Netztneutralität: Europas Internet bekommt eine umstrittene Überholspur

Netztneutralität: Europas Internet bekommt eine umstrittene Überholspur

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Tim Berners-Lee, der Erfinder des World Wide Web, Michael Stipe, der Frontmann der Band R.E.M, und US-Präsident Barack Obama haben vermutlich nicht viel gemeinsam. Außer dass sie alle für das Prinzip der Netzneutralität plädieren – also dafür, dass im Internet alle Daten gleich behandelt werden, egal, ob man ein Video auf YouTube ansieht, ein E-Mail versendet oder eine Website aufruft. Internetanbieter sollen alle Daten so rasch wie möglich weiterleiten und keine Verzögerungen oder Überholspuren im Netz errichten. Das ist der Grundsatz der Netzneutralität.

Und das EU-Parlament? Die Europa-Abgeordneten haben keine klare Aussage getroffen. Vergangenen Dienstag billigten sie eine Verordnung, die zwar die Netzneutralität regeln soll, aber viele Fragen und Schlupflöcher offenlässt. So sind nun die krassesten Verstöße gegen die Netzneutralität verboten (Internetanbieter dürfen beispielsweise keine fremden Webdienste blockieren), und doch blieb vieles vage. Das Internet und Europa, der aktuelle Beziehungsstatus lautet wohl: Es ist kompliziert. Zwei Schlupflöcher sorgen besonders für Kritik. Erstens: Die sogenannten „Spezialdienste“. Sie machen dem Internet, wie wir es kennen, Konkurrenz.

Die EU erlaubt Internetprovidern künftig, neben dem herkömmlichen Netz auch digitale „Spezialdienste“ zu betreiben. Szenario 1: Kunden kaufen sich künftig einen Premiumdienst zusätzlich zum Internet, um besonders datenintensive Videos oder Onlinespiele im Eiltempo und ohne Ausfälle zu konsumieren (die deutsche Telekom nennt solche Geschäftsmodelle „Qualitätsdifferenzierung“).

Szenario 2: Große IT-Konzerne zahlen für die Einstufung als „Spezialdienst“, damit ihre Daten deutlich rascher über die Leitungen transportiert werden. „Diese Spezialdienste bedeuten Folgendes: Es ist jetzt möglich, dass Internetprovider Überholspuren anbieten, bei denen große Unternehmen eine andere Behandlung bekommen“, betont Barbara van Schewick, Professorin der University Stanford und eine international renommierte Netzneutralitätsexpertin, gegenüber profil. Solche Geschäftsmodelle liefern einen Wettbewerbsvorteil: Kleinere Konkurrenten haben für eine solche Sonderbehandlung womöglich kein Geld.

Für den Konsumenten scheint „Zero Rating“ oft traumhaft. Das täuscht.

Der zweite Kritikpunkt betrifft vor allem das Handy. Speziell am Smartphone haben viele Menschen keinen unlimitierten Zugang, sondern ein Datenvolumen, das es ihnen erlaubt, im Monat ein paar Gigabyte herunterzuladen. Haben sie ihr Volumen erschöpft, können sie am Handy nicht weitersurfen, müssen einen Aufpreis zahlen oder mit einer extrem langsamen Verbindung Vorlieb nehmen. Außer ihr Internetanbieter hat einen Daten-Deal mit Unternehmen wie dem sozialen Netzwerk Facebook, der Musikplattform Spotify oder dem Videodienst Netflix geschlossen. „Zero Rating“ heißt das in der Fachsprache – auf Deutsch eine „Nullbewertung“ von Daten. In Österreich gibt es bereits einen solchen, durchaus umstrittenen Tarif. Handykunden von „3“ können unbegrenzt Musik über Spotify hören, ihr Datenlimit belastet das nicht. Mobilfunker bekommen für solche Kooperationen in der Regel Geld von den jeweiligen Webdiensten oder eine Umsatzbeteiligung.

Für den Konsumenten scheint „Zero Rating“ oft traumhaft. Das täuscht. Neben der Tatsache, dass sich nicht jeder Onlinedienst solche Sonder-Deals leisten kann (und es auch hier zu Wettbewerbs-Nachteilen kommt), wirkt sich das ebenfalls auf die Bürger aus.

Eine Untersuchung der finnischen Beratungsfirma Rewheel zeigte, dass „Zero Rating“ Mobilfunker dazu verleitet, geringe Datenvolumina anzubieten – also die Datenmenge niedrig zu halten, welche die Kunden im Monat konsumieren können. Eigentlich logisch: Wenn ein Handybesitzer nur ein Gigabyte im Monat verbrauchen darf, wird er umso mehr „Zero Rating“ benutzen (und der Mobilfunker verdient an den Webdiensten, die für Sonderdeals zahlen).

Was die EU-Mandatare absegneten, ist ein Minimalkompromiss zwischen Nationalstaaten, EU-Kommission und Europa-Parlament.

Länder wie die Niederlande haben „Zero Rating“ bereits verboten. Auf EU-Ebene hingegen geschieht hier nichts. Das Begriff „Netzneutralität“ kommt in dem Verordnungsentwurf übrigens gar nicht vor. Das ist kein Zufall.

