Tonfolgen

Tonfolgen: Taugt Musik als Medizin?

Musik. Taugt Musik als Medizin?

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Taugt Musik als Medizin? Diese Frage debattieren internationale Forscher nun bei einem großen Kongress in Österreich. Erwiesen ist: Melodien prägen das Gehirn, lindern Depressionen und haben zentralen Einfluss auf Atmung, Herzraten und Hormonsystem. Doch warum eigentlich?

Denkbar sanfte Arznei
Die Patienten verrieten nichts über ihre Befindlichkeit, konnten den Ärzten nicht mitteilen, ob die Behandlung bei ihnen anschlug. Und doch wussten die Mediziner genau, dass Entscheidendes im Organismus der Kranken geschah. Denn ein Monitor kontrollierte die Hirnaktivität der Wachkomapatienten, rund 20 Minuten nachdem ihnen eine spezielle Substanz ins Blut injiziert worden war, die das Detektieren neuronaler Regungsmuster erlaubt. Diese Messungen der Stoffwechselprozesse im Gehirn zeigten ein Plus von bis zu 34 Prozent an, und der Auslöser dafür gilt in Fachkreisen nun als kleine Sensation: Nicht Medikamente oder operative Eingriffe hatten die enorme Aktivitätssteigerung im Kopf von Menschen mit teils schwersten Schädelverletzungen bewirkt, sondern eine denkbar sanfte Arznei: Musik.

Musik für Wachkomapatienten
Die Resultate entstammen einem Projekt, das Forschung und Therapie zugleich einschließt und von niederösterreichischen Experten ersonnen wurde: Gerhard Tucek, Leiter der Abteilung Health Sciences an der Fachhochschule Krems, und Nikolaus Steinhoff, Neurologe mit Spezialisierung auf Schädel-Hirn-Traumata am Landesklinikum Hochegg. Eine erste Etappe des Projekts ist abgeschlossen, doch die Initiative läuft weiter, und die Vorgangsweise der Wissenschafter bleibt stets gleich: Über eine Phase von fünf Wochen bekommen Wachkomapatienten Musik vorgespielt, dreimal wöchentlich für je eine halbe Stunde, direkt am Krankenbett, live mit Gitarre und Harfe. Bei jeder Session wird die Gehirnaktivität aufgezeichnet.

Das Prozedere erfordere viel Geduld und Behutsamkeit, berichtet Tucek. Im Jahr 2012 habe man den ersten Patienten betreut, nun sei gerade erst der sechste an der Reihe. Zehn Fallstudien will man vorerst sammeln, die Gehirnmessungen auch durch solche der Herzraten und EEG-Daten ergänzen. Die Zwischenergebnisse seien jedenfalls ermutigend: Beispielsweise könne man immer wieder beobachten, dass durch Neuverschaltungen von Nervenbündeln im Gehirn die Funktion lädierter Areale kompensiert wird.

Weltkongress für Musiktherapie
Die Studien an den Wachkomapatienten dürften wohl auch ab kommender Woche intensiv debattiert werden. Von 7. bis 12. Juli findet in Krems der Weltkongress für Musiktherapie statt, zu dem sich rund 1000 Experten aus 45 Ländern angekündigt haben. Vermutlich wird in diesem Rahmen auch die Frage erörtert, wie aussagekräftig medizinische Daten sein können, die in einem recht überschaubaren Patientengrüppchen gesammelt wurden: ein methodisches Problem, das in vielen Sparten der Musiktherapie auftritt, die seit jeher auf episodische Erfolge und Konzentration auf den Einzelfall angewiesen war - ob einst bei den antiken Griechen, die bestimmten Tonarten Einfluss auf die Seele unterstellten, oder im Mittelalter, als Musik Teil des Medizinstudiums war.

Höchst individuelles Verfahren
In der Tat mangle es an großen, standardisierten Studienreihen, wie sie beim Test von Medikamenten üblich seien, sagt Tucek, der den Kongress auch präsidiert. Doch das sei fast unvermeidlich: Wer danach trachte, mit Klängen zu kurieren, arbeite per Definition nicht standardisiert, sondern höchst individuell. Biografie, kulturelle Prägung und persönlicher Musikgeschmack der einzelnen Person müssten, wenn die Bemühungen von Erfolg begleitet sein sollten, ebenso berücksichtigt werden wie das konkrete Krankheitsgeschehen - ganz besonders bei Wachkomapatienten, bei denen gänzlich verschiedene Hirnregionen geschädigt sind und therapeutisch entsprechend behandelt werden müssten. "Wenn man so vorgeht, ist es natürlich schwierig, große Vergleichsstudien durchzuführen“, sagt Tucek.

Musik wirkt
Bestimmt werden bei dem Experten-Meeting auch die grundsätzlichen Fragen verhandelt. Vor allem: Warum eigentlich wirkt Musik? Zwar ist unstrittig, dass im Körper messbare physiologische Effekte auftreten, wenn Schallwellen ins Ohr dringen, das Trommelfell in Schwingung versetzen, zum Innenohr gleiten und über Nervenbahnen zum Hörzentrum des Gehirns wandern, wo die Interpretation erfolgt. Auch ist erwiesen, dass Musik das limbische System des Gehirns tangiert, welches bedeutsam für die Steuerung des vegetativen Nervensystems ist, das wiederum jene Prozesse regelt, die wir nur schwer aktiv beeinflussen können: Erregung und Kalmierung, Stress und Entspannung, Atem, Herzschlag und Blutdruck. Doch warum ist das so? Noch fehlt eine überzeugende Erklärung. "Man weiß, dass Musik wirkt“, so Tucek: "Die Konklusio fast aller Studien ist allerdings, dass weitere Arbeiten nötig sind.“

In Österreich Tradition
Dass derlei Fragestellungen nun ausgerechnet in Österreich diskutiert werden, ist kein Zufall. Denn nicht nur kann das Land auf eine lange Tradition musiktherapeutischer Ansätze verweisen - bereits vor einem halben Jahrhundert interessierte sich Erwin Ringel in der Psychiatrie dafür -, auch ist Österreich der einzige europäische Staat, in dem Behandlung mit Musik ein gesetzlich geregeltes Berufsbild ist.
Rund 300 professionelle Musiktherapeuten sind derzeit eingetragen. Allerdings widmen sich auch international immer mehr Forscher der wissenschaftlichen Ergründung der Musikwirkung. So lud die Universität Toronto vergangene Woche zur 40. Konferenz für Musiktherapie. Anlässlich dieses Jubiläums spannte sich der inhaltliche Bogen von der Analyse und Zusammenschau jüngster Studien bis hin zu bestimmten ins Philosophische tendierenden Aspekten des Themas: Was überhaupt ist Musik? Anhand welcher Kriterien gelangt unser Gehirn - quer durch die meisten Kulturen mit einigen Ausnahmen recht konsensual - zu der Einschätzung, dass ein akustischer Reiz nicht Geräusch, sondern Melodie ist? Und was käme als stimmige Definition dafür infrage?

Balzgesänge
Evolutionsbiologen wie Marc Hauser aus Harvard meinen, Musik müsse zweckfrei sein, dem reinen Genuss dienen, um als solche gelten zu dürfen - anders als beispielsweise Balzgesänge, den Vögel mit einem klaren Ziel intonieren. Alternative Theorien gehen davon aus, dass der Hang des Menschen zur musikalischen Äußerung in der frühen evolutionären Vergangenheit zu suchen sei. Lauthals singende Männer könnten signalisiert haben: Seht her, ihr Damen, ich bin fit genug, um mir den Luxus sinnlosen Trällerns leisten zu können. Denkbar andererseits, dass gemeinsames Singen einst den Zusammenhalt sozialer Hominidengruppen festigte und als gesellschaftliches Schmiermittel diente. Als Indiz dafür gilt, dass aktives Musizieren den Körper mit Oxytocin flutet, einem Hormon, das die Bindung stärkt und bei körperlicher Nähe ausgeschüttet wird.

Evolutionär verankert?
Womöglich manifestiert sich dieses Erbe noch heute in den Schlachtgesängen von Fußballfans, in Nationalhymnen oder einpeitschender Marschmusik. Trifft dieses Szenario zu, wäre Musik jedenfalls keine kulturelle Errungenschaft, sondern evolutionär verankert, ebenso wie die Neigung zur sprachlichen Äußerung. Vielleicht ging die Musik sogar der Sprache voraus, wie der Hannoveraner Musikforscher Eckart Altenmüller postuliert: als archaisches Signal zur Kommunikation und zum Ausdruck von Emotion. Abwegig ist der Zusammenhang keineswegs, wie die Tatsache zeigt, dass das für Sprache zuständige Broca-Areal im Gehirn auch durch Musik angesteuert wird.

Während man sich bei der Suche nach historischen Wurzeln häufig ins Reich der Spekulation begibt, ist die prinzipielle Wirkung von Musik auf die menschliche Physiologie inzwischen gut belegt - immerhin kann die Wissenschaft heute mit ihrem ausgereiften Gerätepark Hirnströme ebenso messen wie den Hautwiderstand, Herzraten genauso präzise wie den Pegel verschiedener Hormone.
Der "Mozart-Effekt“
Dabei erwies sich die erste Studie, die eine breitere Öffentlichkeit auf das Thema aufmerksam machte, letztlich als Flop: Vor 20 Jahren begeisterte der "Mozart-Effekt“ Medien und deren Leser gleichermaßen. Kalifornische Neurobiologen berichteten damals von beachtlichen Steigerungen der Intelligenz bei Menschen, die kurz zuvor eine Mozartsonate in D-Dur gehört hatten. Das klang schön, hatte aber leider einen Haken: Die Annahme, Musikkonsum erhöhe die Klugheit, scheint schlicht falsch zu sein. In keiner Folgestudie gelang es, diese Ergebnisse zu reproduzieren.

Kinder schon"akustisch vorbelastet"
Doch immerhin gibt mittlerweile eine Fülle deutlich jüngerer Arbeiten Aufschluss über die Wirkung von Musik auf den Menschen, und zwar buchstäblich von der Wiege bis zur Bahre. Selbst ungeborenes Leben reflektiert darauf. Leipziger Neurowissenschafter publizierten Ende Mai eine Testreihe, der zufolge Schwangere deutlich stärker mit Blutdruckschwankungen auf Wohl- oder dissonante Klänge reagieren als andere Frauen. Dass auch Kinder im Mutterleib für Musik empfänglich sind, ist schon länger bekannt. Ab dem fünften Monat nimmt deren Ohr akustische Signale wahr, ab der 28. Woche lässt sich anhand der sich ändernden Herzfrequenz feststellen, ob der Fötus gerade ein ihm bereits bekanntes Lied hört. Eine Studie finnischer Wissenschafter zeigte sogar, dass in dieser Schwangerschaftsphase offenbar eine gewisse akustische Prägung greift: Zunächst spielten die Forscher den Ungeborenen ein Kinderlied wieder und wieder vor. Als die Babys vier Monate alt waren, wurden sie neuerlich mit der Melodie berieselt - allerdings waren nun einige veränderte Noten darin enthalten. Gleichzeitig durchgeführte EEG-Messungen belegten, dass diese Kinder mit höherer Gehirnaktivität auf die falschen Töne reagierten als solche, denen das Lied fremd war. Kinder kämen demnach "akustisch vorbelastet“ auf die Welt, folgerten die Wissenschafter.

In späteren Jahren ist diese Reaktion naturgemäß noch ausgeprägter: Fünf- bis neunjährige Kinder reagieren auf Misstöne in Kompositionen unter anderem mit verstärkten Aktivitäten im Broca-Areal, jener Region, die auch für das Sprachverständnis mitverantwortlich ist - was ebenfalls als Beleg für die Verquickung von Sprache und Musik gewertet wird.

Auch an der anderen Begrenzungslinie des Lebens, im hohen Alter, wird Musik großer Einfluss auf den Organismus zugesprochen. Vergleichsstudien zeigen zum Beispiel, dass Menschen, die regelmäßig Musik konsumieren, in ihren späten Jahren besser hören und etwa in einer für andere verwirrenden Geräuschkulisse einzelne Wörter genauer verstehen. Verblüffend ist dies für Neuroforscher nicht: Melodischer Input entfaltet an vielen Stellen des Gehirns nachhaltige Wirkung, reizt nicht nur den auditiven Kortex, sondern auch Frontal- und Scheitellappen sowie Areale, die für Motorik, Koordination und Gedächtnisbildung zuständig sind. Grundsätzlich scheint die bevorzugte Musikrichtung dabei einerlei zu sein und darf dem Geschmack des Hörers überlassen werden. Allerdings: Je komplexer eine Komposition, desto mehr muss sich das Hirn anstrengen. Ob es sich dann mit Prokofjew oder Pink Floyd abmüht, dürfte sekundär sein.

Selbst musizieren
Besonders profitiert, wer nicht nur konsumiert, sondern sich selbst aktiv betätigt: Gehirnaufnahmen dokumentieren, dass schon nach wenigen Minuten des Musizierens Neuverschaltungen von Nervenbündeln und neue Verbindungen zwischen Hirnzentren bilden. Bei Musikern finden sich nicht nur eine veränderte Hörrinde und Sprachregion - auch Areale, die der Motorik dienen, sind vergrößert. Bei Pianisten betrifft dies eher Regionen, welche die rechte Hand abbilden, Geiger haben in dieser Hinsicht einen stärkeren Linksdrall. Musizieren, so Altenmüller, verändere jedenfalls die "neuronale Hardware im Kopf“ - und zwar dauerhaft, wie viele Forscher meinen: Wer lebenslang seinem Hang zur Musik fröne, könne derart dem Abbau von Nervenzellen entgegenwirken und verringere sogar das Demenzrisiko. Manche Musiktherapeuten zielen deshalb darauf ab, den geistigen Verfall bei Alzheimerpatienten abzubremsen. In Deutschland gibt es bereits Initiativen wie "Musik auf Rädern“, eine Organisation, deren Mitarbeiter Menschen in Altersheimen besuchen.

Musik und Depression
In der weiten Spanne zwischen Geburt und Alter eröffnen sich ebenfalls zahlreiche Anknüpfungspunkte, die auf inzwischen recht soliden Daten fußen. Beispielsweise dürften leichte und mittelschwere Formen von Depression mittels Audiotherapie zu bekämpfen sein, wie Studien der Salzburger Paracelsus Privatuniversität zeigen. Bei fast 90 Prozent von mehr als 200 Behandelten ließ der Schweregrad der Depression nach. Selbst gravierende neurologische Leiden wie die Folgen von Schlaganfällen oder Parkinson scheinen positiv beeinflussbar. Der Schlüssel könnte eine Aktivierung motorischer Zentren im Gehirn sein - und neuerlich eine solche des Broca-Areals, wie Studien dokumentieren, die eine Verbesserung der Sprachfähigkeit durch Musikeinsatz nach Schlaganfällen nachweisen konnten.

Weiters weiß man, dass über verminderte Ausschüttung von Stresshormonen und gesteigerter Freisetzung schmerzdämpfender Betaendorphine - beides wird auch durch Musik getriggert - Ängste sowie das Schmerzempfinden beeinflusst werden können. Studienreihen aus Heidelberg zeigen, dass eine Behandlung nach Noten Migräne, Kopfschmerz und sogar Tumorbeschwerden lindern kann. Endorphine dürften auch im Zusammenhang mit einem weiteren verbreiteten Leiden eine wesentliche Rolle spielen: Herzkrankheiten. Bei vielen davon verliert die Gefäßinnenwand, das Endothel, an Funktionstüchtigkeit, was unter anderem an Stickstoffoxiden im Blut ablesbar ist. Weil nun eine gesteigerte Endorphinausschüttung - etwa ausgelöst durch das Abspielen der bevorzugten Song-Sammlung - die Stickstoffbildung beeinflusst, scheinen derart positive Effekte bei kardiovaskulären Erkrankungen möglich: Die Gefäße erholen sich. Diese Wirkungskette entschlüsselten im Herbst des Vorjahres serbische Forscher, welche den Einfluss von drei Faktoren untersuchten: Fitnesstraining, Musikgenuss sowie eine Kombination aus beidem - Letzteres zeitigte den größten Erfolg.

Tatsächlich gibt es Wechselwirkungen zwischen körperlicher Anstrengung und angenehmer Beschallung, wie deutsche Kognitionsforscher im Oktober 2013 berichteten. Die Kurzfassung: Wer Musik hört, strengt sich weniger an. Die Wissenschafter hatten Probanden gebeten, sich an Fitnessgeräten abzustrampeln. Bei einer Gruppe von Testpersonen waren die Gerätschaften so manipuliert, dass bei deren Nutzung Musik ertönte. Die Leute machten also Musik, während sie etwa in die Pedale traten. Währenddessen maßen die Forscher Muskelspannung und Sauerstoffverbrauch und stellten fest: Unter Musikeinfluss verbrannten die Muskeln weniger Energie.

Ob Bach oder Heavy Metal
Wie fast immer war das Musikgenre nachrangig. Als zielführend gilt stets, was die Ohren des Zuhörers erfreut. Im Grunde trifft dies auch auf einen weiteren mittlerweile nachgewiesenen Effekt von Musik zu: ihr Potenzial, den Blutdruck zu senken. Besonders haben sich dazu zwar laut Medizinern aus Bochum Klassiker wie Mozart, Bach und Händel bewährt. Doch auch das vielleicht größtmögliche Kontrastprogramm funktioniert, weshalb sich sagen lässt: Bachs Orchestersuite Nr. 3 ist okay. Heavy Metal auch.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft