Bildungspolitik: "Gender Gap" in Mathematik

Seit 25 Jahren kämpfen Frauenministerinnen für Chancengleichheit. Trotzdem sind Schülerinnen in Mathematik deutlich schlechter als Schüler – mit allen negativen Folgen.

Drucken

Schriftgröße

Zahlen lügen nicht: Österreichs Mädchen können nicht rechnen – zumindest im Vergleich zu den Buben. Bei der heurigen Zentralmatura schnitten im Fach Mathematik die Kandidaten deutlich besser ab als die Kandidatinnen. Österreichweit fielen 3,2 Prozent der Burschen durch. Bei den Mädels versemmelten dagegen 4,8 Prozent die Rechen-Reifeprüfung. Wie die Großen, so die Kleinen: Laut TIMSS-Studie (Trends in International Mathematics and Science Study) aus dem Jahr 2011 rechnen Österreichs Buben schon in der Volksschule besser als die Mädchen. Und auch in den vom Unterrichtsministerium erhobenen Bildungsstandards liegen die zehnjährigen Schülerinnen in Mathematik zurück.

Die Ergebnisse belegen eine Geschlechterkluft, die sämtliche Bemühungen der Politik um Chancengleichheit für Buben und Mädchen konterkariert. Der Gender Gap bei Schulleistungen führt zwingend zum Gender Pay Gap im Erwerbsleben. Vor 30 Jahren beschloss der Nationalrat, Gleichberechtigung „als fächerübergreifendes Prinzip in allen schulischen Bereichen“ zu verankern. Vor 25 Jahren bekam die Republik Österreich mit Johanna Dohnal ihre erste Frauenministerin. Im Jahr 2015 werden Mädchen vom Schulsystem noch immer diskriminiert. Hat die Politik kläglich versagt? Kann der Leistungsabstand zu den Burschen überhaupt aufgeholt werden? Ist Gender-Fairness mehr als eine Floskel zum Girls Day und Weltfrauentag?

Das schlechte Abschneiden der Mädchen bei der Mathematik-Matura im Juni dürfte Gabriele Heinisch-Hosek nicht weiter beunruhigt haben – weder als Bildungs- noch als Frauenministerin. In den Archiven finden sich keine Wortmeldungen, was auch daran liegen mag, dass Heinisch-Hosek die Zentralmatura zu einem ihrer Leuchtturmprojekte erkoren hatte. Wer will sich schon seine geglückte Premiere mit Gesudere über Gender Gaps selbst vermiesen?

Kritikfreudiger zeigte sich die Ministerin Anfang März im „Presse“-Interview: „Manche Länder sind uns gleichstellungspolitisch 20 Jahre voraus.“ Anlass für die Republiksrüge war eine Bildungsstudie der OECD („The ABC of Gender Equality in Education“). Anhand der PISA-Ergebnisse von 2012 erforschten die Wissenschafter Geschlechterunterschiede in mathematischen Fertigkeiten. Ergebnis: In beinahe allen Mitgliedsländern können die 15- bis 16-jährigen Buben besser rechnen als die Mädchen. In Österreich lagen die männlichen Schüler um 22 Punkte vor den weiblichen.

Gap nur in Luxemburg größer

Daran verstören zwei Details: Der Leistungsunterschied fällt in Österreich deutlich höher aus als im OECD-Schnitt (elf Punkte). Nur die Schülerinnen in Luxemburg fallen noch klarer ab. Und zum Zweiten: Während sich die Geschlechterunterschiede in vielen OECD-Ländern in den vergangenen Jahrzehnten verringerten, wurden sie in Österreich größer.

Mathematik gilt als Basisfach der Naturwissenschaften. Wenn Mädchen im Rechnen schon in der Volksschule, in der Mittelstufe und bei der Zentralmatura schlechter abschneiden, ist ein Gender Gap beim Medizin-Aufnahmeverfahren (MedAT) wohl zwangsläufig. Unter den heuer 11.400 Bewerbern für ein Medizinstudium in Wien, Innsbruck, Graz und Linz befanden sich 58 Prozent Frauen. Aber nur 51 Prozent ergatterten einen der begehrten 1600 Studienplätze.

Dieser Gender Gap besteht, seit die Medizin-Unis die Tests 2006 einführten. Während beim früheren Aufnahmeverfahren Frauen tatsächlich diskriminiert waren, messen die nun angewandten Verfahren gerecht. Der aktuelle MedAT wurde unter Leitung von Martin Arendasy, Professor am Institut für Psychologie der Uni Graz, entwickelt. Arendasy: „Unsere Tests sind gender-fair. Die unterschiedlichen Ergebnisse sind Folge tatsächlicher Leistungsdifferenzen.“

Die Politik – in Person von Gesundheitsministerin Sabine Oberhauser – reagierte erwartbar: Bringt ein Test unerwünschte Ergebnisse, werden nicht die Ursachen hinterfragt, sondern der Test. Und daher wünscht sich Oberhauser „als Frau und Medizinerin“ die Überarbeitung des MedAT. Was die Gesundheitsministerin offenbar nicht sehen will: Die Aufnahmetests diskriminieren nicht, sie bilden die schulische und gesellschaftliche Benachteiligungen von Mädchen in Österreich bloß ab. Josef Christian Aigner, Leiter des Instituts für Psychosoziale Intervention der Uni Innsbruck: „Es ist offensichtlich, dass Mädchen von ihrem durchschnittlichen Bildungsweg her auf solche Prüfungen schlechter vorbereitet sind als Burschen. Daran muss man arbeiten, nicht am Test.“ Oder wie es Martin Arendasy formuliert: „Der Medizinaufnahmetest kann – und soll – nicht ausgleichen, was in der Erziehung und 15 Schuljahren sozusagen passiert ist.“

Will Christiane Spiel die Ursache für die weibliche Mathematik-Schwäche auf einen Begriff verdichten, dann sagt sie: „Sozialisation.“ Bei Mathematik und Naturwissenschaften, so die Leiterin des Instituts für Angewandte Psychologie der Uni Wien, würden noch immer „klare Geschlechterstereotype“ bestehen.

Buben rechnen, basteln und messen; Mädchen malen, quasseln und träumen.

Organisationen sehen Benachteiligung von Mädchen

Oder ist es doch die Biologie, die in Form von Östrogen, Progesteron und Testosteron wahre Gender-Gerechtigkeit verhindert? Die Auseinandersetzungen, ob schulische Leistungsdifferenzen durch soziologische oder biologische Faktoren – oder eine Kombination davon – erklärbar sind, laufen seit Jahrzehnten. Für supranationale Organisationen wie UN, EU und OECD ist die Sache klar: Buben sind nicht vom Mars, Mädchen nicht von der Venus, sondern beide leben auf der Erde. Und dort werden Mädchen gesellschaftlich benachteiligt.

Eine von der OECD zitierte Studie über US-amerikanische Schülerinnen mit asiatischem Hintergrund brachte erstaunliche Ergebnisse: Erklärte man den Mädchen, ein Mathematiktest solle ethnische Leistungsunterschiede messen, fielen ihre Ergebnisse im Vergleich besser aus. Sagte man ihnen vor dem Test, man wolle geschlechtsspezifische Unterschiede erheben, waren die Resultate schlechter. Die Erklärung: Im ersten Fall wirkte das Stereotyp, Asiaten seien in Mathematik überlegen; im zweiten, dass Mädchen schlechter rechnen als Burschen. Dass sich an den alten Klischees und Vorurteilen nichts ändert, liegt auch an den Pädagoginnen.

Bildungspsychologin Spiel: „Die Lehrerinnen übertragen unbewusst die Stereotype auf ihre Schülerinnen, die sich dann – im Sinne einer self-fulfilling prophecy – entsprechend verhalten.“ Und bringt ein Mädchen gute Leistungen, erfährt es trotzdem eine Abwertung. Spiel: „Wir haben eine aktuelle Studie, die zeigt: Hat ein Mädchen gute Noten in Mathematik, glauben die Lehrer, es habe viel gelernt oder Hilfe bekommen. Hat ein Bub gute Noten, heißt es, er sei begabt dafür.“

Wenn Mädchen von Eltern, Verwandten und Freunden lang genug zu hören bekommen, Burschen hätten Mathematik einfach besser drauf, werden sie dies eines Tages auch akzeptieren, selbst wenn sie sich selbst als ebenbürtig einschätzen – was Druck und Stress in Prüfungssituationen erzeugt. Das Geschlechter-Stereotyp wird so zur Bedrohung für die Leistungsfähigkeit.

Diesen „Stereotype Threat“ belegt die Bildungsstudie der OECD vom März. In nahezu allen PISA-Teilnehmerländern trauen sich Mädchen in Mathematik weniger zu, zeigen mehr Angst vor dem Fach und versagen deswegen in Prüfungssituationen öfter als Burschen. Ein Detail der Studie: In keinem anderen europäischen Land liegen die Mathematik-Ergebnisse der besten Mädchen so weit hinter jenen der besten Burschen wie in Österreich.

Jahrhundertelang eingeschliffene Geschlechterbilder lassen sich nicht per Verfassung und vor allem nicht so schnell ändern. (Bildungswissenschafter Josef Christian Aigner)

Mädchen mit vorhandenen mathematischen Fähigkeiten, aber mangelndem Selbstbewusstsein werden eher nicht an einer männlich dominierten Technischen Hochschule einen Diplomingenieurstitel anstreben, der ihnen später ein höheres Einkommen einbringt als ein Abschluss in Publizistik, Psychologie oder Theaterwissenschaften.

Wer, wenn nicht eine Frauen- und Bildungsministerin in Personalunion, sollte Gender-Gerechtigkeit im Schulwesen garantieren? Bildungswissenschafter Josef Christian Aigner von der Uni Innsbruck nimmt Gabriele Heinisch-Hosek und die Politik allerdings in Schutz. Wer Gender-Fairness will, brauche Geduld. Aigner: „Jahrhundertelang eingeschliffene Geschlechterbilder lassen sich nicht per Verfassung und vor allem nicht so schnell ändern.“

Aigner plädiert für einen stärkeren Gender-Mix beim Pädagogenpersonal: „Dass Geschlechterstereotype sich schon früh entwickeln, liegt auch daran, dass es so wenige männliche Kindergärtner und Volksschullehrer gibt und die Sorge für Kinder für diese als Sache der Frauen erscheint.“

In Analyse und Überwindung der Leistungsunterschiede zwischen Mädchen und Buben in Mathematik verweist Gabriele Heinisch-Hosek gern auf das Koordinationszentrum für Gender- und Diversitätskompetenz an der Pädagogischen Hochschule Salzburg; oder auf die dort eingerichtete Professur für Geschlechterpädagogik; oder auf die Broschüre „Genderkompetenz im Mathematikunterricht“. Die Unterlage bietet im zweiten Kapitel „Szenarios eines gendersensiblen Mathematikunterrichts: So gelingt’s in der Praxis“. Eine ernst gemeinte „fachdidaktische Anregung“ der Autorin für Lehrerinnen und Lehrer: „Handarbeiten (Stricken oder Häkeln) könnte ein Bereich sein, in dem die mathematischen Aufgaben angesiedelt sind.“

Zwei glatt, zwei verkehrt etwa.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.