Dossier: Infektionskrankheiten

Gerechtigkeit für Viren!

Viren haben ein mieses Image. Doch sie sind evolutionäre Wunderwerke, und der Mensch könnte ohne sie gar nicht leben.

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Wendell Meredith Stanley gab der Welt Rätsel auf. Der amerikanische Chemiker führte im Jahr 1935 Experimente durch, um dem Geheimnis der Viren auf die Schliche zu kommen. Viele Krankheitserreger waren damals zwar schon beschrieben, darunter das Pocken-, das Tollwut- und das Masernvirus, doch worum es sich genau handelte, war unklar. Schon gar nicht konnte man Viren sichtbar machen. Stanley arbeitete mit dem Tabakmosaikvirus, das hässliche Flecken auf Tabakpflanzen hervorruft. Er presste infizierte Pflanzen zu Saft, gewann mittels chemischer Verfahren Feststoffe aus dessen Bodensatz und ließ diese kristallisieren. Danach verflüssigte er die Kristalle wieder – und stellte fest, dass sie hochinfektiös waren.

Für die Fachgemeinde war das verstörend. Kristalle sind definitiv tot. Wie aber kann tote Materie Pflanzen befallen? Heute weiß man natürlich, dass die Aktivität von Viren an Zellen anderer Lebewesen gebunden ist. Doch die Frage, was Viren überhaupt sind, wird noch immer debattiert, wenn auch eher in philosophischem Sinne. Aus Sicht der Naturwissenschaft herrscht weitgehend Konsens, dass Viren nicht lebendig sind. Denn sie können sich nicht eigenständig vermehren oder bewegen und besitzen weder Zellen noch Stoffwechsel. Wenn wir mit Seife oder Desinfektionsmittel Viren vernichten, wollen wir etwas töten, was ohnehin nie lebendig war. Wenn sie aber kein Leben sind – was sind sie dann? Organismen? Partikel oder Parasiten? Biologische Einheiten? Zwischenwesen im Grenzbereich von belebter und unbelebter Natur? Eine Portion Erbgut? Oder ein Programm, das mit beeindruckender und fast unheimlicher Präzision abläuft? Eine interessante Definition lautet: Viren sind nicht lebendig, aber sie borgen sich Leben, nämlich von einer Wirtszelle.

Allein die Diskussion um den Status von Viren zeigt: Dieser Mikrokosmos stellt eine bis heute verwirrende Wunderwelt dar. Zuletzt war die Menschheit hauptsächlich genervt von all der Mühsal, die uns das Coronavirus beschert, und man darf nie vergessen, welches Leid Viren verursachen können – von früheren Pest-, Pocken- und Influenzapandemien bis zu grausamen Infektionskrankheiten wie HIV und Ebola. Dennoch sei ausnahmsweise eine respektvolle Würdigung dieser ohne Zweifel auch hochgradig faszinierenden Daseinsform gestattet. Dies nicht nur, weil sich an Viren ablesen lässt, mit welch unglaublichem Minimalismus die Evolution auf reproduktiven Erfolg zustrebt, sondern auch, weil längst nicht alle Viren eine Gefahr darstellen, im Gegenteil: Mehr als 90 Prozent schädigen uns nicht. Und wie wir heute wissen, trägt sogar unser eigenes Erbgut Überreste von Viren in sich.

Zunächst ist schon deren schiere Allgegenwart überwältigend. Könnten wir sie sehen, würden wir verblüfft feststellen, dass wir auf einem Planeten der Viren leben: Jedes Tier, jeder Mensch, jede Pflanze, jedes Bakterium, jede einzelne Zelle ist von Viren besiedelt. Die Mikroben finden sich in in heißen Schloten der Tiefsee und der Antarktis ebenso wie in der Atmosphäre. Dort konnten 800 Millionen Viren pro Quadratmeter gemessen werden. Vermutlich werden Viren derart über Kontinente vertragen. Unserer Wahrnehmung enzieht sich dieses Geschehen, weil die allermeisten Viren mit 20 bis wenigen Hundert Nanometer (Millionstel Millimeter) Durchmesser kleiner sind als die Wellenlänge des sichbaren Lichts. Man benötigt ein Elektronenmikroskop, um sie zu studieren, und diese Geräte gibt es erst seit den 1950er-Jahren. Bis dahin konnte die Wissenschaft nur indirekt auf die Existenz von Viren schließen: Die viel größeren Bakterien ließen sich mit speziellen Filtern auffangen. Doch manche Präparate waren noch nach der Filtration infektiös – es musste also etwas Unbekanntes darin sein, das hindurchschlüpfte.

Heute kennen wir einige Tausend Virenarten, und fast täglich kommen neue Spezies hinzu. Vermutlich existieren mehrere Hunderttausend, die höhere Tiere infizieren. Allein ein Tropfen aus dem Ozean enthält Millionen Viren. Eine Inventur ergab sogar 250 Millionen Viruspartikel pro Milliliter Meerwasser. Auf der menschlichen Haut wimmelt es ebenfalls vor Viren: Forschende spürten dort mehrere Hundert Millionen virale Gensequenzen auf, die meisten harmlos und zuvor unbekannt. Um die Dimension des Virenuniversums zu veranschaulichen, werden gerne mehr oder minder überzeugende Vergleiche bemüht: Manche meinen, auf jeden Stern im Kosmos kämen 100 Viren. Andere behaupten, würde man alle Viren der Erde aneinanderreihen, ergebe sich daraus eine Kette mit der Länge von 200 Millionen Lichtjahren.

Sicher ist: Viren begleiten uns seit jeher. Aus mehr als 30.000 Jahre alten humanen Zähnen konnten Erkältungs- und Herpesviren isoliert werden, die sich kaum von den heutigen unterscheiden. Selbst die Dinosaurier wurden von Viren geplagt, wie Analysen von 150 Millionen alten Knochen verraten. Doch Viren sind garantiert noch weitaus älter. Wie alt sie wirklich sind und wie sie entstanden, fällt indes in den Bereich der Spekulation. Diskutiert wird, ob es sich um gleichsam abgesprengte Teilchen von Zellen, etwa von Bakterien, handeln könnte, die eine Rückwärtsentwicklung in eine simple, unbelebte und nicht selber reproduktionsfähige Form durchliefen.

Denkbar einfach aufgebaut sind sie auf jeden Fall, gleich ob rund, stäbchenförmig oder in Gestalt eines Ikosaeders wie das Schnupfenvirus, eines Gebildes mit 20 Flächen. Sie alle fristen ihr Dasein ohne unnützen Ballast und mit absoluter Minimalausstattung: einem einzelnen oder doppelten Strang Erbgut aus Desoxyribo- oder Ribonukleinsäure (DNA oder RNA), der in ein Kapsid gepackt ist, eine schützende Schale aus Eiweiß. Manche besitzen zusätzlich eine Hülle aus Fett wie die RNA-Viren SARS-CoV-2, Influenza, Ebola und HIV.

Behüllte Viren sind derart knausrig, dass sie nicht einmal den Bauplan für die eigene Hülle mitbringen. Stattdessen zwicken sie einen kleinen Fetzen aus der Membran der Wirtszelle und wickeln sich darin ein, bevor sie die Zelle verlassen. Auch davor bedienen sie sich, weil selber nicht teilungs- und fortpflanzungsfähig, schamlos am Eigentum des zeitweiligen Gastgebers: Sie durchdringen die Wand der Zelle, streifen die zuvor anderswo geklaute Hülle ab und sind nun nur noch nacktes Erbgut, das mittels Enzymen Zellprogramme manipuliert wie ein Scharlatan ein willenloses Opfer: Derart befehlen die Viren, Unmengen Kopien ihrer selbst herzustellen, missbrauchen somit die wehrlose Zelle als Fabrik. Dann schnappen sie sich wieder ein Stück Zellmembran, packen sich in eine neue Hülle und schlüpfen hinaus – auf dem Weg zum nächsten Opfer. Bei allem Schaden, den Viren anrichten: Ist das nicht genial, selbst für eine ohnehin raffinierte Strategin wie die Evolution?

DNA-Viren wie das Herpes-Virus schleusen sich sogar direkt ins Erbgut der Wirtszelle ein, werden bei jeder Zellteilung mitkopiert und installieren sich quasi als Untermieter dauerthaft im Wirtsorganismus. Diese Praxis der Natur könnten sich all jene merken, die sich vor einer Genveränderung durch Impfungen fürchten. Letztere bauen sich nicht ins Erbgut ein, manche Viren schon.

Zumindest ein Quäntchen Bewunderung ringt auch die Fähigkeit von Viren ab, bei den von ihnen Befallenen genau jene Symptome auszulösen, welche die Verbreitung der Mikrobe optimieren – Husten oder Niesen zum Beispiel, was Viren mit hohem Tempo und in großer Zahl in der Umwelt verteilt. Das funktioniert sogar artübergreifend. Ein mit SARS-CoV-2 verwandtes Virus ist MERS (Middle East Respiratory Syndrome). Forschergruppe, der der Wiener Virologe Norbert Nowotny angehörte, fand heraus, dass MERS von Dromedaren auf Menschen übertragen wird. Die Tiere besitzen zwar natürliche Immunität und übertragen diese auch auf den Nachwuchs. Doch nach der Geburt lässt diese nach, und viele Jungtiere infizieren sich für etwa zehn Tage und  entwickeln Schnupfen – im einem Alter, in dem Menschen sie besonders niedlich finden und gerne streicheln.

Zur wenigstens teilweisen Ehrenrettung der Viren ließe sich aber vor allem der Umstand anführen, dass viele von ihnen auch Nutzen stiften – natürlich nicht absichtlich, aber das Ergebnis bleibt dasselbe. Einigermaßen bekannt sind beispielsweise Bakteriophagen: Viren, die spezifisch nur Bakterien befallen und diese zerstören. Jedes Bakterium wird im Regelfall von mehreren solchen Phagen bewohnt. Bevor es Antibiotika gab, galten Bakteriophagen als Hoffnung der Medizin zur Therapie bakterieller Infektionen – und sind es heute, da viele Antibiotika versagen, bis zu einem gewissen Grad wieder. In den Ozeanen wiederum tragen Viren dazu bei, das ökologische Gleichgewicht zu erhalten, indem sie beispielsweise Algen- und Bakterienarten befallen und verhindern, dass diese sich übermäßig ausbreiten.

Die vielleicht verblüffendste Erkenntnis ist aber, dass der Mensch selber auch Virus ist. Bei der Entschlüsselung des Humangenoms stellte sich heraus, dass rund 600.000 Basenpaare unsers genetischen Codes aus viralen Sequenzen besteht – aus Viruserbgut, das sich irgendwann in der Frühgeschichte in uns eingenistet, fix in die DNA integriert hat und nun einen Teil des Menschen ausmacht. Zu mehr als acht Prozent sind wir Virus. Der Großteil dieses Erbmaterials mag ohne Funktion sein, doch es dürften auch Gene darunter sein, die wir brauchen: zum Beispiel für die Entwicklung der Plazenta oder zum Schutz vor Krebs. Auch die angeborene Immunantwort scheint teils auf viralen Genen zu beruhen. Wenn unser Immunsystem Viren bekämpft, hilft ihm dabei ausgerechnet virales Erbe.

Wenn wir uns das nächste Mal mit einem banalen Schnupfen abplagen, könnten wir unseren fremdartigen Untermietern wenigstens ein bisschen dankbar dafür sein, dass das Übel nur sieben Tage dauert. Oder eine Woche.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft