapfen, um sich verbreiten und reproduzieren zu können; sie rufen Symptome wie Husten und Niesen hervor, um an Bord eines mit Wucht ausgestoßenen Tröpfchenstroms zu ihren nächsten Opfern zu reisen.

Viren leben nicht, sie sind eine Portion Erbgut, ein Haufen Moleküle, ein biologisches Programm, das seit Jahrmillionen mit unglaublichem Erfolg abläuft. Schon die Dinosaurier wurden von Viren geplagt, und sogar unserer eigenes Erbgut besteht zu knapp zehn Prozent aus Virengenom, das sich irgendwann eingenistet hat und möglicherweise dazu beigetragen hat, unser Immunsystem zu formen. Zum Teil ist der Mensch selbst Virus.

Uralte Begleiter

Rund 90 Prozent aller Viren sind für uns harmlos, einige jedoch, etwa Ebola oder HIV, können den Menschen grausam treffen. In jedem Fall sind Viren bemerkenswerte Kreationen der Evolution. Daher lohnt es ohne Zweifel, die viele Jahrtausende alte Beziehungsgeschichte von Mensch und Virus zu beleuchten, denn Viren begleiten den Homo sapiens seit jeher. Als unsere Vorfahren aus dem Urwald in die Savanne vorstießen, ließen sie zunächst eine Wolke von Mikroben hinter sich. Erstens ist deren Vielfalt im Dschungel höher als im Grasland, zweitens durchliefen die frühen Hominiden mehrfach evolutionäre Flaschenhälse, wie Wolfe erläutert: Sie schrammten knapp am Aussterben vorbei. Gibt es aber nur wenige Individuen einer Spezies, findet ein Virus ebenfalls kaum Möglichkeiten der effizienten Verbreitung. Als der Mensch dann noch das Feuer zähmte, machte er es Krankheitserregern zusätzlich schwer, weil Kochen die meisten von ihnen zerstört.

HI-Virus

Das HI-Virus gelangte vor etwa 100 Jahren über tierische Zwischenwirte zum Menschen, es wird durch Körperflüssigkeiten übertragen und verursachte eine Pandemie (sowie eine Menge sozialer Stigmatisierung), die bisher rund 35 Millionen Todesopfer forderte. Eine Besonderheit des Virus ist, dass sich dessen Erbgut in humane Zellen einbaut, im Körper überdauert und über lange Zeit das Immunsystem zerstört. HIV ist inzwischen zum Glück medikamentös
behandelbar – ein enormer medizinischer Fortschritt.

Das heißt nicht, dass frühe Jäger- und Sammlergesellschaften von Viren verschont blieben. Moderne Molekularbiologie erlaubt es heute, genetische Spuren von Viren in uralten Knochen und Zähnen nachzuweisen. Daher wissen wir, dass sich Menschen bereits vor 20.000 Jahren mit Hepatitis-Viren herumschlagen mussten – den ältesten bekannten viralen Begleitern des Homo sapiens.

Bessere Bedingungen fanden Viren jedoch vor, als der Mensch sesshaft wurde: Er blieb nun mit anderen Menschen gemeinsam an einem Ort, hielt und domestizierte Tiere, produzierte Abfälle. Wie Evolutionsbiologe Glaubrecht ausführt, langte das aber nicht für ausgewachsene Epidemien. Dazu bedürfe es einer kritischen Zahl von mehr als 300.000 Personen, am besten dicht gedrängt in prekären hygienischen Verhältnissen. Erst dann findet ein Virus genügend Wirte, die seinen Fortbestand auch dann sichern, wenn viele von ihnen sterben. Und diese Situation trat mit immer größeren menschlichen Siedlungen ein, mit Entwicklung der „Polis“, mit Machtzentren wie Athen und Rom, in Ägypten und Mesopotamien. In all diesen Imperien wurden Infektionserkrankungen dokumentiert, ob bakterielle wie die Pest oder virale wie Masern und Pocken. Letztere existieren seit 3000 bis 4000 Jahren, die Masern seit mindestens 2500 Jahren.

