„Der Planet wird überleben, aber für die Enkelkinder wird es ungemütlich“

Die Umweltexpertin Renate Christ hält Optimismus über den neuen Report des Klimarats für verfehlt, kritisiert gravierende Versäumnisse Österreichs und ein widersinniges Fördersystem – und nennt die Werkzeuge, mit denen wir das Schlimmste noch abwenden könnten.

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profil: Soeben wurde der letzte Teil des Sachstandsberichts des Weltklimarats IPCC veröffentlicht, der erstaunlich optimistisch klingt. In Expertenkreisen war von Lichtblicken im Klimaschutz die Rede und davon, dass alle Optionen vorhanden seien, um die Erwärmung mit 1,5 Grad zu begrenzen, sofern die Emissionen in drei Jahren den Höchststand erreichen.
Christ: Ich kann dem Optimismus überhaupt nicht zustimmen. Ich glaube, das ist eine falsch verstandene Lesart des sehr umfangreichen Berichts. Die Aussage lautet: Wir können es schaffen, dann jedoch kommt ein großes Aber. Ohne weitere Maßnahmen steuern wir auf 3,2 Grad zu, also auf eine mehr als doppelt so hohe Erwärmung, als wir wollen. Es ist wirklich dramatisch.

profil: Die öffentliche Ansage lautete: Wir haben die Mittel und das Wissen, um es zu schaffen.
Christ: Die Mittel und Technologien haben wir. Wir wissen aber auch, dass einzelne Maßnahmen nicht funktionieren, sondern nur ein Gesamtpaket. Halbherzige Maßnahmen halbieren die Emissionen nicht. Es steht deutlich im Bericht, dass es strukturelle Änderungen braucht und Möglichkeiten, klimafreundliches Verhalten überhaupt zu leben. Ein kleines Beispiel: Wir haben ein Klimaticket, aber wenn in meiner Gegend kein Bus fährt, kann ich es nicht verwenden. Oder: Städte könnten auf null Nettoemission kommen, aber nur, wenn man die Zersiedelung stoppt, den Verkehr vermindert, eine völlige Umstellung und Dekarbonisierung der Heizsysteme erreicht und wenn man den öffentlichen Raum wieder zur Bepflanzung nutzt, wobei auch Schutz vor Überflutungen oder Hitzewellen entsteht.

profil: In Wien passiert das Gegenteil. Am Stadtrand in der Donaustadt sind riesige neue Stadtteile geplant.
Christ: Genau. Und es kommen weitere Faktoren hinzu. Im Bericht ist zum Beispiel von Reduktion des Energiekonsums und nicht nur von Effizienz die Rede. Effizienz allein kann zu Rebound-Effekten führen. Vereinfacht ausgedrückt: Jetzt hab ich eine effizientere Heizung, jetzt darf ich auf 23 Grad heizen. Es geht um eine massive Reduktion des Energieverbrauchs und eine Umstellung auf erneuerbare Energieformen. Weitere Punkte sind: Fernwärmeleitungen, Einbeziehung des Umlandes, strukturelle Änderungen des öffentlichen Verkehrs und der Warenversorgung. Dann erst kann ich Verhaltensänderungen einfordern, die ich durch all die Maßnahmen erleichtern muss. Man kann den Menschen nicht bloß sagen: Macht’s halt was.

profil: Was genau müssen wir in welchem Ausmaß tun? Niemand kann sich das konkret vorstellen.
Christ: Es geht um die Begriffe avoid, shift und improve, um Vermeiden, Umstellen und Verbessern. Also etwa Flugreisen vermeiden, eine Umstellung auf öffentlichen Verkehr, eine Ernährung mit weniger Fleischprodukten und technische Erneuerungen. Man muss die Barriere zur Verhaltensänderung möglichst niedrig machen und die Infrastruktur bereitstellen, die klimafreundliches Verhalten ermöglicht. Wir müssen uns auch vor Augen halten, dass zehn Prozent der Reichsten 30 bis 40 Prozent der globalen Emissionen verursachen. Wir Wohlhabenden haben den größten Fußabdruck und zugleich das größte Potenzial, zu reduzieren.