Was die EU-Mandatare absegneten, ist ein Minimalkompromiss zwischen Nationalstaaten, EU-Kommission und Europa-Parlament. Man konnte sich weder auf eine strenge Netzneutralität noch auf eine klare Abkehr davon einigen. Nur die ÖVP stimmte für dieses Papier, alle anderen österreichischen EU-Abgeordneten waren für eine strengere Auslegung der Netzneutralität.

Die nun offenen Fragen muss das Gremium europäischer Regulierungsstellen (BEREC) beantworten – in den kommenden neun Monaten wird es Richtlinien zur Umsetzung der Verordnung erarbeiten. Manche sehen dies sogar als Chance. „Es stimmt: Diese Verordnung ist nicht optimal. Vieles wurde nur unzureichend geregelt. Ich stimme aber nicht in den Chor derjenigen ein, die sagen, dass das eine katastrophale Regelung sei. Sie bietet uns neuen Handlungsspielraum“, sagt Johannes Gungl, Geschäftsführer der österreichischen Regulierungsbehörde RTR. So bekommen die Regulatoren neue Aufsichtsbefugnisse und Bürger können auch Beschwerde einbringen, wenn sie das Gefühl haben, ihr Internetprovider lähme den Datenverkehr.

Doch wie schnell muss das Internet in Zukunft sein? Die Behörden werden künftig Mindeststandards vorgeben, welche Geschwindigkeiten die Provider für verschiedene Tätigkeiten (Videos schauen, surfen, Dokumente herunterladen) erfüllen müssen. „Wir werden darauf achten, dass diese Mindestqualität des Internet auch weiterhin steigt. Es kann natürlich nicht sein, dass die Spezialdienste immer schneller werden und das Internet beim Status quo bleibt, das wäre dann langfristig tatsächlich eine Beeinträchtigung des herkömmlichen Internets“, sagt Gungl.

Der Streit um die Netzneutralität ist noch längst nicht beigelegt. Die konkrete Umsetzung der Verordnung wird zeigen, wie löchrig die europäische Netzneutralität im Alltag ist. Doch warum wurde überhaupt an diesem Prinzip gerüttelt?

Das hat zwei Gründe: Zum einen erodiert das Geschäftsmodell der Telekomunternehmen. Statt SMS werden heute gratis WhatsApp-Nachrichten verschickt, die horrenden Roamingkosten im Ausland hat die EU abgeschafft, und ihr Festnetztelefon haben viele Bürger abgemeldet. „Spezialdienste“ und „Zero Rating“ sollen der Branche, die längst nicht mehr so lukrativ ist wie einst, ein neues Zubrot bescheren und Investitionen in die Netze finanzieren.

Im Internet gab es auch deswegen so viel Innovation, weil die Netzneutralität dies begünstigte.

Zweitens liegt dies am technischen Fortschritt. Erst Mitte der 1990er-Jahre kam eine Technologie namens „Deep Packet Inspection“ auf, die es Internetanbietern ermöglicht, den Datenverkehr zu beobachten und einzelne Arten von Daten schneller weiterzuleiten und andere abzubremsen. Bisher war das Internet eine sehr egalitäre Infrastruktur. Die einst unbekannte Website „Google“ konnte dem damaligen Suchmaschinen-Marktführer Altavista den Rang ablaufen. Eine Site von ein paar Studierenden, genannt Facebook, konnte die populäre Plattform MySpace verdrängen, weil es eben keine Sonderdeals oder Überholspuren gab.

Im Internet gab es auch deswegen so viel Innovation, weil die Netzneutralität dies begünstigte. All das ist ein Grund, warum fast vier Millionen Amerikaner der Aufsichtsbehörde FCC Briefe oder E-Mails schrieben und für eine harte Version der Netzneutralität plädierten, darunter auch die Band R.E.M.. Präsident Obama stimmte ihnen zu: „Es gibt keine Türsteher, die entscheiden, welchen Eingang du nehmen darfst. Es gibt keine Mautstationen auf der Schnellstraße im Netz. Dieses Prinzip der Netzneutralität hat die Kraft des Internets entfesselt, Erfinder blühen auf. Wenn dieses Prinzip entfällt, würde das Internet, das wir kennen, bedroht.“

Die Verfechter der Netzneutralität gaben in den Vereinigten Staaten den Ton an, und Anfang dieses Jahres beschloss die FCC harte Regeln – die sogar strenger sind als der Kompromiss in Europa. Dass die Amis härter regulieren als wir Europäer? Eine Seltenheit. „Aber es wäre falsch, zu sagen: Die Debatte ist in Europa gelaufen. Ja, die Abstimmung im EU-Parlament hat es wahrscheinlicher gemacht, dass sich das Internet in Europa massiv verändern wird. Aber es gibt noch immer die Möglichkeit der Bürger, Druck zu machen: Damit sich die europäischen Regulierungsstellen für eine starke Netzneutralität einsetzen, damit sie gewisse Schlupflöcher doch noch schließen“, meint Forscherin van Schewick.

Ingrid   Brodnig

Ingrid Brodnig

ist Kolumnistin des Nachrichtenmagazin profil. Ihr Schwerpunkt ist die Digitalisierung und wie sich diese auf uns alle auswirkt.