Der Moment des Übersprungs

Woher aber kamen damals die Viren? Von Tieren – genau wie heute. Wenn die Leute in einer antiken Stadt in unmittelbarer Nähe zu ihren Nutztieren hausten, begünstigten sie denselben Vorgang wie jene Händler von Lebendtieren am Huanan Seafood Market in Wuhan, wo die jüngste Pandemie wahrscheinlich ihren Ausgang nahm: einen „Spillover“, den Übersprung eines Virus vom Tier auf den Menschen. Zoonosen heißen solche Infektionskrankheiten, von denen heute rund 200 bekannt sind. Das Muster ist stets ähnlich: Ein Virus überdauert in einem Reservoirwirt, oft Nage- oder Fledertiere, ohne diesem zu schaden. Eines Tages kommt es zur Infektion eines Zwischenwirts, meist Nutztiere des Menschen. Von diesem gelangt das Virus schließlich zum Menschen.

Die Masern kamen von Rindern, die spanische Grippe von Wasservögeln, das aktuell in Indien zirkulierende Nipah-Virus von Schweinen. Von den Pocken nimmt man an, dass sie ursprünglich Nager besiedelten und über den Umweg von Kamelen den Menschen befielen. SARS, das vor zwei Jahrzehnten um die Welt ging, fand seinen Weg von Fledertieren über verspeiste Schleichkatzen zu uns, sein Nachfolger SARS-CoV-2 ebenfalls von Fledermäusen wahrscheinlich über Schuppentiere. Den verwandten Erreger MERS übertrugen Fledermäuse auf Dromedare, diese wiederum auf humane Opfer.

Influenza

Die Grippe begleitet die Menschheit mindestens seit Jahrhunderten. Die letzte Pandemie war die relativ milde Schweine- oder Mexikanische Grippe vor knapp 15 Jahren, die gravierendste die Spanische Grippe ab 1918, die mindestens 50 Millionen Tote forderte. Influenza-Viren sind besonders mutationsfreudig, weshalb immer wieder neuartige Erreger entstehen. Fachleute halten weitere Pandemien für durchaus wahrscheinlich.

Ebola ist ebenso eine Zoonose: Das Virus wohnt in friedlicher Koexistenz mit Fledertieren – und ging zum Beispiel dann auf Menschen über, wenn sie Bushmeat verzehren: Fleisch von im Dschungel getöteten Tieren wie etwa Affen, die zuvor von Fledermäusen infiziert worden waren. Unter Affen zirkulierte einst auch das Simian Immunodeficiency Virus (SIV), bevor es um die Wende zum 20. Jahrhundert auf den Menschen übersprang – und die grausame HIV-Pandemie auslöste.

Krankheiten wie Ebola und HIV spiegeln stets auch kritische Aktivitäten des Menschen und dessen Umgang mit der Natur: HIV konnte um die Welt gehen, weil Wälder gerodet, Straßen, Schienen sowie Ballungsräume errichtet wurden, die das Sprungbrett für das Virus darstellten. Und mit Erregern wie beispielsweise Ebola gerät der Mensch in Kontakt, wenn er in den Urwald vordringt – und dort die Nachfahren von Mikroben wiedertrifft, die seine Urahnen einst erfolgreich abgeschüttelt hatten. Medizinhistoriker weisen darauf hin, dass Epidemien stets auch ein Indikator für das Verhältnis des Menschen zur Umwelt sind.

Viren reisen per Flugzeug

Der technische Fortschritt bewirkt auch, dass Infektionsketten heute in atemberaubendem Tempo entstehen. Als die Spanische Grippe im Jahr 1918 in beengten amerikanischen Militärlagern ausbrach, vergingen Monate, bis das Virus schließlich nach Europa und dann wieder zurück in die USA schwappte. Im Fall von SARS genügte ein einziger Infizierter in einem Hotel in Hongkong, um weitere Hotelgäste anzustecken, die das Virus dann per Flugzeug um den Globus trugen.

Früher tickte die Welt langsamer, die Folgen von Epidemien waren aber ungleich furchtbarer – weil die Medizin weitgehend hilflos war und die Krankheiten daher, gemessen an einer viel kleineren Weltbevölkerung, einen prozentual deutlich höheren Blutzoll forderten. Das wohl eindrücklichste Beispiel ist die Kolonisierung Amerikas, bei der die Spanier tödlich effiziente Gehilfen hatten: Pocken, Masern, Mumps und Influenza – Infektionskrankheiten, an die Europäer bis zu einem gewissen Grad gewöhnt waren, die die indigenen Einwohner Amerikas jedoch völlig unvorbereitet trafen: Ihr Immunsystem war „naiv“ gegenüber diesen Erregern. Die Eroberung der Neuen Welt gründet nicht auf Heldentaten, sondern darauf, dass die Konquistadoren und in ihrem Gefolge christliche Missionare Viren einschleppten und ein Massensterben auslösten.

Hepatitis C

Das Virus wurde erst 1989 entdeckt, zirkuliert aber schon sehr lange unter den Menschen. Es wird vor allem durch Nadeln übertragen – ob bei Injektionen, Impfungen, Tätowierungen oder beim Drogen- konsum. Weltweit sind mehr als 100 Millionen Menschen damit infiziert. Chronische Infektionen können die Leber schädigen und Leberzirrhose oder -krebs hervorrufen.

Es begann im frühen 16. Jahrhundert auf karibischen Inseln und setzte sich in Mittel- und Südamerika fort, wo das glänzende Azteken- und das Inkareich fielen. Später erfassten die „Pox americana“ und weitere Viren Nordamerika, schlugen eine Schneise des Todes, in der sich die europäischen Siedler breitmachten. Glaubrecht berichtet von einem „Populationseinbruch apokalyptischen Ausmaßes“. Es starben in manchen Regionen an die 90 Prozent der indigenen Bevölkerung, in Summe fielen wohl 50 Millionen Menschen den Europäern und deren importierten Viren zum Opfer. Noch nach Ende des Amerikanischen Bürgerkrieges war das Infektionsgeschehen auch ein Indikator für das Unrecht gegenüber benachteiligten Bevölkerungsgruppen: Es gehört zu den gerade in Aufarbeitung befindlichen Kapiteln der amerikanischen Geschichte, dass die Politik befreite Sklaven einfach ihrem Schicksal überließ und ignorierte, dass sie unter erbärmlichen sozialen Bedingungen existieren mussten – was den Ausbruch von Pockenepidemien unter der schwarzen Bevölkerung und rassistische Vorurteile förderte. Solche brachen sich auch Bahn, als in New York im 19. Jahrhundert eine Polio-Epidemie grassierte. Umgehend wurden italienische Einwanderer beschuldigt, die Seuche ausgelöst zu haben.

Die Geburtsstunde der Impfungen

Infektionskrankheiten lenkten jedoch nicht nur die Weltgeschichte, indem sie ganze Kulturen vernichteten und zur Neuordnung der Machtverhältnisse führten. An ihnen lässt sich auch der jeweilige Stand der Wissenschaft ablesen, und sie trieben den Fortschritt der Medizin an. Dachten die Inka noch, die offensichtlich mächtigeren Götter der brutal einfallenden Europäer brächten ihnen den Tod, ersann ein Pionier der Heilkunde im späten 18. Jahrhundert immerhin eine Abhilfe gegen die Pocken: Der britische Arzt Edward Jenner entwickelte die erste Impfung. Ihm war aufgefallen, dass Milchmädchen, die sich zuvor mit den harmloseren Kuhpocken infiziert hatten, kaum an echten Pocken erkrankten. Daraus leitete Jenner die Idee ab, dass man Menschen gegen das tödliche Virus schützen könnte, indem man ihnen abgeschwächte Mengen des Erregers zuführt.

Es war die Geburtsstunde der Impfungen und der Beginn einer Entwicklung, die letztlich zur Ausrottung der Pocken führte, die Hunderte Millionen Menschen getötet hatten – einer der größten medizinischen Erfolge aller Zeiten, der sich allerdings nicht wiederholen ließ: Die Pocken sind die einzige humane Infektionskrankheit, die vom Planeten getilgt werden konnte.

FSME

Das Virus wird hauptsächlich durch den Biss infizierter Zecken übertragen. In Österreich sind ungefähr drei Prozent der Zecken mit dem Virus der Frühsommer-Meningoenzephalitis infiziert. Der Erreger wandert mit Vorliebe ins Nervengewebe ein und kann Lähmungen, Gehirnentzündungen und den Tod verursachen. Die FSME-Impfung wurde in Österreich besonders intensiv beworben.

Freilich: Jenner hatte keine Ahnung, wogegen sich sein Impfstoff eigentlich richtete. Viren waren unbekannt, und das blieb noch lange so. Sichtbar wurden die über die meiste Zeit der Menschheitsgeschichte mysteriösen Erreger erst in den 1950er-Jahren mit der Erfindung des Elektronenmikroskops. So blieb auch während der Spanischen Grippe, der mindestens 50 Millionen Menschen zum Opfer fielen, der Auslöser rätselhaft. Die meisten Gelehrten folgten der Schule von Robert Koch, die einen bakteriellen Auslöser postulierte. Erst in den 1990er-Jahren konnte das ursächliche Influenzavirus aus Gräbern isoliert werden, seit rund 20 Jahren ist dessen kompletter genetischer Code bekannt.

Was für ein Unterschied zur Gegenwart: Als die Covid-Pandemie einsetzte, dauerte es kaum mehr als eine Woche, bis die gesamte Gensequenz entschlüsselt war und der globalen Forschergemeinde im Internet frei zur Verfügung gestellt wurde.

Fake News und Impfskepsis

Einigermaßen konstant blieben dagegen über die Jahrhunderte die Auflehnung der Menschen gegen Maßnahmen der Pandemiebekämpfung sowie die Impfskepsis. Wer denkt, derlei hätte die Welt in der Covid-Zeit zum ersten Mal erlebt, irrt gewaltig: Auch während der Spanischen Grippe wetterten die Leute gegen Ausgangsbeschränkungen und Schutzmasken, und bereits nachdem Edward Jenner die erste Impfung entwickelt hatte, begannen Fake News zu kursieren: Die Impflinge begännen wie die Kühe zu brüllen, wurde behauptet. Schließlich basierte die Frühform der Impfung auf den Kuhpocken.

Der Bockigkeit der Untertanen überdrüssig, erließ Bayern 1807 als erstes Land der Welt eine Impfpflicht und drohte Verweigerern empfindliche Strafen an. Die Regenten waren die Seuche leid, der in Europa jährlich eine halbe Million Menschen zum Opfer fiel und bei den Überlebenden meist hässliche Narben hinterließ. Zahlreiche Künstler und Gelehrte wie Goethe waren ebenso betroffen wie Fürsten und Adelige, und die von ihnen erhaltenen prächtigen Ölporträts waren mit den Methoden der damaligen Zeit gleichsam „gephotoshoppt“: Pockennarben sind darauf nicht zu sehen.

Wie auch in Österreich während der Coronavirus-Pandemie protestierten die Menschen gegen die Impfpflicht, darunter auch viele Ärzte, und klagten, man pfusche Gott ins Handwerk. Erst als sich zeigte, dass Geimpfte nicht starben oder erkrankten – und nicht für den Rest des Lebens verunstaltet waren –, stieg die Akzeptanz, womit Bayern Vorreiter bei der Ausrottung der Pocken war.

Nur im benachbarten Tirol, wo katholische Bauern den Aufstand gegen Bayern probten, war man anderer Meinung. Geistliche schimpften gegen den Impfzwang und sahen einen sündigen Versuch, Gottes Pläne zu torpedieren.

Ob man in Tirol auch damals der Ansicht war, alles richtig gemacht zu haben, ist nicht überliefert.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft