profil 17/1973: „Der Mann hinter Staberl“
Im vierten Jahr der Existenz dieses Nachrichtenmagazins, in der Ausgabe vom 17. August 1973, nahm man sich – wie im profil einst durchaus üblich – anonym jenen Mann vor, der in der „Kronen Zeitung“ sein tägliches kolumnistisches Unwesen trieb: Richard Nimmerrichter, 1920 geboren, seit Anfang 1965 unter dem Pseudonym „Staberl“ erster Meinungsmacher der „Krone“, empfing die profil-Delegation im Garten seines Fertigteilhauses im niederösterreichischen Eschenau bei Lilienfeld.
Eine Leidenschaft für erstklassige Wortspiele hegte man im profil damals schon; mit „Hausmaster’s Voice“ ist die fast elf Seiten starke Coverstory betitelt – ein Porträt, dem ein vorsätzlich grenzwertiges Nimmerrichter-Bildnis auf der Titelseite vorangestellt war, das der junge Fotorealist Gottfried Helnwein hergestellt hatte: Das Gemälde zeigt den Kolumnisten im Ausnahmezustand, die Augen schreckensgeweitet, der Mund mit einer vom Kinn bis in den Rachen reichenden Metallklammer leicht aufgerissen, die Oberlippe gequetscht.
Die ebenfalls anonym publizierten Staberl-Fotografien im Blattinneren zeigen dagegen erst einen unüblich lyrisch gestimmten Autor, der – ins Blütenwerk einer Staude getreten – blumenumrankt seinen Blick in den Himmel richtet, auf den Folgeseiten dann aber eine Serie von zweimal sechs sommerlichen Brustbildern des oben ohne vor der Kamera posierenden, gestikulierenden und grimassierenden Nimmerrichter. Der Look eines Playboys ist ihm eigen, er gibt sich drahtig-sportlich, braungebrannt und brustbehaart. Dazwischen Fotos des kleinen Richard aus den 1920er-Jahren, mit Eltern und Bruder, ein Bild des grinsenden Kriegsteilnehmers und etliche des Freizeitmenschen Nimmerrichter (beim Kochen, Saunieren, Reiten, Tauchen und Tennisspielen).
Im Text kommt man ohne weitere Umstände zur Sache: Der Mann sei „Sprachrohr und politische Donnerbüchse der ‚Krone‘“; mit seiner – nach Einschätzung des Autors selbst – „kombattanten Kolumne“ war er zum Chefpolemiker der „Krone“ aufgestiegen. Als Hans Dichand ihn 1964 eingeladen hatte, zur „Kronen Zeitung“ zu kommen, habe Nimmerrichter die Chance erhalten, „sich als die verkörperte österreichische Nachhut des Weltgeistes zu artikulieren. Er nutzte sie.“
Den Titel seiner täglich 3600 Zeichen starken Kolumne, der einer beliebten Figur des Volkstheaters, dem „Staberl“ eben, nachempfunden war, aber einfach auch als Begriff für einen strafenden Oberlehrer-Rohrstock verstanden werden konnte, fand er im Skiurlaub. profil dazu extratrocken: „Der einzige Genieblitz in seinem Leben traf Nimmerrichter auf einem verschneiten Berghang oberhalb Kirchbergs.“
Staberl machte sich daran, eine nicht allzu fein abgeschmeckte Brühe aus Affirmation und Provokation anzurühren: Zu 70 Prozent werfe er das, „was die Leute hören wollen“, in den Topf, der Rest sei Material, über das sie sich erzürnen konnten, denn der Mensch habe, so Nimmerrichter, „ein atavistisches Bedürfnis, sich zu ärgern“. So schaute er dem Volk aufs Maul, spitzte Stammtisch- und Parkbank-debatten zynisch zu, kultivierte einen Rage-Tonfall ohne Reformanspruch („Ich bin doch nicht dazu da, irgendwas zu ändern oder meine Leser zu erziehen“). Die Blattbindung seines Publikums, dessen Wut auf die Verhältnisse er schürte, nur um es anschließend wieder ruhigzustellen, erhöhte er sprunghaft. Der aus sozialistischem Elternhaus stammende Journalist driftete dabei stetig nach weit rechts, wurde zum populären Fortschrittsfeind, der sich über die neuen Postleitzahlen ebenso ereiferte wie über den „Blödsinn“ der Weltraumfahrt („als ob wir auf dem Mond etwas verloren hätten“). Eine fast schon prophetische Politverdrossenheit schwang in den Staberl-Kolumnen stets mit. Nimmerrichter wurde zum schreibenden Vertreter eines in Österreich längst blühenden „Pensionismus“.
Der Hang des Kolumnisten zum Schwadronieren („letztlich zielloses Gezeter“, „Redeschwall und Marktschreierpose“) wird in profil spöttisch attackiert, mit einer Melange aus Respektlosigkeit („plustert sich der Zwergwüterich cholerisch auf“) und einer doch spürbaren Anerkennung des Nimmerrichter’schen Gespürs für Publikumsnähe.
„Hausmaster’s Voice“ bietet aber auch, aus mehr als fünf Jahrzehnten Distanz, schöne Einblicke in die Historie österreichischer Printmedien: Der mit viel Tagesfreizeit ausgestattete Nimmerrichter (er recherchierte und interviewte grundsätzlich nie) musste lediglich eine Kolumne für jede Ausgabe der „Krone“ vorlegen, was ihn aber – in der Ära der prädigitalen Kommunikation – an Wien kettete; längere Urlaube vertraglich ausgeschlossen.
Das sprachstarke Staberl-Porträt biegt spät in die Beschreibung einer Begegnung ein, mit denkwürdigen Passagen zur Außenwirkung Nimmerrichters: „Der Eindruck des ungemütlich Sauber-Geschrubbten geht vor allem von den Augen aus: sie sind grün-gelb-grau gesprenkelt, auf herausfordernde Weise wach und völlig kalt. Dass Richard Nimmerrichter zärtlich dreinschauen könnte, jäh beglückt oder berührt, ist schlechterdings unvorstellbar.“ Der derart Analysierte sei im Übrigen „bedürfnislos“, aber „nicht aus Askese, sondern aus Unkenntnis und Gleichgültigkeit“. Freunde habe er ebenso wenig wie längerfristige Beziehungen („Ich kann die körperliche Nähe von Menschen auf die Dauer nicht ertragen.“).
Als „Individual-Anarchist“ habe er Hitlers Tyrannei, so der Porträtierte, übrigens „von Anfang an und ohne jede Einschränkung verabscheut“, wie dann auch „die kommunistische Despotie Stalins“. Den deftigen Rassismen seiner Kolumnen („afrikanisches Affentheater“, „arabische Nudelschrift“) und seinen antisemitischen Tiraden tat dies keinen Abbruch; Staberl verharmloste den Holocaust und zelebrierte seine Trauer über das Ende des Kolonialzeitalters, seinen Hass auf die Entwicklungshilfe.
Auf der Seite der gehässigen Mehrheit wusste der Krawallkolumnist sich zeitlebens. Erst 2001, mit 80 Jahren, dankte er ab, als vielfach vorbestrafter Journalist: 58 Mal war er wegen Verleumdung, übler Nachrede oder Verstößen gegen das Mediengesetz verurteilt worden. Wo kein Kläger, da kein Nimmerrichter.
Im Februar 2022 starb der Mann, der sich Staberl nannte, in seinem 102. Lebensjahr in Wien. Fast ein halbes Jahrhundert davor hat profil dem „Krone“-Choleriker dieses sarkastische Denkmal gesetzt, dabei „das ihm gemäße Angriffsniveau“ definiert: „in Wadelhöhe“ nämlich. Als das „Bestürzendste an dem Mann hinter Staberl“ macht man noch den Umstand aus, dass dieser tatsächlich Staberl sei: Zwischen Glossenprovokation und Privatperson gebe es nicht den geringsten Unterschied. Nimmerrichter formuliere, witzle und denke exakt wie in seinen Kolumnen. Insofern macht sich die zufällige Text-Werbungs-Schere im Layout dieser Coverstory unliebsam bemerkbar: Denn „a straight winner“, wie ihn das Whiskey-Inserat auf der vorletzten Seite verspricht, ist in Richard Nimmerrichter beim besten Willen nicht zu finden.