Feldmarschall Radetzky: Österreichs Nationalheld als Mörder und Kriegsverbrecher
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Kämpfen oder die Waffen strecken? Die führenden Bürger der Stadt Asolo, nördlich von Padua, berieten darüber am 18. April 1848. Jene Wochen waren eine chaotische Zeit, geprägt von Unruhen und Gewalt. Die Revolution hatte, ausgehend von Frankreich, wichtige Metropolen Europas erfasst. In Norditalien flammten Proteste gegen die damals über die Lombardei und Venezien herrschenden Habsburger auf. Mailand rebellierte gegen die Österreicher, Venedig hatte die Republik ausgerufen.
Im fernen Wien, von den März-Revolten ebenfalls erschüttert, fürchteten die Bürokraten unter dem kaum 18 Jahre jungen Kaiser Franz Joseph um die Kontrolle über ihre Einflussgebiete und den Bestand ihres Reiches. Sie schickten das Militär, um die Aufstände niederzuschlagen.
Nun debattierten die Würdenträger in Asolo, wie man sich gegenüber den anrückenden Truppen verhalten sollte. Die Stadt mit heute knapp 9000 Einwohnern, die für malerische Gassen und guten Prosecco bekannt ist, wäre von ihrer massiven Festung komfortabel zu verteidigen gewesen. Doch besonnene Bürger wandten ein: Man bedenke, was kürzlich in Castelnuovo geschehen sei.
Was sich in dem Ort am Gardasee am 11. April zugetragen hatte, überliefern die Ortschroniken: Österreichs Soldaten fielen ein, brannten das Dorf nieder und mordeten wahllos unter der Zivilbevölkerung. 113 Frauen, Männer und Kinder starben in dem Gemetzel. Würde Asolo das gleiche Schicksal treffen, sollte sich die Bevölkerung wehren? In der folgenden Abstimmung sprachen sich 39 Bürger dafür aus, sich zu ergeben, zehn stimmten dagegen.
Den Befehl für das Massaker von Castelnuovo erteilte ein Mann, der in Österreich als Held und einer der größten Feldherren aller Zeiten gepriesen wird; dessen Tapferkeit und taktische Raffinesse voller Bewunderung gerühmt werden; zu dessen Ehren Denkmäler gebaut, eine Straße und ein Platz in Wien benannt wurden; der mit einem zackigen Marsch gewürdigt wurde, dessen Rhythmus das Publikum beim Neujahrskonzert stets begeistert mitstampft: Johann Joseph Wenzel Anton Franz Karl Graf Radetzky von Radetz.
Blutiger Hund und General Mord
Der Graf Radetzky mag aus Sicht vergangenheitsverliebter Österreicher ein gewiefter Stratege gewesen sein. Anderen jedoch gilt der 1766 im böhmischen Trebnitz geborene Feldmarschall als gefürchteter Schlächter. In Tschechien, wo schon lange hitzig über das Andenken an Radetzky debattiert wird, kursieren Zuschreibungen wie „General Mord“ oder „blutiger Hund der italienischen Revolution“, der mit „absolut tödlicher Aggression“ vorgegangen sei.
Auf Gräueltaten deuten auch Archivquellen hin, die der Journalist Werner Stanzl für ein Sachbuch gesichtet hat. Stanzls Bildband liefert eine lebensnahe und detailreiche Schilderung eines wenig bekannten Kapitels der österreichischen Geschichte: Das Buch beleuchtet jene beiden historischen Episoden, in denen die Lagunenstadt unter dem Einfluss der Habsburger stand. Und es spart auch dunkle Flecken dieser Phasen nicht aus: das teils klägliche Gezerre um Machtpositionen sowie die Methoden, mit denen Österreich auch friedliche Freiheitsbestrebungen unterdrückte.
Als Venedig österreichisch war
Werner Stanzl: „Venedig unterm Doppeladler.
Zwischen Arrangement und Kolonialismus“,
Kral Verlag. 2024, 272 Seiten, EUR 40,95
Radetzkys Rolle dabei war zentral. Seit 1831 kommandierender General in Italien, setzte er in der Region die politischen Ziele Wiens wenn nötig mit Waffengewalt durch – offenbar teils mit Vehemenz. Aus Dokumenten des Österreichischen Staatsarchivs geht hervor, dass ihm der Wiener Ministerrat ausrichtete, er möge sich „bei der Kriegsführung in Italien, um das Pazifikationsgeschäft nicht zu erschweren, aller Grausamkeiten“ enthalten.
Im Grunde seien sämtliche historischen Quellen, die Hinweise auf Untaten Radetzkys enthalten, frei zugänglich, sagt Stanzl. Interessanterweise würden diese Facetten seiner Persönlichkeit bisher aber ziemlich ausgespart. Entweder seien trocken bloß die Eckdaten von Kampfhandlungen vermerkt, oder Radetzky werde mit unreflektierter Heldenverehrung bedacht. In diesem Punkt pflichtet Daniela Angetter-Pfeiffer bei. „Die Literatur lässt kritische Einschätzungen der Person Radetzky fast komplett aus“, sagt die Wissenschaftshistorikerin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Kriege wurden damals, wie blutig sie auch gewesen sein mögen, hauptsächlich am Schlachtfeld ausgetragen, sie richteten sich aber normalerweise nicht gegen Zivilisten.
Daniela Angetter-Pfeiffer, Wissenschaftshistorikerin
Dabei wäre es längst an der Zeit, den hochdekorierten Militär frei von jeder Verklärung zu betrachten, meint Angetter-Pfeiffer. Immerhin habe Radetzky mit bis dahin üblichen Praktiken der Kriegsführung gebrochen, indem er Attacken auf die Zivilbevölkerung anordnete oder zumindest in Kauf nahm: „Kriege wurden damals, wie blutig sie auch gewesen sein mögen, hauptsächlich am Schlachtfeld ausgetragen, sie richteten sich aber normalerweise nicht gegen Zivilisten.“ Heute würde man Radetzky wohl als Kriegsverbrecher den Prozess machen.
Massaker mit Kalkül
Was in Castelnuovo geschah, war gewiss kein aus dem Ruder gelaufenes Marodieren von Soldaten im Blutrausch, sondern beruhte auf Kalkül: Radetzky hoffte, dass sich die Nachricht vom Massaker in der Region herumsprechen und bewirken würde, dass selbst die schneidigsten Revolutionäre der Mut verließe. Vermutlich sei die Annahme nicht übertrieben, dass Radetzky mit der Niederschlagung der Revolution in Italien den Österreichern für ein paar weitere Jahrzehnte die Monarchie rettete, so Angetter-Pfeiffer. Andernfalls wäre diese vielleicht bereits 1848 kollabiert.
Die Lage im damaligen Europa war, milde ausgedrückt, unübersichtlich. Statt in Nationalstaaten waren viele Länder in Fürstentümer und Königreiche zersplittert, in Deutschland ebenso wie in Italien. Ständig stritten die Großmächte dieser Zeit – vor allem Frankreich, Preußen, England, Russland und Österreich – um Einfluss und Gebietsansprüche. Bewaffnete Konflikte waren mehr die Regel als die Ausnahme, wobei Territorien beinahe unablässig die Machthaber wechselten. Besonders in den napoleonischen Kriegen trugen die Herrscherhäuser Demütigungen in Serie davon, in deren Folge Ländereien meist neu verteilt wurden. Nachdem Napoleon 1797 bis Leoben vorgedrungen war, trat Österreich Gebiete ab, bekam aber Venedig zugesprochen, dessen sich Frankreich erst kurz davor bemächtigt hatte.
Die neuen Herrscher Norditaliens
Die erste Präsenz der Österreicher währte kurz. Nach zwei weiteren sogenannten Koalitionskriegen gegen Napoleon waren sie Venedig 1805 wieder los. Napoleons Sturz 1814 und die Verhandlungen des Wiener Kongresses erlaubten ihnen jedoch 1815 die Rückkehr. Österreich regierte nun das Königreich Lombardo-Venetien samt den bedeutenden Städten Mailand und Venedig.
Die Venezianer, vor Napoleons Zeiten ein Jahrtausend lang unabhängig, waren von den Bürokraten aus Österreich mäßig begeistert. Zwar mühten sich die Österreicher, die Lebensbedingungen der Stadt zu verbessern. Sie pflasterten Straßen, sanierten Brunnen, errichteten Dämme, bekämpften Ratten und Seuchen, stellten Spitalsbetten zur Verfügung und – typisch Österreich – etablierten eine komplizierte Verwaltung samt Magistrat.
Zugleich hoben sie neue Steuern ein und versuchten, die klammen Finanzen der Monarchie mit Mitteln aus Venedig aufzupeppen. Gut ein Viertel der Gesamteinnahmen Österreichs stammte zu dieser Zeit aus Norditalien, fand Autor Werner Stanzl heraus. Prekär war die Situation auch aufgrund des Ausbruchs des Vulkans Tambora, dessen Staub- und Aschewolken im Jahr 1815 den Himmel verfinsterten und massive Ernteeinbußen bewirkten. Überall hungerten die Menschen, auch in Venedig. Ein Besucher notierte in seinem Reisebericht den Anblick armseliger Gestalten in „völlig abgetragener Kleidung“, selbst die Noblen der Stadt seien „völlig verarmt, zu hochmüthig, um zu arbeiten, kaum stolz genug, um nicht zu betteln“.
Immer weiter wuchsen der Unmut über die lästigen Habsburger und der Wunsch nach Selbstbestimmung. Dynamik kam in die Situation am 18. Jänner 1848, als die Polizei den Rechtsanwalt Daniele Manin und den Schriftsteller Nicolò Tommaseo wegen regierungsfeindlicher Propaganda verhaftete. Besonders Manin hatte sich für ein unabhängiges Venedig ausgesprochen, das „wahrhaft national und italienisch“ sein solle. Außerdem forderte er Ungeheuerliches wie die Einführung der Redefreiheit.
Nach den Verhaftungen nahmen die Proteste an Fahrt auf, vor allem, nachdem Manin und Tommaseo gerichtlich freigesprochen wurden – und dennoch eingesperrt blieben. Immer mehr kochte der Volkszorn hoch, bis der chronisch überforderte Gouverneur Aloys Pálffy nachgab und die Öffnung der Gefängniszellen anordnete. Am 22. März 1848 rief Manin die Repubblica di San Marco aus, die unabhängige Republik Venedig.
Zu dem Zeitpunkt wussten Manin und seine Anhänger bereits, wie sehr es in anderen Städten brodelte: in Paris seit 24. Februar, in Wien seit 13. März. In Mailand, wo Österreichs Soldaten auf Demonstranten schossen, gärte es ebenfalls. Die Monarchen sahen ihr Reich in Stücke fallen und setzten auf eine Geheimwaffe namens Radetzky.
Der Militär war im Revolutionsjahr bereits 82 Jahre alt und blickte auf eine bewegte Biografie und glänzende Karriere zurück. Mit zehn Jahren Vollwaise geworden, trat er als 18-Jähriger ins kaiserliche Kürassier-Regiment Nr. 2 ein und erwarb Dienstgrad um Dienstgrad: 1787 wurde er Oberleutnant, 1794 Rittmeister, ein Jahr später Major, anschließend Oberstleutnant, Generalmajor, Brigadier und schließlich 1836 Feldmarschall. Radetzky diente unter fünf Kaisern und nahm an zwei Dutzend Schlachten teil, darunter an der Völkerschlacht bei Leipzig. Faszinierte Biografen rühmten seine Tapferkeit und zählten ab, wie oft ihm das Pferd unter dem Gesäß weggeschossen wurde.
Ökonomisch lief es weniger prächtig. Radetzky hatte acht Kinder und eine Gattin, die angeblich einen kostspieligen Lebensstil pflegte. Manche Quellen berichten außerdem von einer ausgeprägten Freigiebigkeit Radetzkys sowie einem Hang zum Spiel. Jedenfalls dürfte er zeitlebens ziemlich pleite gewesen sein, was vermutlich mit ein Grund war, dass er 1831 den Job als Armeechef in Italien annahm – in einem Alter, in dem andere üblicherweise in Rente gehen.
Aufruhr in Mailand
Mitte März 1848 eskalieren die Aufstände in Mailand. Revolutionäre besetzen Regierungsgebäude, errichten Barrikaden, plündern Waffenkammern. Radetzky befiehlt Warnschüsse aus Kanonen. Am 20. März ziehen seine Truppen bei einem Kampf um den Domplatz jedoch den Kürzeren, Radetzky verlässt Mailand und verschanzt sich in einer Festung bei Verona. Eine schwärmerische Chronik schildert, wie er „in einem kleinen Zimmer des Castells“ ganze „sechs Tage und sechs Nächte“ ausharrte, „mit karger Nahrung versehen, ohne die Kleider zu wechseln, kaum dass er eine Stunde Schlafes genossen hätte“.
Dann schlägt er zurück. Im April befiehlt er die Massaker in Orten wie Castelnuovo. Die Botschaft ist eindeutig: Dies drohe jenen, die sich nicht fügen. Der Showdown ereignet sich Ende Juli bei Custozza, südwestlich von Verona. Radetzkys Heer, mittlerweile durch weitere Streitkräfte verstärkt, trifft auf die Truppen von Karl Albert, König von Sardinien-Piemont, der sich nach langem Zögern und eher halbherzig auf die Seite der Befreiungsbewegung geschlagen hat. Radetzky fügt den Italienern eine katastrophale Niederlage zu, Karl Albert kapituliert. Die Mailänder geben auf und überlassen Radetzky kampflos die Stadt.
Nicht aber die Venezianer. Manin lässt im Stadtrat darüber abstimmen, ob man weiter Widerstand leisten wolle. Die Vorzeichen stehen ungünstig. Mittlerweile ist es Frühjahr 1849, und Radetzky hat Karl Albert in der Schlacht bei Novara ein weiteres Mal besiegt. Der König hat sich ins Exil abgesetzt, Unterstützung für Venedig ist nicht mehr zu erwarten. Dennoch entscheiden sich die Venezianer dafür, sich den Österreichern zu widersetzen.
Radetzkys Truppen belagern fortan die Stadt. Im Juni 1849 beginnen sie, Venedig von Mestre aus mit Kanonen zu beschießen, drei Wochen lang. Allein am ersten Tag feuern sie 7000 Kugeln ab, insgesamt treffen 23.000 Geschoße die Stadt und beschädigen unter anderem die Rialto-Brücke. Bis heute zeugen an manchen Bauten eingemauerte Kanonenkugeln vom Artilleriefeuer.
Um die Wirkung zu verstärken, ersinnen die Österreicher eine besonders abscheuliche List: Sie erhitzen Kanonenkugeln, bis sie rötlich-gelb glühen, und schießen sie dann auf die Stadt – mit dem Kalkül, dort Brände auszulösen. „Wiener Orangen“ nennen die Venezianer diese Feuerbälle. Sie eilen herbei, wo immer eine der Brandbomben einschlägt, um rasch zu löschen.
Der erste Drohnenkrieg
Außerdem startet Radetzky den ersten Luftangriff der Geschichte. Kurz zuvor hat der österreichische Ingenieur Franz von Uchatius mit Bomben bestückte Ballone entwickelt. Mit brennender Lunte versehen, konnte man die Ballone mit dem Wind über Feindgebiet segeln lassen. Radetzky nutzt die Erfindung umgehend. Mehr als 100 Ballone lassen die Belagerer aufsteigen, allein deren Anblick muss furchterregend gewesen sein. Allerdings steht der Wind ungünstig, weshalb diese Frühform einer Drohnenattacke wenig Wirkung zeigt. Manche Ballone fliegen hinaus aufs Meer, andere zurück zu den Absendern.
Letztlich sind es vor allem Hunger, mangelnder Nachschub und die Cholera, die Venedig in die Knie zwingen. Die Regierung Manin kapituliert am 29. August 1849, anschließend besetzt Radetzky die Stadt mit 3000 Mann. Österreich hat Venedig zurückerobert. Die italienische Revolution ist erstickt, die Monarchie für ein weiteres halbes Jahrhundert gerettet.
In Venedig tritt nun umgehend eine Proklamation in Kraft, die Radetzky bereits im März formuliert hat, durchaus als Drohbotschaft an unbelehrbare Aufständische. Das bisher unbekannte Dokument, das Werner Stanzl erst kürzlich aufgespürt hat, listet auf, welche Vergehen unter Todesstrafe stehen: neben Hochverrat, Desertion und der Teilnahme an Unruhen finden sich darin auch das „Absingen revolutionärer Lieder“, das „Halten umstürzlerischer Reden“ und das „Verbreiten schlechter Nachrichten“. Joseph Radetzky, mittlerweile 83 Jahre alt, bleibt als Generalgouverneur von Lombardo-Venetien noch weitere acht Jahre im Amt. Im Februar 1857, ein Jahr vor seinem Tod in Mailand, ersucht er, mit Orden überhäuft, um Versetzung in den Ruhestand.
Damit darf Radetzky zumindest im Hinblick auf das Pensionsantrittsalter als vorbildlich gelten.

Alwin Schönberger
Ressortleitung Wissenschaft