Feindbild Pandemievertrag: Was die WHO wirklich plant
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Bösartige Mächte stehen kurz davor, den Staat zu kapern. Das müsste für alle, die nicht als naive Schlafschafe durchs Leben taumeln, klar ersichtlich sein, jedenfalls dann, wenn die dunklen Ahnungen rechtsgerichteter Parteien zutreffen. Von der geplanten „Machtergreifung“ der WHO ist in einer deutschen Petition die Rede. Die Weltgesundheitsorganisation und ihre willfährigen Spießgesellen wollten „unsere geschätzten bürgerlichen Freiheiten“ beschneiden und die „Meinungsfreiheit“ aushöhlen. Martin Rutter wiederum, Gesicht der österreichischen Corona-Demos, rief kürzlich zu Protesten auf, die sich auch gegen den „WHO-Vertrag“ richteten.
Es drohe nicht weniger als der Versuch, „Österreichs Souveränität massiv einzuschränken“, stimmte auch die FPÖ in Gestalt ihres Gesundheitssprechers Gerhard Kaniak in das Lamento ein. Ein Büchlein, das sich ohne allzu große Bedenken der Verschwörungsmythenszene zurechnen lässt, warnt gar vor einer „Gesundheitsdiktatur“, vor „medizinischem Kriegsrecht“, einem globalen „Bioüberwachungssystem“ und vor Zwangsimpfungen. Noch dazu soll die WHO „fast grenzenlos neue Pandemien ausrufen“ dürfen. Die Autorin dürfte nicht ganz verinnerlicht haben, dass es das Wesen einer Pandemie ist, eher nicht vor Grenzen zu stoppen.
Doch worum geht es überhaupt? Erraten: um den Pandemievertrag, das jüngste Hassobjekt vieler Verschwörungsgläubiger. Nach langem Feilschen und mehr als dreijährigen zähen Verhandlungen verabschiedeten 194 Mitgliedsstaaten der Weltgesundheitsorganisation WHO Mitte April ein Dokument namens „Pandemic agreement“. In der Schlussrunde bedurfte es eines 24 Stunden langen Sitzungsmarathons, um eine Einigung zu erzielen, die schließlich Niederschlag in einem 30 Seiten starken Papier fand. Bloß die USA signierten nicht, da Donald Trump den Rückzug der Vereinigten Staaten aus der WHO angekündigt hatte.
Verhandler mit Gänsehaut
Ebenso wenig wie die Ablehnung der Rechtspopulisten überrascht die Begeisterung der Verhandler und der WHO-Spitze über den Durchbruch bei den Gesprächen, die im Dezember 2021 begonnen hatten, also mitten in der Coronapandemie. „Die Nationen haben in Genf Geschichte geschrieben“, jubelte WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus. Die Verhandler haben „Berge versetzt“, um zu einem Abschluss zu kommen, meinte eine Sitzungsteilnehmerin. Und ein weiterer Verhandler erklärte dem Fachjournal „Nature“: „Ich habe regelrecht Gänsehaut, weil wir es letztlich tatsächlich geschafft haben.“
Vorerst ist der Pandemievertrag vor allem eine Absichtserklärung, die im Mai offiziell bei einer Generalversammlung der WHO präsentiert wird. In Kraft tritt das Regelwerk erst einen Monat, nachdem es mindestens 60 WHO-Mitgliedsstaaten ratifiziert haben – ein Prozess, der Monate, aber auch Jahre dauern kann.
Welche praktische Bedeutung hat nun der Vertrag, sobald auch diese Phase bewältigt sein wird? Zunächst lässt sich sagen: All die Schauergeschichten über eine Entmündigung oder feindliche Übernahme der Nationalstaaten durch die WHO, die im Vorfeld eifrig verbreitet wurden, beruhen vor allem auf blühender Fantasie und wohl auch der Spekulation, mit dem Schüren von Ängsten Stimmengewinne einzufahren. Im Vertragsentwurf selbst sind die lautstark heraufbeschworenen Szenarien jedenfalls kein Thema. Die WHO hätte freilich ohnehin keine Kompetenz oder Rechtsmittel zur Verhängung von Lockdowns, von Grenz-, Schul- oder Geschäftsschließungen, zur Anordnung verpflichtender Impfungen, Tests oder sonstiger Bestimmungen, die die Souveränität der Länder berühren würden – wie sie generell kein Pouvoir besitzt, in nationales Recht einzugreifen.
Auch FPÖ-Sprecher Kaniak führt nicht konkret aus, worin die vermeintlich sinistren Absichten bestehen sollen. In einer Presseaussendung schreibt er selbst, die WHO könne „laut Vertrag keine Maßnahmen direkt anordnen“, doch es drohe „politischer Druck“, und das Papier sei „gespickt mit schwammigen Formulierungen und freiwilligen Verpflichtungen“. Stichhaltige Argumente für die Existenz eines diabolischen Plans liefert er nicht – ebenso wenig wie die Gesinnungsfreunde von der AfD, die ganz ähnlich gegen den Pandemievertrag und das Feindbild WHO wettern und fordern, den Vertrag nicht zu unterzeichnen.
