Wissenschaft

Spermienkrise: Werden Männer unfruchtbar?

Studien zeigen, dass Männer immer weniger Spermien produzieren. Ist die Menschheit vom Aussterben bedroht? Was die Befunde bedeuten – und warum Samen ein wichtiger Gesundheits-Indikator sein könnte.

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Die Nachricht verbreitete sich im Eiltempo um die Welt, sorgte für Schlagzeilen und ausgiebige Debatten in sozialen Medien. Besonders jüngere Menschen, die an Familiengründung dachten, fragten sich besorgt, was die neuen Daten für sie persönlich bedeuten könnten. Deren zentrale Botschaft lautete immerhin: Die männliche Fruchtbarkeit ist im Schwinden begriffen. Denn die Spermienkonzentration sei in den vergangenen Jahrzehnten um mehr als die Hälfte gesunken. Von einer „Spermienkrise“ war die Rede, sogar von einem „Spermageddon“. Teils wurde spekuliert, ob die Menschheit vom Aussterben bedroht sei.

Was war geschehen? Die Aufregung lässt sich auf zwei Studien zurückführen, die vom selben Forscherteam stammen: einer achtköpfigen Wissenschaftergruppe um Hagai Levine von der medizinischen Fakultät der Hebrew University of Jerusalem. Die erste Publikation erschien bereits im Sommer 2017. Die zweite stellt eine Erweiterung und Aktualisierung dar, wurde im November des Vorjahres im Fachjournal „Human Reproduction Update“ veröffentlicht und sorgt seit damals für Gesprächsstoff.

Das Ziel von Levine und seines Teams war ein Vergleich der Spermienzahl im männlichen Ejakulat über die Jahrzehnte, verbunden mit der Frage, ob die Fruchtbarkeit der Männer in aller Welt über die Zeit abnehme. Diesen Verdacht hatten andere Studien bereits zuvor geäußert, doch sie waren zu alt, zu klein oder methodisch zu schwach für solide Aussagen. Daher führten die Forschenden nun eine Metastudie durch: eine systematische Zusammenschau der besten bisherigen Arbeiten zu dem Thema.

Es war ein aufwendiger Job: In der ersten Runde sichteten sie rund 7500 Studien, von denen letztlich 185 aus den Jahren 1973 bis 2011 in die Auswertung einflossen. Die Arbeiten umfassten fast 43.000 Männer aus 50 Ländern. Alle anderen Studien schieden aus, um eine bestmögliche Vergleichbarkeit der Daten zu gewährleisten und Verzerrungen der Daten zu vermeiden – etwa durch unterschiedliche Messverfahren der Spermienzahl, Vorerkrankungen der Probanden und andere Faktoren, welche die Ergebnisse verfälschen könnten. Die zweite Studie schrieb die Analysen bis ins Jahr 2018 fort, umfasste nun 288 Studien aus 53 Ländern und schloss nicht nur Männer aus der westlichen Welt ein, sondern zusätzlich solche aus Asien, Afrika und Südamerika, in Summe 57.000 Personen.

Signifikanter Rückgang der Spermienzahl

Das Resultat beider Metastudien ist so eindeutig wie beunruhigend: Über die Jahrzehnte ist ein kontinuierlicher und signifikanter Rückgang des Spermiengehalts zu beobachten. Pro Milliliter Samenflüssigkeit sank die Spermienzahl seit den 1970er-Jahren um mehr als 50 Prozent. Enthielt ein Milliliter zu Beginn des Erhebungszeitraums etwas mehr als 100 Millionen Spermien, waren es 2018 nur noch 49 Millionen. Diese Entwicklung tritt zudem global auf und nicht nur in Europa und Nordamerika, wie die erste Metaanalyse nahegelegt hatte. Der Rückgang hat sich über die Jahrzehnte sogar beschleunigt: Ab den 1970er-Jahren nahm die Spermienkonzentration pro Jahr um etwas mehr als ein Prozent ab, ab der Jahrtausendwende wuchs dieser Wert auf mehr als das Doppelte.

Was ist von der Einschätzung der Forschenden zu halten? Zunächst sind sich nahezu alle Fachleute einig, dass die Studien qualitativ sehr hochwertig sind und die bisher besten Daten liefern. „Ich bin überzeugt, dass die Zahlen einen klaren Trend zeigen“, sagt Shahrokh Shariat, Leiter der Universitätsklinik für Urologie an der Medizinischen Universität Wien. Zwar könnten sich bei derart umfassenden Arbeiten, die Daten aus aller Welt über Jahrzehnte vergleichen, immer Fehler einschleichen – schon deshalb, weil Daten von Rekruten in Südamerika aus 2017 nicht zwingend mit Spermiogrammen einer Klinik in New York aus den 1980er-Jahren vergleichbar sind. Zudem handelt es sich bei der Messung von Spermienzahlen immer um Momentaufnahmen. Dennoch: Auch wenn man solche Verzerrungen berücksichtige, so Shariat, „bleibt ein deutlicher Trend zu einer schlechter werdenden Fertilität“.

Shahrokh Shariat

Seit Juni 2013 leitet er die Universitätsklinik für Urologie der MedUni Wien im AKH Wien.

Eine globale Reduktion der Spermienzahl darf somit als real gelten. Viel weniger evident ist jedoch, was diese Zahl nun tatsächlich für die männliche Fruchtbarkeit bedeutet. Dass diese tatsächlich akut gefährdet ist, dürfte eher nicht zutreffen. Die Weltgesundheitsorganisation gibt als Untergrenze für hinlängliche Reproduktionsfähigkeit 15 Millionen Spermien pro Milliliter Ejakulat an. Was darunter liegt, gilt als pathologisch abnorm. Alles über 40 Millionen wird als Normalbereich angesehen, dazwischen befindet sich eine Art Grauzone, die Anlass zu moderater Besorgnis geben sollte. Im Moment liegen die Werte im Schnitt jedoch trotz aller beobachteten Rückgänge bei 49 Millionen – somit klar über dem kritischen Limit und noch in der Norm.

Zudem ist das bloße Zählen von Spermien allein nicht aussagekräftig. Das Zahl der Spermien ist fraglos wichtig, aber nur ein Indikator für die Fruchtbarkeit. Bedeutsam sind weiters Motilität und Morphologie: die Beweglichkeit sowie Form der Spermien. Diese Faktoren wurden in den jüngsten Studien gar nicht erhoben, und zwar aus gutem Grund, wie die Autoren erläutern: Hier hätten sich die Untersuchungsmethoden über die Zeit so stark verändert, dass seriöse Vergleiche unmöglich gewesen wären. Im Sinne sauberen Studiendesigns eine kluge Entscheidung – eine generelle Aussage über den Status quo männlicher Fruchtbarkeit erlauben die Studien aber auch deshalb nicht. Und schließlich ist das Zeugen von Nachwuchs bekanntlich ein Job für zwei, und was Probleme dabei angeht, herrscht ausnahmsweise Geschlechtergerechtigkeit: Die Ursachen verteilen sich je zur Hälfte auf Mann und Frau.

Sehr wahrscheinlich gibt es nicht einen einzigen Grund, sondern eine ganze Reihe kleinerer Faktoren, die zusammenwirken.

Shahrokh Shariat, Androloge

Dennoch: Der Rückgang der Spermienzahl ist derart stark und dauerhaft, dass sich dringend die Frage nach den Ursachen stellt. Die Studien selbst treffen darüber keine Aussagen, sondern merken bloß an, es sei geboten, den Wurzeln dieser Entwicklung auf den Grund zu gehen. Momentan lässt sich nur darüber spekulieren, welche Einflüsse eine Rolle spielen könnten. „Sehr wahrscheinlich gibt es nicht einen einzigen Grund, sondern eine ganze Reihe kleinerer Faktoren, die zusammenwirken“, sagt Shahrokh Shariat, Professor für Urologie und Andrologie.

Bekannt ist, dass zahlreiche Risikofaktoren die Menge und Qualität von Spermien beeinträchtigen können: Rauchen zählt ebenso dazu wie übermäßiger Alkohol- und Cannabiskonsum oder die Einnahme bestimmter Medikamente. Übergewicht kann die Spermienproduktion genauso drosseln wie ausgeprägtes Untergewicht. Zuletzt verweist die Medizin immer wieder auf Stress als Trigger: Steht der Mensch ständig unter Hochdruck, erteilt das Gehirn den Befehl, der Herstellung von Spermien herunterzufahren. Bestimmte Krankheiten können ähnliche Effekte hervorrufen.

Die Liste möglicher Einflüsse ist aber noch deutlich länger. Darauf findet sich auch der Faktor Wärme. Man weiß, dass Hitze dem Hoden schadet, aber welche Wärmequellen könnten den kontinuierlichen Rückgang der Spermienmenge erklären? Das Handy in der Hosentasche? Der regelmäßige Gebrauch der Sitzheizung im Auto? Alles blanke Spekulation, für nichts davon liegt belastbare Evidenz vor.

Deutlichere Hinweise gibt es auf den Einfluss bestimmter Chemikalien, vor allem sogenannte Weichmacher in Plastikprodukten. Man spricht dabei von endokrinen Disruptoren, die auf das Hormonsystem wirken und daher auch die Spermienqualität negativ beeinflussen können. Freilich wurden viele dieser Chemikalien aufgrund ihres schädlichen Potenzials weitgehend aus dem Verkehr gezogen – mit Sicherheit war in den 1970er- und 1980er-Jahren, also zu Beginn von Levines Beobachtungszeitraum, mehr toxische Chemie in Umlauf als heute, genau wie der Zigarettenkonsum damals viel höher war. Wie passt das zu den Trends in Bezug auf die Spermienzahlen? Andererseits kamen andere Chemikalien hinzu sowie Gefahrenquellen, deren Effekte noch gar nicht abschätzbar sind: beispielsweise Mikroplastik, das längst in allen Gewebearten und Körperregionen nachgewiesen wurde, auch im Gehirn. Und mitunter kann es viele Jahre oder gar Jahrzehnte dauern, bis die Auswirkungen schädlicher Substanzen in großem Maßstab auffallen. In jedem Fall ist es ein hoch komplexes Unterfangen, unter Berücksichtigung von Unmengen verschiedener Faktoren eindeutige Ursache-Wirkungs-Beziehungen aufzuspüren.

Es gibt aber auch banalere Gründe, warum die Zahl der Spermien sinken kann. Vor allem: höheres Alter. Ab dem 35. bis 40. Lebensjahr nimmt die Spermienproduktion ganz natürlich ab, genau wie die Fruchtbarkeit der Frau – zugleich werden Männer in Mitteleuropa heute im Schnitt mit knapp 35 Jahren erstmals Väter. Eine Rolle spielt schlicht auch die Häufigkeit der Ejakulationen: Etwa sieben Tage dauert es, um die Samenspeicher vollständig aufzufüllen. Je öfter somit der Mann ejakuliert, desto geringer ist die Spermienkonzentration. Levine und sein Team versuchten, diesen Umstand bei der Studienauswertung zu berücksichtigen. Fraglich ist freilich, wie zuverlässig Eigenangaben aus den 1970er-Jahren über die persönliche Ejakulationsfrequenz sind.

Eine alarmierende Entwicklung

Am anderen Ende der Skala denkbarer Ursachen beobachtet die Wissenschaft allerdings auch alarmierende Entwicklungen. Besonders beunruhigend ist die steigende Zahl von Hodenkrebsfällen. Um keine Panik entstehen zu lassen: Hodenkrebs ist eine sehr seltene Erkrankung – so selten, dass sich ein geringfügiger Anstieg der absoluten Fallzahlen in einer merklichen prozentualen Steigerung niederschlägt. In den USA beispielsweise wird dieser Krebs bei rund sieben von 100.000 Männern diagnostiziert, um die Jahrtausendwende waren es knapp sechs von 100.000. In Europa sind die Erkrankungszahlen teils beinahe doppelt so hoch, besonders in skandinavischen Ländern. In Österreich wurden im Jahr 2009, statistisch betrachtet, knapp über acht Neuerkrankungen pro 100.00 Männer registriert, zehn Jahre später waren es neun. Es gibt somit auch hier einen Anstieg, dessen Ursachen allerdings unbekannt sind. „Vermutlich gibt es externe Faktoren, die auf diese sensiblen Zellen wirken“, meint Shariat.

Doch welche könnten das sein? Genau diesen offenen Fragen müsse nachgegangen werden – und zwar in Form solider Studien, die es zu organisieren und

finanzieren gelte. Die zuletzt breit diskutierten Arbeiten des Teams um Levine seien allein deshalb wertvoll, weil sie nun den Blick auf die männliche Fruchtbarkeit richten und insgesamt ein in der Vergangenheit ziemlich unterbeleuchtetes Kapitel der Medizin in den Fokus rücken: die Gesundheit der Männer. „Die Vulnerabilität des Mannes war früher nie ein großes Thema, die männliche Seite der Fertilität hat kaum eine Rolle gespielt“, sagt Shariat. „Es besteht ein Bedarf an umfangreicher Grundlagenforschung zu Spermien und männlicher Fruchtbarkeit.“ Studien wie die nun debattierten würden dazu beitragen, Aufmerksamkeit dafür zu wecken, und das sei jedenfalls ein wichtiger Fortschritt. Der Samen sei dabei ein guter Indikator, um gesundheitliche Entwicklungen abzulesen: Spermienzellen sind besonders sensibel, und entsprechend empfindlich reagieren sie auf die verschiedensten Einflüsse, auch solche aus der Umwelt. Shariat hält daher die Untersuchung von Spermien für einen geeigneten Biomarker, der in Zukunft größeren Stellenwert haben könnte – und zwar auf durchaus breiterer Basis: „Der Faktor Fertilität reflektiert letztlich auch die allgemeine Gesundheit.“

Diesem Ansatz folgt auch er im Rahmen eines großen Forschungsprojekts der Medizinischen Universität Wien: Unter der Leitung von Rektor Markus Müller sowie der Forschenden Oswald Wagner und Eva Schernhammer soll das Vienna Prevention Project (ViPP) die Faktoren für ein gesundes Altern untersuchen. Eines der Teilprojekte besteht darin, eine große Zahl an Spermaproben zu studieren und zu bewerten, um ein besseres Verständnis von Fruchtbarkeit zu erlangen – und um zu prüfen, wie sehr die Gesundheit der Spermien allgemeines Wohlergehen spiegelt.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft