Eine Folge des El Niño im Winter 2015/16 vor der Küste Kaliforniens.
Wissenschaft

Meteorologe erklärt: Müssen wir uns vor El Niño fürchten?

Der berühmte Meteorologe Mojib Latif über ein folgenschweres Wetterphänomen und weshalb er bei der Klimawende auf die Profitgier des Menschen zählt.

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Seit Juni wird vor dem El-Niño-Phänomen gewarnt. Doch in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gab es auch öfter Fehlalarme. Was macht Sie so sicher, dass es nicht wieder so ist?
Latif
Ich muss widersprechen: Öfter war das nicht. 2014 hatten wir eine Situation, die der aktuellen ähnlich war, aber etwas früher im Jahr stattfand. Damals dachten wir alle, da baue sich ein gigantischer El Niño auf. Aber dann kam es zu zufälligen Windschwankungen, von denen viele kurz hintereinander folgten, und der El Niño fiel aus. Er kam dann ein Jahr später. In den letzten Jahrzehnten haben wir Vorhersagemodelle entwickelt, die wir mit aktuellen Daten füttern. Damit können wir Monate im Voraus simulieren, ob es einen El Niño geben wird. Es sieht aus, als ob es heuer ein relativ starkes Ereignis werden wird.
Forscher der Universität Maryland kommen in ihren Modellrechnungen zu dem Schluss, dass das Phänomen in diesem Jahr eher im Sand verlaufen wird und erst 2026 ein großes El-Niño-Jahr wird. Ist das Kaffeesatzleserei?
Latif
Die Vorhersagen sind bis zu sechs Monate im Voraus ganz gut. Aber alles, was danach kommt, ist schon ein wenig Kaffeesatzleserei. Ich kann im Moment keine Anzeichen dafür erkennen, dass dieses Ereignis schwächeln wird.
El Niño ist spanisch und heißt „der Bub“ oder auch „das Christkind“. Wie kommt das Phänomen zu diesem Namen?
Latif
Weil es meist zu Weihnachten auftritt. Schon vorletztes Jahrhundert haben die Küstenfischer vor Südamerika gemerkt, dass alljährlich zur Weihnachtszeit die Fische weniger wurden oder sogar ganz ausblieben. Den Fischern ist auch aufgefallen, dass diese Ereignisse in manchen Jahren besonders stark sind.
Zu El Niño gehört auch ein anderes Phänomen: La Niña, das Mädchen. Was bewirkt es?
Latif
Wir müssen uns den beschriebenen Zyklus wie ein Pendel vorstellen: Auf der einen Seite haben wir das heiße Extrem El Niño. Und dann hat man vor einigen Jahrzehnten gemerkt, dass es auch ein kaltes Extrem gibt, welches man La Niña genannt hat. Das System schwankt zwischen den beiden Extremen hin und her.
 
 
Was genau passiert bei El Niño?
Latif
Die wichtigste Veränderung ist die Erwärmung des tropischen Pazifiks an der Oberfläche. Vor der Küste Südamerikas hat man normalerweise relativ kalte Wassertemperaturen von unter 20 Grad. Nur im Westen, in der sogenannten Südsee, gibt es Wassertemperaturen von bis zu 30 Grad. Bei El Niño nimmt der Auftrieb des kalten Wassers an die Oberfläche ab, deshalb erwärmt sich auch der Rest des Pazifiks sehr stark. Er wirkt dann wie eine gigantische Heizplatte – was die weltweite Zirkulation in der Atmosphäre durcheinanderbringt. Für die Fische hat das fatale Folgen: Weil der Auftrieb aus der Tiefe ausbleibt, bleiben auch die Nährstoffe aus. Während El Niño gibt es häufig ein Massensterben unter Fischen.
Warum passiert das alles?
Latif
Das kann man nicht so genau sagen. Jedenfalls aber interagieren die Meere konstruktiv mit der Atmosphäre, sie stehen in einer Wechselwirkung. Der dadurch entstehende Zyklus, den wir El Niño nennen, taucht relativ periodisch alle vier Jahre auf. Aber weil die Natur chaotisch ist, kann man eigentlich gar keinen Anfang und kein Ende definieren.
 

Wir können heuer oder spätestens nächstes Jahr wieder globale Temperaturrekorde erwarten.

Diesen Sommer wurde nun offiziell das El-Niño-Jahr 2023/24 verkündet. Wie stellt man das fest?
Latif
Die NOAA, die Wetter- und Ozeanografie-Behörde der USA, hat ein einfaches Kriterium festgelegt: Sie misst die Temperaturen an der Meeresoberfläche in einer bestimmten Region. Überschreitet die Temperatur drei Monate lang einen bestimmten Schwellenwert, dann ruft die NOAA einen El Niño aus. Wenn wie heuer schon im Frühsommer eine so starke Entwicklung zu beobachten ist, dann ist diese kaum noch zu stoppen. Im Winter ist dann der Höhepunkt zu erwarten.
Es gibt unterschiedliche Ausprägungen des Phänomens. Kann man die Stärke voraussagen?
Latif
Es sieht aus, als ob es ein relativ starker El Niño werden wird. Aber vorhersagen kann man die Stärke nur sehr schlecht, weil es immer zufällige Windschwankungen gibt. Diese können dafür sorgen, dass ein El Niño sehr stark anfängt und sich abschwächt. Oder umgekehrt. Da gibt es doch noch einige Forschungsarbeit zu leisten.
Nehmen wir an, El Niño kommt wie prognostiziert. Wird er die Erderhitzung weiter befeuern?
Latif
Das muss man getrennt voneinander betrachten. Die Erderwärmung läuft, und obendrauf kommen dann die kurzfristigen und natürlichen Schwankungen. Wir haben in der Vergangenheit tatsächlich gesehen, dass Rekordjahre hinsichtlich der globalen Mitteltemperatur sehr häufig auch El-Niño-Jahre gewesen sind. Der Grund: In diesen Jahren erwärmt sich tatsächlich nicht nur der tropische Pazifik, sondern in der Folge erwärmen sich auch der tropische Indische Ozean und Teile des tropischen Atlantiks. Wir können heuer oder spätestens nächstes Jahr wieder globale Temperaturrekorde erwarten.
Bremsen kann El Niño die Erderhitzung also nicht?
Latif
Nein, aber das Gegenphänomen La Niña kann die Erwärmung maskieren oder vielleicht sogar dämpfen. Man kann sich das vorstellen, wie wenn man einen Berg erklimmen möchte: Die meiste Zeit geht es bergauf. Nur hin und wieder geht man auch bergab – das wäre dann ein La-Niña-Ereignis. Im Mittel geht man aber immer bergauf.

Wenn Sie mich zum König der Welt machen würden, hätte ich es in spätestens 20 Jahren geschafft, die Erderwärmung zu stoppen.

Dieser Sommer bricht wieder alle Hitzerekorde in Europa. Ist El Niño schuld?
Latif 
Nein. Der Hauptgrund ist die globale Erwärmung, die jetzt wirklich Fahrt aufgenommen hat. Wenn man den Zustand der globalen Erwärmung bewerten möchte, schaut man am besten auf den Wärmegehalt der Ozeane: Die Temperatur der oberen 2000 Meter in den Ozeanen geht praktisch nur nach oben. Da gibt es kaum Schwankungen. Und dann kommen eben an der Oberfläche kurzfristige Schwankungen wie El Niño und La Niña dazu. Die Wahrscheinlichkeit für längere Hitzewellen, extreme Trockenheit und sintflutartige Niederschläge steigt. Was wir gerade erleben, ist die Folge der schon seit Jahrzehnten laufenden Erderwärmung.
Auch im Atlantik wurden zuletzt Rekordtemperaturen gemessen.
Latif
Mit El Niño hat das nichts zu tun, sondern mit der globalen Erwärmung.
Der Golfstrom beschert Europa ein mildes Klima. Kürzlich gab es Aufregung um eine Prognose, die seinen Kollaps für Mitte dieses Jahrhunderts voraussagt. Wie wahrscheinlich ist das?
Latif
Es gibt hier eine recht große Unsicherheit. Strömungsmessungen im Atlantik gibt es erst seit etwa 20 Jahren. Das ist schlicht zu kurz, um über einen langfristigen Trend Aussagen zu treffen. Außerdem unterscheiden sich die Resultate verschiedener Modelle sehr stark voneinander.
Was würde passieren, wenn es den Golfstrom nicht mehr gäbe?
Latif
In Europa würde es etwas weniger warm werden, zu einer Eiszeit käme es aber nicht. Allerdings würden die Meeresspiegel im Nordatlantik stärker steigen als im globalen Durchschnitt.
Welche Weltregionen leiden am meisten unter El Niño?
Latif
Auf der einen Seite haben wir extreme Trockenheit in Südostasien, was immer wieder Waldbrände und Smog auslöst. Wenn ein El-Niño-Ereignis relativ früh beginnt, wie es heuer der Fall ist, können die Monsunregen schwach ausfallen, was zu Hunger in den betroffenen Regionen führen kann. Auf der anderen Seite des Pazifiks, in Südamerika, haben wir sintflutartige Niederschläge. Und dann ist auch Nordamerika betroffen: Es gibt dieses berühmte Lied „It never rains in Southern California“, aber bei El Niño kommen die Tiefs doch Richtung Südkalifornien. In Florida kann es sogar Frost geben. Umgekehrt hat man sehr warme Bedingungen in Kanada. Das südliche Afrika leidet meistens unter einer Dürre. Dass alles genau so kommt, ist keineswegs sicher. Aber im statistischen Mittel sind das die Folgen eines El Niño.

Wie kann es zu teuer sein, den Planeten lebensfreundlich zu halten?

Müssen wir uns hier in Mitteleuropa vor El Niño fürchten?
Latif
Eher weniger. Bei ganz starken Ereignissen kann es schon passieren, dass auch das südliche Europa von Dürren betroffen ist. Aber so weit reicht der Atem von El Niño im Allgemeinen nicht – obwohl man in den Medien durchaus Gegenteiliges lesen kann.
Wie stark wirkt sich El Niño auf die Weltwirtschaft aus?
Latif
Als ich meine Doktorarbeit geschrieben habe, kam ein Manager des Reinigungsmittel- und Kosmetikherstellers Henkel zu mir und zeigte mir eine Grafik mit der Entwicklung des Kokosöl-Preises. Man sah zwei gewaltige Ausschläge nach oben, und das waren El-Niño-Jahre. Er wollte wissen, ob man das vorhersagen könnte.
Konnten Sie dem Manager helfen?
Latif
Ich hätte ihm helfen können. Er wollte mir ein Vorhersagemodell abkaufen, aber ich fand es zu der Zeit noch nicht ausreichend belastbar. Ich habe ihn an einen amerikanischen Kollegen verwiesen, der ihm ein Modell verkauft hat.
Und viel Geld damit verdient hat?
Latif
Vermutlich.
Die Auswirkungen von El Niño auf die Weltwirtschaft sind insgesamt massiv.
Latif
Wenn dort, wo normalerweise Regen fällt, auf einmal keiner fällt, dann ist das ein Drama für die Landwirtschaft. Umgekehrt ist es ähnlich, wenn es auf einmal in der Wüste sintflutartige Niederschläge gibt. Und wenn die Fische ausbleiben, der Fischfang einbricht, sterben in der Folge auch Seevögel. Dann kommt die Guano-Produktion, also die Dünger-Produktion zum Erliegen. All das sind natürlich enorme wirtschaftliche Schäden.

Der Einstieg in diese Climate-Engineering-Maßnahmen wäre für mich eine Bankrotterklärung der Menschheit.

Zudem steigen die CO2-Emissionen weiter an. Haben Sie noch Hoffnung, dass wir die Kurve kriegen?
Latif
Da schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Als Wissenschafter schaue ich mir die Zahlen an, und die sehen nicht gut aus. Wir sind ja jetzt schon bei einer Erwärmung von knapp 1,2 Grad. Wir wollen die 1,5 Grad nicht überschreiten. Wenn die Entwicklung so weitergeht wie in den letzten Jahrzehnten, hätten wir die 1,5 Grad schon in gut zehn Jahren überschritten.
Und wofür schlägt das andere Herz?
Latif
Man kann ohne Hoffnung nicht leben. Es gibt die technologischen Möglichkeiten, das Klimaproblem zu lösen. Wir haben ja genug erneuerbare Energie. Wir müssen nur einen winzigen Bruchteil der Sonnenenergie, die auf die Erde fällt, nutzen. Letzten Endes ist eine Frage des Preises. Ich kann nicht begreifen, warum ich immer wieder seitens der Politik hören muss, die Energiewende sei zu teuer. Wie kann es zu teuer sein, den Planeten lebensfreundlich zu halten? Wenn Sie mich zum König der Welt machen würden, hätte ich es in spätestens 20 Jahren geschafft, die Erderwärmung zu stoppen.
Wie würden Sie das anstellen?
Latif
Aus der Geschichte wissen wir, der technologische Wandel passiert immer extrem schnell. Denken Sie etwa an den Umstieg vom Pferdewagen aufs Automobil. Oder vom Festnetz- zum Mobiltelefon. Ich glaube, wenn die Menschen merken, dass sie enorm profitieren können von einer Energiewende, dann gibt es kein Halten mehr. Da ist der Kapitalismus tatsächlich auch goldrichtig. In dem Moment, wo man Geld verdienen kann, gibt es auch Innovation.
Was halten Sie von technologischen Eingriffen ins Klima, wie etwa solares Geoengineering, bei dem man Partikel in die Atmosphäre bringen würde, um die Erde zu kühlen?
Latif
Ich sehe hier enorme Risiken. Das Erdsystem ist so komplex, dass wir nicht in allen Details berechnen können, wie sich solche Technologien auswirken. Wenn wir zum Beispiel Partikel in die Atmosphäre bringen würden, dann hätten wir keinen Grund, CO2 einzusparen. Das Problem: Weil das CO2 Jahrhunderte in der Atmosphäre verbleibt, müssten wir diese Maßnahmen auch über eine so lange Zeit fortführen. Würden wir damit aufhören, käme es zu einer spontanen Wiedererhitzung der Erde. Ich bin strikt dagegen, weil es ja die Möglichkeit gäbe, nachhaltig tatsächlich das Problem zu lösen, indem wir kein CO2 mehr ausstoßen. Hier sind Leute aus der fossilen Industrie unterwegs, die uns glauben machen wollen, dass man mit solchen Methoden tatsächlich arbeiten kann.
Es werden auch andere Methoden besprochen. Sehen Sie da welche, die weniger risikoreich wären?
Latif
Die einzige Methode, die ich befürworte, die aber bei Weitem nicht ausreicht, ist die Renaturierung, also die Aufforstung von Wäldern. Alles andere steckt in den Kinderschuhen. Und deswegen wäre für mich persönlich der Einstieg in diese Climate-Engineering-Maßnahmen eine Bankrotterklärung der Menschheit.
Franziska   Dzugan

Franziska Dzugan

schreibt für das Wissenschaftsressort und ist Moderatorin von tauwetter, dem profil-Podcast zur Klimakrise.

Christina   Hiptmayr

Christina Hiptmayr

ist Wirtschaftsredakteurin und Moderatorin von "Vorsicht, heiß!", dem profil-Klimapodcast (@profil_Klima).