Idee einer globalen Gemeinschaft
In Wahrheit besteht der Pandemievertrag im Kern darin, länderübergreifend koordinierte Strategien zu entwickeln, falls erneut ein Virus oder ein anderer Erreger einer Infektionskrankheit um die Welt gehen sollte. Die Frage ist eher nicht, ob das geschehen wird, sondern wann und um welchen Erreger es sich handeln wird. Typischerweise haben Viren das Zeug zur Pandemie, die sich über Tröpfchen oder Luftpartikel übertragen und sich daher rasch und großflächig von Person zu Person verbreiten, etwa Grippe- oder wie zuletzt Coronaviren. Zirkuliert beispielsweise das Vogelgrippevirus lange genug in amerikanischen Farmen, hat es theoretisch ausreichend Zeit, im Wege genetischer Anpassungen zu einem Erreger zu mutieren, der auch von Mensch zu Mensch weitergereicht werden kann – und jedenfalls hypothetisch ein Pandemiekandidat wäre.
Was auch immer auf uns zukommen sollte: Sinnvoll wären im Fall des Falles effiziente Maßnahmen, die möglichst die Unzulänglichkeiten, Unausgewogenheiten und Verwerfungen begrenzen, welche die Welt in den vergangenen fünf Jahren erlebt hat. Kann das der Pandemievertrag leisten? Manche Punkte scheinen durchaus sinnvoll, andere sind weniger überzeugend, und einiges klingt, da muss man Kaniak recht geben, in der Tat ziemlich wolkig – auch deshalb, weil die WHO eben nicht die Befugnisse hat, die Länder zu konkreten Schritten zu zwingen.
Das bedeutendste Ziel ist sicher der Plan, wohlhabende und weniger reiche Länder gleichermaßen zu versorgen. Das betrifft etwa Schutzausrüstung für Gesundheitspersonal, das an vorderster Linie die Medizinsysteme aufrechterhalten muss und künftig prioritär beliefert werden soll – was bei Corona keineswegs zufriedenstellend klappte. Die globale Organisation der entsprechenden Lieferketten ist ein zentrales Kapitel des Pandemievertrags.
Die gerechte Distribution von Impfstoffen, Medikamenten und Medizintechnologie zählt ebenso dazu. Vor allem in der ersten Phase nach der Marktzulassung der ersten Covid-Impfstoffe horteten westliche Länder Millionen Dosen, während andere Staaten gar keine Impfstoffe hatten. Nach Zahlen des Wissenschaftsjournals „Science“ hätten bei ausgeglichenerem Zugang zu Impfungen Hunderte Millionen Infektionen und rund 1,3 Millionen Todesfälle verhindert werden können.
Feilschen mit der Pharmaindustrie
Besonders hart dürften, wie Verhandler gegenüber „Science“ berichteten, die Debatten mit der Pharmaindustrie gewesen sein. Deren Vertretern sollten mehrere Zugeständnisse abgerungen werden: Zum einen sollten die Konzerne ihre Technologie zur Verfügung stellen, damit ärmere Länder Medikamente und Impfstoffe vor Ort produzieren können – wogegen sich die Pharmabranche zunächst mit dem Verweis auf Patentschutz sperrte. Schließlich einigte man sich darauf, dass sich die Industrie „freiwillig“ zum Technologietransfer verpflichtet, was mangels klarer Verbindlichkeiten wohl einigen Missmut auslöste.
Ähnlich langwierig scheint es gewesen zu sein, Impfstoffquoten auszuhandeln: Die Hersteller sollen der WHO bestimmte Kontingente kostenlos überlassen, damit weniger wohlhabende Staaten über die Weltgesundheitsorganisation beliefert werden können. Schließlich lautete der Kompromiss: Zehn Prozent der Produktionskapazitäten sind als Gratis-Chargen den WHO-Lagern vorbehalten, weitere zehn Prozent sollen zu einem „leistbaren“ Preis angeboten werden – was auch immer das in konkreten Zahlen bedeuten wird.
Im Gegenzug bekommen die Unternehmen von jenen Ländern, die sie zu fairen Preisen beliefern, Zugang zu Informationen über Krankheitserreger in den jeweiligen Regionen – die Voraussetzung, um weitere Forschung zu betreiben und Medikamente oder Impfstoffe zu entwickeln. Zu diesem Zweck sieht der Pandemievertrag ein „pathogen access and benefit sharing system“ (PABS) vor, eine Datenbank, die mit Fachwissen über Krankheitserreger gefüttert werden soll. Das Einspeisen etwa der genetischen Sequenzen von Viren in einen vernetzten Datenspeicher könnte, so die Idee, die Forschung an neuen Präparaten erleichtern und beschleunigen.
Ob dieser Vertragsbestandteil große praktische Relevanz haben wird, darf allerdings bezweifelt werden. Denn wenn eines während der vergangenen Pandemie funktioniert hat, war es der globale Austausch wissenschaftlicher Informationen. Die genetische Sequenz des Coronavirus war wenige Wochen nach Aufkommen der ersten Fälle ausbuchstabiert und im Internet frei für alle Welt abrufbar – weshalb Unternehmen wie BioNTech und Moderna noch am selben Tag beschlossen, auf Basis dieser DNA-Sequenz die Impfstoffforschung in Gang zu setzen.
Umbruch bei den Fachjournalen
In den darauffolgenden Monaten erfuhr das gesamte wissenschaftliche Publikationswesen einen massiven Wandel: Statt wie früher üblich Fachartikel erst von einem erlesenen Gutachtergremium beurteilen zu lassen und dann in (meist kostenpflichtigen) Journalen abzudrucken, stellten Forschende aus aller Welt ihre jeweiligen Erkenntnisse ins Internet – sodass die globale Kollegenschaft sofort auf diese „Vorabveröffentlichungen“ zugreifen und ihre eigene Arbeit darauf aufbauen konnte. Aktuellstes Wissen war somit rasch, in ungeheurer Menge und barrierefrei zugänglich, genetische Profile viraler Erreger eingeschlossen. Wenn nun die WHO einen weiteren Datenschatz etablieren möchte, ist das gewiss löblich, und es kann nicht schaden – sehr viel nützen wird es vermutlich allerdings auch nicht.
Leichte Skepsis über nutzbringende Effekte ist auch beim Kapitel „Prävention“ angebracht. Ohne Zweifel wäre es hilfreich, systematisch Entwicklungen im Tierreich zu beobachten und dadurch frühzeitig potenziell gefährliche Viren zu entdecken. Allerdings: Viele nationale Institute in aller Welt tun das ohnehin permanent – in Österreich beispielsweise ließen sich derart sehr genau die Wanderwege von Stechmücken nachvollziehen, die Infektionskrankheiten wie Dengue- oder West-Nil-Fieber übertragen.
Außerdem ist leider ziemlich schlecht vorhersagbar, welche Verkettung von Umständen eintreten muss, damit aus singulären Infektionen ein Ausbruch im Schneeballsystem wird, der letztlich als Pandemie um die Erde rollt. In Ostasien beispielsweise kommt es fast ständig zu „Spillovers“, zu Übersprüngen von Viren etwa von einer Fledermaus auf ein Säugetier und dann fallweise auf den Menschen – und weiter geschieht gar nichts, das Geschehen versiegt. Sehr selten aber verquicken sich die Umstände so, dass aus dem alltäglichen Vorfall eine globale Gesundheitskrise wird. Warum? Meist durch einen Zufall: Zur selben Zeit treffen an einem kritischen Ort, etwa einem dicht bevölkerten Markt, von Viren befallene Säugetiere als Zwischenwirte und für das Virus empfängliche Kunden aufeinander.
Ein Virus reist um die Welt
Auch was dann weiter geschieht, lässt sich schwer prognostizieren: Der Vorgänger jenes Coronavirus, das der Welt zuletzt zu schaffen machte, reiste ab 2002 über die Kontinente, nachdem ein einziger Erkrankter in einem Hotel in Hongkong eine Reihe weiterer Menschen angesteckt hatte. Die Folge waren rund 8000 Erkrankte und etwa 800 Tote – dann verschwand das Virus. Was für ein Unterschied zum Nachfolger, dem Coronavirus SARS-CoV-2, das die Gesellschaft jahrelang lahmlegte. Warum waren die Auswirkungen so verschieden? Niemand weiß es genau.
Will man das Entstehen von Pandemien wirklich verhindern, hätte man beispielsweise längst all jene „Wet Markets“ in China schließen müssen, in denen auf engem Raum und unter fragwürdigen hygienischen Bedingungen lebende Tiere gehandelt werden; man hätte ebenso unterbinden müssen, dass in den USA Rinder auch dann noch kreuz und quer durch Bundesstaaten transportiert wurden, als schon Hunderte Betriebe von der Vogelgrippe betroffen waren. Man könnte noch viele weitere Beispiele nennen. Sie haben eines gemeinsam: Die jeweiligen Staaten müssten effizientere Regeln entwickeln. Die WHO hingegen hat in all diesen Fällen kein Durchgriffsrecht – auch wenn Rechtspopulisten und Verschwörungsgläubige anderes behaupten.

Alwin Schönberger
Ressortleitung Wissenschaft