Menschen des Jahres 2014

profil 51/2014: Conchita Wurst und Wladimir Putin

Normalerweise einigt sich profil immer auf einen Menschen des Jahres. Im Jahr 2014 waren es ausnahmsweise zwei, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.

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Ich weiß nicht, ob er zuguckt. Aber falls ja, sage ich ganz klar: Wir sind unaufhaltbar!“ Diesen Satz sagte Conchita Wurst, die queere Kunstfigur des österreichischen Künstlers Tom Neuwirth, nachdem sie 2014 den Eurovision Song Contest (ESC) gewonnen hatte. Der Satz war eine Ansage an den starken Mann im Kreml: Wladimir Putin, den Präsidenten Russlands.

Der hatte 2014 ja alle Hände voll zu tun. Im Februar wurden die Olympischen Winterspiele in Russland abgehalten – ein Megaevent, bei dem Unmengen an Geld aufgrund von Korruption versickerten. Das änderte wenig an den guten Beziehungen Österreichs zu Russland. Kurz darauf annektierte Russland dann völkerrechtswidrig die ukrainische Halbinsel Krim. Auch das ließen Putin viele durchgehen. Zu eng waren die wirtschaftlichen Verbindungen und vor allem die Abhängigkeit von Gas und Öl. Es ist eher unwahrscheinlich, dass der mehr und mehr imperialistisch auftretende Putin Zeit hatte, sich im Mai 2014 den Eurovision Song Contest anzusehen. Aber falls doch, dann dürfte er sich geärgert haben. Denn da stand eine Dragqueen in engem Kleid und mit Bart im Konfettiregen. Und wirbelte alle üblichen Vorstellungen von starren Geschlechtern und Heteronormativität durcheinander.

profil hätte damals, im Jahr 2014, auch einfach nur Conchita Wurst zum Menschen des Jahres küren können. Immerhin: Für Österreich war es der erste Song-Contest-Sieg seit Udo Jürgens im Jahr 1966. Aber stattdessen wagte die Redaktion etwas, das genauso neu war wie eine Frau mit Bart als Aushängeschild des ORF: ein Doppelporträt von Putin und Wurst, zwei Persönlichkeiten, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Sie eine queere Kunstfigur, die sich für Toleranz und Vielfalt einsetzt. Er ein Machtpolitiker, der für das exakte Gegenteil steht.

2013 wurde in Russland ein Gesetz verabschiedet, das „homosexuelle Propaganda“ unter Strafe stellt. Auch deswegen war der Eurovision Song Contest 2014 so ein Politikum in Russland, weil man unweigerlich mit der Vielfalt in Europa konfrontiert war. Ob man es nun wollte oder nicht. Sonst hätte man den ESC in Russland verbieten müssen, was dann doch etwas radikal gewesen wäre. Immerhin handelt es sich um das größte TV-Event Europas.

Am Ende kam es umgekehrt. Russland wurde 2022 vom ESC ausgeschlossen, weil Putin im Februar dieses Jahres die Ukraine überfallen hatte. Für diesen Angriffskrieg hatte es Frühwarnsignale gegeben. Auch deswegen war es eine kluge Entscheidung von profil, Putin im Jahr 2014 mit auf das Cover zu nehmen. Menschen des Jahres sind nicht immer Helden und Sympathieträger, sondern auch Aggressoren, die Angst und Schrecken verbreiten. 2014 stand etwa auch Abu Bakr al-Baghdadi zur Debatte, der damalige Anführer der islamistischen Terrororganisation Islamischer Staat. Am Ende haben wir uns doch für Putin entschieden, was rückblickend gesehen geradezu visionär war.

2013 wurde in Russland ein Gesetz verabschiedet, das „homosexuelle Propaganda“ unter Strafe stellt. Auch deswegen war der Eurovision Song Contest 2014 so ein Politikum in Russland, weil man unweigerlich mit der Vielfalt in Europa konfrontiert war.

„Keiner hat die geopolitische Situation so nachhaltig und mit so unabsehbarem Ausgang verändert wie der Kreml-Chef“, heißt es in dem Text. Elf Jahre später muss man dem noch eines drauflegen: Keiner hat die stabile Friedensordnung nach dem Ende des Kalten Krieges so sehr in Gefahr gebracht wie Putin. Mit der Ausnahme von Donald Trump vielleicht. Aber das konnten wir vor elf Jahren wirklich noch nicht ahnen.

Wer weiß: Hätte Wurst den ESC im Jahr 2025 gewonnen, dann hätte sie ihre Rede vielleicht an Viktor Orbán oder an Donald Trump gerichtet. Beide haben sich bei Wladimir Putin etwas abgeschaut und auf dem Rücken von sexuellen Minderheiten Politik gemacht und Wahlkämpfe bestritten.

Putin war, was die Instrumentalisierung der LGBTQ-Gemeinde betrifft, ein politischer Trendsetter. Sein gezielt lancierter Kulturkampf hat längst die USA und die EU erreicht. Aber auf eines kann man sich verlassen: dass der ESC eine Gegenveranstaltung dazu bleibt. 2025 hat Österreich den Song Contest erneut gewonnen. Auch diesmal mit einem Sänger, der offen schwul ist – und ein Duett mit Conchita Wurst aufgenommen hat.

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.