45% beträgt die nötige Reduktion der CO2 Emissionen bis 2030, um die Temperaturerhöhung auf 1,5 Grad zu begrenzen.

2025 ist das kritische Jahr, in dem der Höchststand der CO2-Emissionen erreicht sein muss. Wir haben also noch drei Jahre Zeit.

90% beträgt die nötige Reduktion des Kohleverbrauchs bis 2030. Der Erdölverbrauch muss um 60% sinken, Gas um 40%.

2021 hat der Methanausstoß neue Rekordwerte erreicht, 2010 bis 2019 waren die Treibhausgasemissionen die höchsten der Geschichte.

85% beträgt die Kostenreduktion für Solar- und Windenergie sowie für Batterien seit dem Jahr 2010.

profil: Ich hätte es gern konkreter: Was heißt zum Beispiel weniger Fleisch: nur noch einmal in der Woche oder alle zwei Wochen einmal?
Christ: Kommt darauf an, wie es produziert wird. Was mir ständig auffällt, ist der Gedanke, Umweltschutz ist etwas, das ich mache, weil ich ein netter Mensch bin und für den Planeten Gutes tun will. Der Planet wird überleben, bloß für die Kinder und Enkelkinder wird es ungemütlich. Um den Planeten mache ich mir keine Sorgen, ich mache mir um die Lebensgrundlagen künftiger Generationen Sorgen, um Küstenstädte zum Beispiel.

profil: Es gibt Studien, die bereits dazu raten, bedrohte Küstenregionen einfach aufzugeben.
Christ: In gewissen Bereichen wie kleinen Inselstaaten wird es wahrscheinlich nur die Flucht geben. Aber generell geht es nicht um alles oder nichts.

profil: Was meinen Sie damit?
Christ: Man krallt sich am 1,5-Grad-Ziel fest, wie auch die Diskussion um den Bericht zeigt. Die vorherrschende Meinung ist: Entweder wir erreichen den Zug gerade noch oder er ist abgefahren. So ist es aber nicht. Es ist etwas Graduelles. Wenn wir die 1,5 Grad nicht erreichen, sind 1,8 Grad immer noch besser als 2,2. Nur wenn wir gar nichts machen, bewegen wir uns auf 3,2 Grad zu. Das bedeutet Trockenheit in Zentral- und Südeuropa, Überflutung von Städten in Küsten- und Flussnähe, Missernten, Todes- und Krankheitsfälle durch Hitzewellen. All das muss irgendwie in die Köpfe rein. Es dominiert aber die Vorstellung: Wenn das Hauptziel nicht erreichbar ist, lehnt man sich zurück und sagt: Wir haben halt den Zug verpasst.

profil: Wo sehen Sie am ehesten positive Entwicklungen?
Christ: Vorigen November in Glasgow, als China und Indien Netto-Nullziele verlautbart haben. Wenn diese Länder akzeptieren, dass wir netto auf null müssen, ist das im Denken und Planen ein massiver Schritt. Nur beim Handeln fehlt es noch.

profil: Das trifft bei uns auch zu.
Christ: Es werden ein paar Förderungen gemacht, aber keine Strukturänderungen. Das ist kein systemischer Ansatz, der alle relevanten Bereiche umfasst. Da haben wir in Österreich wirklich Nachholbedarf. Skandinavische Länder gehen viel systematischer vor.

profil: Noch einmal ganz konkret: Ich sitze hier in einem Haus aus den 1980er-Jahren mit Gasheizung. Was soll ich jetzt tun?
Christ: Ich bin in einem Haus, das mit Öl beheizt wurde, bis ich es übernommen habe. Ich habe Photovoltaik am Dach und eine Wärmepumpe installiert.

profil: Und Sie haben genug Strom und können ausreichend heizen?
Christ: Ich produziere im Sommer ungefähr so viel Strom, wie ich im Winter verbrauche, nur muss ich ins Netz einspeisen und dann wieder aus dem Netz kaufen. Günstigere Speichermöglichkeiten würden natürlich die Bilanz verbessern. Da fällt mir gerade ein: Ich bin vorher spazieren gegangen und habe bemerkt, dass viele Bauernhäuser hier gezählte 18 bis 21 Panele am Dach haben. Warum? Das ist genau die Menge, die gefördert wird. Aber Platz wäre für viel mehr Kapazität. Vielleicht verhindert also ausgerechnet die Förderung viele Anlagen, die viel mehr Strom erzeugen würden.

profil: Was wurde aus Wasserstoff als Energieträger?
Christ: Der neue Report schreibt ganz klar, dass direkte Verwendung des Stroms am besten ist. Bei jeder Umwandlung verliere ich Strom. Synthetische Treibstoffe verwendet man für Schiffe oder Flugzeuge, wo es nichts Besseres gibt, Wasserstoff hauptsächlich für die Industrie.

profil: Weil man fossile Energie dort nicht so leicht ersetzen kann?
Christ: Es geht in manchen Bereichen um die Energiedichte. Bestimmte Temperaturen lassen sich mit Strom nicht erreichen. Da spielt Wasserstoff eine Rolle. Bei der Nutzung als Energiespeicher gibt es aber beträchtliche Verluste. Im Bericht steht, man hofft, dass man bei der Stromspeicherung über Wasserstoff bis 2030 eine Effizienz von 50 Prozent erreicht. Jetzt liegen wir also wesentlich darunter. Bei anderen Bereichen, vor allem beim Energiebedarf im Haushalt, wissen wir zumindest, wie es geht. Im Energiesektor sind die Technologien vorhanden, global verfügbar und billiger geworden. Da haben wir die Werkzeuge in der Hand.

profil: Dann gehen wir die Punkte doch Schritt für Schritt durch. In welchen Bereichen müssen wir welche Maßnahmen umsetzen?
Christ: Beim Heizen geht es um Elektrifizierung und den nachhaltigen Einsatz von Bioenergie, zum Beispiel in Form von Pelletsheizungen.

profil: Womit heizen wir Wien? Mit Strom?
Christ: Mit Großwärmepumpen, mit Tiefenwärme zum Beispiel. Effizienzsteigerung ist auch hier zu wenig. Eine hocheffiziente Gastherme hilft nicht, die emittiert trotzdem CO2.

profil: Die Regierungen müssten die Menschen aber zwingen, bei all dem mitzumachen.
Christ: Man muss die regulatorischen Rahmenbedingungen schaffen und auch durchsetzen. Wie die Ölheizungen müssen auch Gasheizungen schrittweise verboten werden. Natürlich muss man Alternativen schaffen und die notwendige Infrastruktur bereitstellen. Ich kann aber nicht die Wahl lassen, eine Gastherme zu behalten oder nicht. Es muss einen Anschlusszwang an erneuerbare Energieformen geben.

profil: Und zwar schnell, wie alle Daten zeigen.
Christ: Ja, sicher. Und man darf das Geld nicht verplempern, sondern muss ganz gezielt Leute unterstützen, die sich die Zusatzkosten für die Umstellung nicht leisten können. Im Moment ist es aber bei uns wie eine große Gießkanne. Es geht nicht mehr mit freiwilligen Maßnahmen, so schafft man die Transformation nicht.

profil: In der Pandemie ist die Regierung an einfachsten Verordnungen gescheitert. Und jetzt soll sie dieses viel komplexere Vorhaben stemmen?
Christ: Es nützt aber nichts. Im IPCC-Report wird ein Vergleich gebracht: Wenn wir das Problem auch nur verzögert angehen, sind jährliche Einschränkungen nötig, wie wir sie im ersten Pandemiejahr hatten. Das zeigt die Dimension dessen, was notwendig ist.

