Daniel Everett, 66

Wie ein Missionar zum Atheisten wurde

Der Linguist und frühere Missionar Daniel Everett berichtet, wie er ein Naturvolk bekehren wollte und dabei zum Atheisten wurde - und seine Ehefrau verlor.

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profil: Sie gingen 1977 in den Amazonas-Urwald, um die Pirahã zum Christentum zu bekehren. Stattdessen wurden Sie selbst vom protestantischen Missionar zum Atheisten. Wie konnte das passieren? Everett: Die Pirahã waren glücklicher und psychologisch viel ausgeglichener als jeder, den ich kannte, die anderen Missionare eingeschlossen. Sie sind auch viel weniger abergläubisch als die durchschnittlichen Amerikaner und haben eine sehr stark an Erfahrungswerten orientierte Kultur. Sie wollen für alles, was man ihnen sagt, Beweise haben.

profil: Ein Naturvolk, das mit Empirie vertraut ist? Everett: Wenn ich ihnen von Jesus erzählte, wollten sie wissen, wann ich ihn getroffen und was er zu mir gesagt hatte. Als ich zugeben musste, dass weder ich noch ein Freund und auch niemand sonst, der heute lebt, Jesus je gesehen hat, erklärten sie mir: "Das ergibt doch keinen Sinn, warum erzählst du uns von jemandem, den niemand kennt?" Dieser Skeptizismus -zusammen mit ihrer Lebenszufriedenheit und dem Bewusstsein, dass sie die frohe Botschaft aus der Bibel überhaupt nicht brauchten -ließ mich zweifeln, was ich dort überhaupt mache.

profil: Auch Ihr Glaube kam ins Wanken? Everett: Diese Menschen missionieren zu wollen, war komplett unangebracht, denn ich war eigentlich derjenige, der abergläubisch war - und nicht sie. Ich habe meine Perspektive dadurch komplett verändert und gab all meine religiösen Glaubensinhalte auf, obwohl ich damals schon lange ein erfolgreicher Missionar gewesen war. Die Pirahã reagierten übrigens sehr verständnisvoll, als ich ihnen schließlich erzählte, dass ich nicht mehr an Jesus glaube. Sie sagten: "Oh, nun bist du so wie wir."

profil: Haben die Pirahã Anstrengungen unternommen, Sie quasi zum Atheismus zu bekehren? Everett: Sie würden nie versuchen, irgendjemanden zu irgendetwas zu bekehren. Woran jemand glaubt, ist bei ihnen allein seine Sache. Sie verhielten sich wie Anthropologen, fragten mich mit großer Neugier, woran ich glaube, und fanden meine Antworten faszinierend, aber gerieten durch meine Bekehrungsversuche nie in Zweifel über ihre eigenen Ansichten.

Wir sind Pirahã, und wir glauben nicht an Jesus. Wir wollen das nicht mehr hören. Du kannst bleiben, solange du willst, aber verschone uns mit Jesus.

profil: Wie gingen die Pirahã eigentlich damit um, dass Sie ihre Lebensweise und ihren Glauben ändern wollten? Everett: Sie nahmen mich irgendwann beiseite und sagten: "Wir mögen dich, und wir wissen, dass du an Jesus glaubst und nun einige Zeit versucht hast, uns alles über ihn zu erzählen, damit auch wir an ihn glauben. Aber wir wollen nicht wie Amerikaner sein. Wir sind Pirahã, und wir glauben nicht an Jesus. Wir wollen das nicht mehr hören. Du kannst bleiben, solange du willst, aber verschone uns mit Jesus."

profil: Wie lange dauerte es, bis Sie von Ihrem Glauben abfielen? Everett: Sechs oder sieben Jahre. Ich hatte recht bald erste Zweifel, aber wenn man ein Missionar ist, verliert man mit dem Glauben gleichzeitig seinen Beruf. Darum zögerte ich. Ich machte aber nebenbei meine Doktorarbeit in Linguistik über die Sprache der Pirahã und beschloss, vom Missionarsleben komplett zum akademischen Leben zu wechseln.

profil: Sie waren als Wissenschafter getarnt in den Amazonas gekommen, weil die brasilianische Regierung zu dieser Zeit Missionaren den Zutritt zu den indigenen Völkern verweigerte, und wurden im Urwald quasi zum echten Wissenschafter. Everett: Ich nahm zunächst an einem Doktoratsprogramm der Universität Campinas in Brasilien teil. Die Leute an der Uni wussten, dass ich eigentlich Missionar war, sie wussten aber auch, dass ich ernsthaft studierte. Ich habe bei den Pirahã Missionarsarbeit und Linguistik verbunden, indem ich ihre Sprache lernte. Das brauchte ich, um die Bibel in ihre Sprache zu übersetzen. Ich las ihnen das Evangelium nach Markus vor, aber der Text ergab überhaupt keinen Sinn für sie. Sie verstanden ihn zwar sprachlich, doch die Idee, dass etwas, was vor langer Zeit geschehen ist, für sie irgendeine Relevanz haben sollte, fanden sie absurd. Für mich war die Sache damit beendet. Ich beschloss, bei der Sprachwissenschaft zu bleiben und nicht länger an dieses religiöse Zeug zu glauben.

Andere Gruppen im Amazonas sind konvertiert, weil sie sich nach unseren materiellen Dingen sehnten, aber die Pirahã interessiert das überhaupt nicht.

profil: Hätten Sie je eine Chance gehabt, die Pirahã zum Christentum zu bekehren? Everett: Nein. Sie wurden von Missionaren schon kurz nach 1700 bearbeitet. Die Katholiken gaben sie Ende des 18. Jahrhunderts auf und meinten, die Pirahã seien die widerspenstigste Gruppe im ganzen Amazonasgebiet.

profil: Sind ihre Kultur und Denkweise dafür zu verschieden, verglichen mit der westlichen Welt? Everett: Ja, und sie sind einfach nicht abergläubisch genug. Andere Gruppen im Amazonas sind konvertiert, weil sie sich nach unseren materiellen Dingen sehnten, aber die Pirahã interessiert das überhaupt nicht. Sie sind glücklich, wie sie leben, und ich hatte ihnen nichts zu bieten.

profil: Warum dachten Sie ursprünglich, dass die Pirahã Gott und Jesus brauchen und bekehrt werden sollten? Everett: Weil ich glaubte, dass im Grunde jeder Gott kennen will und nach einem Weg sucht, durch ihn die Schwierigkeiten des Lebens zu bewältigen. Ich dachte, das sei universell. Als ich die Pirahã kennenlernte, sah ich, dass dies keineswegs so ist, sondern nur ein westlich-christliches Konzept. Heute erscheint mir das selbstverständlich, aber nach jahrelangem religiösen Training war ich vollkommen überzeugt davon, dass ich das Richtige mache. Dass ich zu den Pirahã ging, war auch eine gute Sache - aber nicht für sie, sondern für mich.

profil: Ihre Frau war auch Missionarin. Angeblich hatten Sie Probleme, ihr Ihren Atheismus einzugestehen. Everett: Ich brauchte lange, bis ich die nötige Courage aufgebaut hatte. Ich wusste, dass der Glaube für meine Frau ihr Leben war, und es war unmöglich, das zu ändern. In der Tat war es das Ende unserer Ehe. Meine drei Kinder sprachen zwei Jahre nicht mit mir. Aber nun haben wir wieder eine gute Beziehung. Meine beiden Töchter sind immer noch Christen, und mein Sohn ist Atheist und Anthropologe. Wir kommen alle wieder gut miteinander aus.

profil: Der Glaube war für Ihre Familie so wichtig, dass sie nicht akzeptieren konnte, dass Sie auf einmal anders waren? Everett: Er war das Wichtigste in ihrem Leben.

Ich realisierte, dass mein eigenes Hirn die Entscheidungen traf, dass ich meine Probleme selbst lösen musste - und nicht eine höhere Macht.

profil: So wie zuvor bei Ihnen selbst. Everett: Für viele Jahre. Ich wuchs zunächst als Atheist auf, aber mit 17 wurde ich Christ. Ich hatte Drogen genommen. Als ich konvertierte, war das für mich eine großartige Erfahrung. Ich fühlte, dass mein Leben auf einmal viel besser war. Als ich mich mit den Pirahã beschäftigte und mein Glaube ins Wanken geriet, dachte ich über alle Entscheidungen nach, die ich meinem Glauben zugeschrieben hatte. Ich realisierte, dass mein eigenes Hirn die Entscheidungen traf, dass ich meine Probleme selbst lösen musste - und nicht eine höhere Macht.

profil: Der christliche Glaube erwies sich zunächst als unnütz für die Pirahã und schließlich auch für Sie? Everett: Er spielt keine Rolle mehr in meinem Leben. Ich respektiere den Glauben anderer Leute, zögere aber nicht, wenn jemand darüber spricht, zu sagen, dass ich dies nicht plausibel finde.

profil: Sie haben also die Ansicht der Pirahã zur Bibel übernommen, wonach sie nicht mehr relevant ist? Everett: Die Geschichten in der Bibel entstanden vor 2000 Jahren, um Menschen einer Schäferkultur die Welt zu erklären. Sie haben heute einfach keine Relevanz mehr für eine moderne, wissensbasierte Kultur. Es ist wundervoll, zu denken, dass alle Probleme gelöst werden, wenn man sich niederkniet und betet, aber tatsächlich passiert das nicht. Psychologisch ist es zwar gut für uns, wenn wir beten, weil das eine Form der Meditation ist, aber es ist eine Illusion, zu glauben, dass jemand hoch oben zuhört.

profil: Lernten Sie im Amazonas-Urwald, dass jeder für sich selbst verantwortlich ist? Everett: Absolut. Jeder Pirahã weiß, dass er selbst dafür zuständig ist, auf sich aufzupassen. Die Einzigen, die ihm helfen können, sind die anderen Mitglieder seiner Gruppe. Es würde Pirahãs nie in den Sinn kommen, sich an eine übernatürliche Macht zu wenden. Sie fürchten sich auch nicht vor dem Tod. Wenn jemand stirbt, sind sie sehr traurig, akzeptieren es aber.

profil: Was denken die Pirahã, was nach dem Tod passiert? Everett: Nichts. Du bist fort. Die anderen sprechen über die Person, aber sie glauben nicht daran, dass sie nun irgendwo weiterexistiert. Die Toten sind verschwunden wie all die Tiere, die wir ständig sterben sehen. Das Leben ist für sie pure Biologie.

profil: Würden Sie dies modern nennen? Everett: In der westlichen Tradition würden wir sie als Empiriker bezeichnen, denn sie sind überhaupt nicht abergläubisch, sie sind Nominalisten. Wenn sie etwas nicht sehen, glauben sie es nicht, und sie haben eine sehr gut adjustierte Psychologie. Als ich ihnen erzählte, dass viele Amerikaner Selbstmord begehen, lachten sie.

Ich brachte einmal einen Psychologen aus den USA mit, der sagte, sie seien die glücklichsten Menschen auf der Erde.

profil: Die Pirahã lachten über einen Selbstmord? Everett: Ja, denn sie glaubten mir einfach nicht. Sie wollten unbedingt eine Erklärung dafür, warum jemand so etwas tun würde. Ich sagte ihnen, dass diese Menschen sehr traurig waren, aber das ergab überhaupt keinen Sinn für die Pirahã. Ich habe nie einen Pirahã gesehen, der auch nur ansatzweise an Depressionen litt. Ich brachte einmal einen Psychologen aus den USA mit, der sagte, sie seien die glücklichsten Menschen auf der Erde. Das könne man schon daran ermessen, wie viel Zeit sie am Tag grinsen und lachen.

profil: Wie steht es zurzeit um die Pirahã? Everett: In jüngster Zeit ist ihre Zahl leicht auf knapp 800 gewachsen. Aber die Regierung hat sie im Stich gelassen, jeder kann in ihr Land eindringen, es gibt keinen Schutz für sie. Eingeschleppte Krankheiten bedrohen sie, und ihre Sprache und Kultur sind gefährdet.

profil: Versucht noch jemand, sie zu bekehren? Everett: Meine Frau ist immer noch dort und versucht, sie zu konvertieren. Das hat natürlich noch bei keinem Einzigen funktioniert. Aber ich bewundere sie sehr dafür, weil sie ganz auf sich selbst gestellt weitermacht, eine Frau in den späten Sechzigern. Ich finde das toll, auch wenn ich offenkundig nicht mehr mit dabei sein könnte.

profil: Besuchen Sie die Pirahã noch regelmäßig? Everett: Ich arbeite gerade an einem Forschungsantrag, um Geld für einen Besuch mit sprachwissenschaftlichen Absichten aufzutreiben. Ich würde gern eine Reihe von Experimenten über ihre Sprache machen. Sie haben keine Zahlen, keine Wörter für Farben (Anm.: Sie bezeichnen die Färbung anhand von Vergleichen, etwa "so wie Blut" für Rot). Das ist sehr spannend für einen Linguisten.

profil: Wie viele Menschen abseits der Pirahã beherrschen eigentlich diese Sprache? Everett: Meine Frau, ein anderer Missionar und ich - und unsere drei Kinder, aber nur so gut, wie sie es gelernt haben, als sie klein waren. Wenn wir einander treffen und zusammensitzen, plaudern wir oft in Pirahã.

profil: Wie sagt man in Pirahã "auf Wiedersehen"? Everett: Es gibt kein "Hallo", kein "auf Wiedersehen" und kein "gute Nacht". Solche Floskeln verwenden sie nicht. Wenn man sich trifft oder zu Bett geht, ist das offensichtlich und braucht keine Worte. Manchmal warnen sie einen bloß: "Schlaf nicht zu viel, es gibt überall Schlangen."