Krebs: Warum immer öfter junge Menschen erkranken
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Die Daten sind beunruhigend und teils rätselhaft. Anfang August erschien eine große Studie eines amerikanisch-kanadischen Forscherteams, die die Entwicklung von Krebserkrankungen in Bezug auf das Geburtsjahr der Betroffenen untersuchte. Die Ergebnisse scheinen allen gängigen Annahmen zu widersprechen: Denn eine Reihe von Krebsarten tritt demnach bei immer jüngeren Personengruppen erheblich öfter auf – und mit jeder Generation prägt sich dieser Trend deutlicher aus. So sind 1990 Geborene zwei- bis dreimal häufiger mit den Diagnosen Dünndarm-, Nieren- und Bauchspeicheldrüsenkrebs konfrontiert als Menschen des Jahrgangs 1955, als diese im selben Alter waren.
„Heute hat eine Frau in ihren Dreißigern ein höheres Risiko einer Krebsdiagnose als ihre Großmutter im selben Alter vor zwei Generationen“, konstatiert das Fachjournal „Scientific American“. „Bei jungen Erwachsenen finden sich auf einmal Krebsdiagnosen, die früher eher bei älteren Personen gestellt wurden“, sagt Caroline Hutter, ärztliche Direktorin des St. Anna Kinderspitals und Professorin für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie an der Medizinischen Universität Wien. „Hier hat sich offenbar massiv etwas verändert.“
Bei jungen Erwachsenen finden sich auf einmal Krebsdiagnosen, die früher eher bei älteren Personen gestellt wurden. Hier hat sich offenbar massiv etwas verändert.
Typischerweise gilt Krebs bei Erwachsenen als Erkrankung des Alters. Im Lauf der Lebensjahre sammeln sich durch Mutationen, Umwelteinflüsse und die Folgen von Lebensgewohnheiten DNA- und Zellschäden an, die eines Tages zu Krebswachstum führen können. Die neue Arbeit folgert nun: „Die Krebsraten stiegen sukzessive in den jüngeren Generationen für 17 der 34 untersuchten Krebsarten“, schreibt das Autorenteam, das von einem „signifikanten Geburtskohorten-Effekt“ spricht – einem Generationenproblem. Anders ausgedrückt: Angehörige jüngerer Generationen haben ein höheres Krebsrisiko als Gleichaltrige in früheren Zeitabschnitten.
Auf eine mangelnde Qualität der Studie, die im renommierten Medizinjournal „The Lancet“ erschien, sind die irritierenden Ergebnisse kaum zurückzuführen. Die untersuchten Datensätze sind riesig, die statistischen Methoden komplex: Die Forschenden werteten Patientenakten von 23,6 Millionen Amerikanern aus, die zwischen den Jahren 2000 und 2019 eine von 34 Krebsdiagnosen erhalten hatten. Insgesamt wurden Geburtsjahrgänge zwischen 1920 und 1990 berücksichtigt – von der „Greatest Generation“ über die „Silent Generation“ und die „Generation X“ bis zu den „Millennials“.
Die Millennials, eine gefährdete Gruppe
Diese Altersgruppen gliederten die Forschenden in Geburtskohorten zu je fünf Jahren. Solche Kohorten waren etwa Menschen, die zwischen 1945 und 1950 oder zwischen 1980 und 1985 geboren wurden. Dann ermittelten sie, wie sehr sich im Untersuchungszeitraum die Krebsraten der jeweiligen Geburtskohorte veränderten. Dabei zeigte sich bei 17 der 34 einbezogenen Krebsarten ein stärkerer Anstieg bei den Millennials (geboren 1980 bis 1995) als etwa bei den Babyboomern (1946 bis 1964). Acht dieser 17 Krebsarten wurden von Generation zu Generation häufiger, bei neun zeigt sich nach einem Rückgang nun ein neuerlicher Anstieg.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Das heißt nicht, dass unter Älteren weniger Krebsfälle auftreten als unter Jüngeren. Das Gros aller Krebserkrankungen entfällt nach wie vor auf spätere Jahrgänge. Aber: Die Forschergruppe wollte herausfinden, wie sich das Krebsrisiko vergleichbarer Personen in verschiedenen Generationen entwickelte. Daher bereinigte sie die Daten mittels statistischer Modelle um Alterseffekte und fragte: Um wie viel größer ist etwa das Risiko einer heute 30 Jahre alten Person, eine Krebsdiagnose zu erhalten, als jenes einer gleich alten Person vor zwei, drei oder fünf Jahrzehnten?
Als Referenzjahr für einen Anstieg oder Rückgang der Krebsraten wurden Angehörige des Jahrgangs 1955 gewählt, also die Mitte der Geburtskohorten. Im Vergleich dazu stieg bei einer Person des Geburtsjahres 1990 die Wahrscheinlichkeit, die Diagnose Dünndarmkrebs zu erhalten, fast um den Faktor vier, das Risiko für Schilddrüsenkrebs war mehr als dreifach erhöht, jenes für Bauchspeicheldrüsen- oder Nierenkrebs war mehr als doppelt so hoch. Es fanden sich aber auch Krebsarten, deren Häufigkeit über die Zeit sank, etwa Lungen- und Gebärmutterhalskrebs – vermutlich aufgrund geringeren Tabakkonsums sowie dank der HPV-Impfung.
Könnte es aber nicht sein, dass die Studie trotz der enormen Datenbasis nur bedingt repräsentativ ist, weil sie lediglich Trends in den USA abbildet, wo möglicherweise regionale Umstände die Krebsraten emportreiben? Eher nein: Denn die amerikanische Arbeit ist zwar die aktuellste, doch auch Studien aus anderen Ländern gelangen zu ähnlichen Resultaten. Das „British Medical Journal“ (BMJ) publizierte im Frühjahr 2023 einen Fachartikel, der die Entwicklungen von 29 Krebsarten in mehr als 200 Ländern weltweit untersuchte. Die Unterschiede zwischen den Ländern – etwa zwischen Saudiarabien und dem Baltikum – waren zwar teils gewaltig, doch der generelle Trend war derselbe wie in den USA: Besonders bei den unter 50-Jährigen, so die Conclusio, sei der Anstieg der Krebsraten deutlich. Zwischen 1990 und 2019 hätten die Diagnosen in dieser Altersgruppe um beinahe 80 Prozent zugenommen, besonders bei Brustkrebs. Bis 2030 wird ein weiterer Anstieg um rund 30 Prozent prognostiziert.
Junge Krebspatienten in Europa
Auch für Europa liegt eine vergleichbare Untersuchung vor. Sie stammt zwar schon aus dem Jahr 2019, schließt aber die beeindruckend große Zahl von mehr als 140 Millionen Personen aus 20 Ländern ein, allerdings ohne Österreich. Die Studie, ebenfalls im BMJ erschienen, konzentrierte sich speziell auf die Entwicklung der Darmkrebsraten nach Alter – und kam zu einem ernüchternden Ergebnis: „Der schnellste Anstieg zeigt sich in den jüngsten Altersgruppen.“ Ein besonderer Vorteil dieser Arbeit ist, dass sie nicht Prozentzahlen ausweist, sondern viel anschaulichere absolute Zahlen: Krebsfälle pro 100.000 Personen.
Unter 20- bis 29-Jährigen stieg die Zahl der Darmkrebsdiagnosen zwischen 1990 und 2016 von 0,8 auf 2,3 Fälle pro 100.000. In der Gruppe der 30- bis 39-Jährigen kletterte dieser Wert im selben Zeitraum von 3,7 auf 7,1 Fälle, bei den 40- bis 49-Jährigen von 15,5 auf 19,2. Besonders zwölf europäische Länder waren stark betroffen: Belgien, Deutschland, die Niederlande, Großbritannien, Norwegen, Schweden, Finnland, Irland, Frankreich, Dänemark, Tschechien und Polen. Der Fokus auf Darmkrebs kommt nicht von ungefähr: Daten der American Cancer Society zufolge ist diese Krebsvariante bei Männern unter 50 Jahren inzwischen die Haupttodesursache durch Krebs und bei Frauen dieses Alters die zweithäufigste.
Am Beispiel Darmkrebs zeigt sich außerdem erneut, dass man nicht dem Trugschluss aufsitzen sollte, dass Krebs unter jüngeren Menschen häufiger ist als unter älteren: Generell leiden europaweit quer durch alle Altersgruppen (je nach Land) 50 bis 90 pro 100.000 Personen an Darmkrebs, doch besorgniserregend ist der Anstieg bei jüngeren Gruppen – einer Krankheit, die unter 50 Jahren nach bisheriger Ansicht kaum eine Rolle spielte. „Wir können Krebs nicht länger als eine Krankheit der Älteren betrachten“, so „Scientific American“. „Aber was geschieht hier? Die alarmierenden Statistiken verlangen nach Antworten.“
Übergewicht als ein Hauptverdächtiger
Bloß: Wie lauten diese Antworten? Im Grunde gibt es bisher keine hinlängliche Erklärung für die beobachteten Phänomene, wie die Autoren sämtlicher Studien betonen. Allerdings kennt man Hinweise und einzelne Einflussfaktoren, die von Bedeutung sein könnten, allen voran Übergewicht und Adipositas. In der aktuellen US-Studie waren zehn der 17 unter jüngeren Personen gehäuft auftretenden Krebsarten mit Übergewicht assoziiert, darunter Darm-, Nieren- und Gallenblasenkrebs. Die Gründe für diesen Zusammenhang sind nicht endgültig geklärt, inzwischen weiß man aber, dass Adipositas zu chronischen Entzündungen und Störungen des Hormonhaushalts führen kann. Weiters dürfte eine Rolle spielen, dass „Übergewicht die Immunantwort gegen Tumore beeinträchtigen kann“, erklärt Onkologin Caroline Hutter. „Eine aktuelle Studie an Mäusen zeigte, dass Adipositas die Funktion bestimmter Lymphozyten im Tumor beeinträchtigt.“
Ein einzelner Faktor kann die bedenklichen Krebstrends allerdings nicht erklären, vermutlich ist eine ganze Reihe von Ursachen im Spiel. Fast alle Einflüsse, die im Moment diskutiert werden, haben mit dem modernen Lebensstil zu tun: Bewegungsmangel wird ebenso ins Treffen geführt wie hoher Zuckerkonsum, etwa in Softdrinks, und allgemein prozessierte oder hoch verarbeitete Lebensmittel – im Wesentlichen Fertignahrung, die in den USA heute rund 60 Prozent aller Kalorien ausmacht. Eine Vermutung sei, so Hutter, dass Zusätze wie Stabilisatoren und Emulgatoren darin negative Auswirkungen auf das menschliche Mikrobiom haben, jenen gigantischen Zoo aus Mikroorganismen, der den ganzen Körper, besonders den Darm, besiedelt und mit einer Vielzahl von Erkrankungen in Verbindung stehen dürfte und bestenfalls in Ansätzen verstanden ist. Dass nachteilige Veränderungen des Mikrobioms – beeinflusst etwa durch die Ernährung oder Antibiotika – ein Schlüssel zur Krebsentstehung sein könnten, wird in den meisten Studien zum Thema breit debattiert.
Erörtert werden aber ebenso Treiber wie Umweltchemikalien, Mikroplastik oder Schlafgewohnheiten. Mitwirken dürfte zudem der Umstand, dass dank verbesserter Diagnostik Krebs heute oft früher entdeckt wird als vor einigen Jahrzehnten – was sich statistisch in Diagnosen in jüngeren Jahren niederschlägt.
Der genauen Ursachenfindung werden sich mit Sicherheit zahlreiche Studien in den kommenden Jahren widmen. Eine Lehre lässt sich aus den neuen Daten jedoch schon jetzt ziehen: „Sie müssen zur Kenntnis nehmen: Auch wenn Sie unter 50 sind, sind Sie nicht zu jung, um Krebs zu bekommen“, formuliert Karen E. Knudsen, Leiterin der American Cancer Society. Es werde vielleicht notwendig sein, das empfohlene Alter für Früherkennungsuntersuchungen anzupassen – damit sich unter 50-Jährige nicht in trügerischer Sicherheit wiegen.
Alwin Schönberger
Ressortleitung Wissenschaft