profil: Ich sehe schon Horden von Menschen durch die Straßen rennen, die Klimadiktatur schreien.
Christ: Ja, aber man muss eine Kostenrechnung vermitteln: Die Eindämmungsmaßnahmen sind wesentlich günstiger als die Kosten für Klimaschäden. Wir sind auch wirtschaftlich besser dran, wenn wir zumindest unter zwei Grad bleiben, weil die Kosten für die Schäden enorm wären.

profil: Sie denken, dass das theoretisch möglich ist?
Christ: Ja, aber wir müssen den Verbrauch reduzieren, und zwar massiv. Es muss natürlich immer die nötige Infrastruktur geschaffen werden, sei es im Verkehr oder auch in der Architektur. Man darf zum Beispiel nicht so bauen, dass in der wärmeren Zeit massiver Stromverbrauch durch Klimaanlagen entsteht, sondern so, dass Behaglichkeit zu jeder Jahreszeit gewährleistet ist. Das sind Dinge, die zu kurz kommen in der Planung.

profil: Sollte man Klimaanlagen bei uns verbieten?
Christ: Verbieten wird man sie nicht können. Viele Gebäude sind ja so konstruiert, dass man sie braucht. Man kann aber vorschreiben, dass so gebaut werden muss, dass keine Klimaanlagen erforderlich sind. Genauso muss schon bei der Raumplanung darauf geachtet werden, welche Mobilitätsbedürfnisse dadurch verursacht werden. Und es muss ein so niederschwelliges Angebot an öffentlichem Verkehr geben, dass die Umstellung bequem und attraktiv ist.

profil: Und leistbar. Bahntickets auf manchen Strecken muss man sich erst leisten können.
Christ: Ja, sicher. Man muss den Menschen klimafreundliches Verhalten ermöglichen. Bei Fahrten, die nicht vermeidbar sind, ist heute ganz klar das E-Auto das Modell der Wahl.

profil: Zusätzlich gibt es ja auch die Idee, Kohlendioxid wieder aus der Atmosphäre zu holen.
Christ: Um die Temperatur zu stabilisieren, müssen die CO2-Emissionen netto auf null sinken. Dazu braucht es sogenannte negative Emissionen, um schwer vermeidbare Emissionen zu kompensieren. Es gibt dazu neben biologischen Möglichkeiten wie Aufforstung technische Maßnahmen zum Carbon dioxid removal, also die Möglichkeit, Kohlendioxid zu speichern oder zu neuen Produkten wiederzuverarbeiten. Die Implementierung hinkt den Modellen aber hinterher. Die Anlagen, die tatsächlich in Betrieb sind, sind weit unter dem Level, der in den Szenarien angenommen wird.

profil: Wenn man sehr, sehr konsequent alles macht, was uns technologisch zur Verfügung steht, haben wir dann eine Chance? Was ist Ihre Einschätzung?
Christ: Bis Mitte Februar war ich eher optimistisch. Die reflexartige Reaktion auf die Krise in der Ukraine hat mich aber eher zur Annahme geführt, dass wir unbedingt an unserem derzeitigen Status quo festhalten wollen. Den IPCC-Bericht sehe ich ja auch nicht in dem Sinn positiv, dass er sagen würde, wir schaffen es problemlos. Er besagt, wir können es schaffen, wenn wir sehr konsequent eine ganze Reihe von Maßnahmen setzen. Eine Silver-bullet-Technologie gibt es nirgends.

Renate Christ, 68

zählt zu den führenden Klima- und Umweltexpertinnen Österreichs. Die studierte Biologin leitete von 2004 bis 2015 das Sekretariat des Weltklimarates IPCC und fungierte als Koautorin mehrerer Klimaberichte. In ihre Amtszeit fiel auch die Verleihung des Friedensnobelpreises an den Weltklimarat. Seit ihrer Pensionierung hält Christ unter anderem Vorträge, um Aufklärungsarbeit zum Thema Klimawandel zu leisten.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft