Mensch des Jahres 2014

Conchita Wurst und Wladimir Putin: Die Menschen des Jahres 2014

Conchita Wurst und Wladimir Putin sind die Menschen des Jahres 2014.

Drucken

Schriftgröße

Wir werden das Jahr 2014 nicht in allerbester Erinnerung behalten. Wir werden an Seuchen denken, wenn wir an dieses Jahr denken, an Ebola in Westafrika und die Pest auf Madagaskar. Wir werden an Kriege denken, an Konflikte, die sich zu Katastrophen ausgewachsen haben, an Syrien, an den Gazastreifen, an die Ukraine. Wir werden an fanatische Sektierer denken, an Boko Haram, Al-Shabaab und den sogenannten Islamischen Staat. Und wir werden uns daran erinnern, dass nicht alle dieser Katastrophen irgendwo in der Welt passiert sind, als fernes Grauen aus den Fernsehnachrichten. Der Wahnsinn ist uns nahe gekommen. Nicht mit Bomben und Granaten, aber doch mit Angst und Paranoia. Auch österreichische Teenager wollten in diesem Jahr für ihren Gott töten, Krankheiten reisten unerkannt und hatten Panik im Gepäck, der Kalte Krieg rückte näher. Dazu gesellte sich ein tragisches Gefühl: Der soziale Kitt schien zu bröckeln, die westlichen Gesellschaften machten Anstalten, ihre Geselligkeit zu verlieren. Brüche taten sich auf: Zwischen Schwarzen und Weißen in den USA, Männern und Frauen in Österreich, Reichen und Armen überall.

Der Wirtschaft, immerhin, ging es in diesem Jahr auch nicht viel schlechter als zuvor. Allerdings hat sie sich endgültig als chronischer Patient erwiesen. Die Diagnose schwankt zwischen Deflation, Low-flation, Rezession und noch ein paar -ionen der ungesunden Art.

Wer soll einem solchen annus horribilis sein Gesicht geben? Seit sechs Jahren wählt die profil-Redaktion einen "Menschen des Jahres“. Es muss sich nicht zwangsläufig um einen einwandfreien Helden oder eine strahlende Heldin handeln. Zu unseren bisherigen „Menschen des Jahres“ zählten neben Arigona Zogaj (2009), Barack Obama (2008) oder Edward Snowden (2013) auch der tragische griechische Krisen-Premier Giorgos Papandreou (2011) und der deutsche Provokateur Thilo Sarrazin (2010).

Wie jedes Jahr, hätten sich auch heuer mehrere Persönlichkeiten der Weltpolitik als "Menschen des Jahres“ angeboten: Papst Franziskus etwa, der einem neuen Verständnis der katholischen Kirche den Weg geebnet hat. Oder Abu Bakr al-Baghdadi, der als Führer des "Islamischen Staats“ die Verantwortung für den wohl schlimmsten Terror trägt, der derzeit im Namen einer Religion verübt wird.

Der Titel "Mensch des Jahres“ ist jedoch nicht in erster Linie eine Frage von Sympathie oder Abscheu, sondern von konkretem Einfluss. Und darin übertraf der russische Präsident Wladimir Putin in diesem Jahr alle anderen Kandidaten bei Weitem. Keiner hat die geopolitische Situation so nachhaltig und mit so unabsehbarem Ausgang verändert wie der Kreml-Chef. Das militärische Eingreifen Russlands in der Ukraine markiert das Ende einer 25 Jahre währenden Ära europäischer Friedensordnung, die nur durch regionale Konflikte beeinträchtigt war. Was als stabile Ordnung nach dem Ende des Kalten Krieges erschien, hat sich mit der Ukraine-Krise lediglich als trügerische Ruhe entpuppt.

Russland, lange Zeit an den Rand der Weltbühne gedrängt, steht wieder in ihrem Zentrum. Sein Auftritt ist furchteinflößend, und sein Regisseur, Autor und Hauptdarsteller zugleich ist Wladimir Putin.

Dass sich profil zudem entschieden hat, auch die konkret vergleichsweise machtlose Conchita Wurst ex aequo zum Mensch des Jahres zu erklären, hat andere Gründe. Natürlich hat Conchita Wurst die Welt nicht verändert. Sie hat keine Kriege beendet, keine Seuchen geheilt, Conchita Wurst ist keine Politikerin und keine Heilige, auch wenn sie manchmal als Mutter Gottes posiert. Aber sie ist zu einem Symbol geworden. Dafür, dass Toleranz unter gewissen Umständen mehrheitsfähig ist. Dass sich das beharrliche "War-immer-schon-so“ und "Hätt’s-früher-nicht-gegeben“ manchmal auch einem "Warum-nicht?“ öffnen kann. Das hat Hoffnung gemacht in diesem Jahr, das sonst einigermaßen hoffnungslos daherkam. Und nicht zuletzt war unsere Wahl, zugegeben, auch von einem klein bisschen Lokalpatriotismus getragen. Es kommt nicht so oft vor, dass Österreicher die Welt bewegen, und sei es nur in ihrer Haltung.

Wladimir Putin und Conchita Wurst, der düstere Kreml-Herr und die glitzernde Kunstfigur, könnten kaum unterschiedlicher sein: Hier skrupellose Machtpolitik, Nationalismus, antidemokratische Repression und Machogehabe - dort künstlerische Fantasie, Weltoffenheit, Liberalität und Sensibilität.

Dennoch ergibt sich aus ihrer Gegensätzlichkeit auch eine Verbindung. Putin und Wurst stehen für den Wettstreit um diametral entgegengesetzte Lebensentwürfe, der bei Weitem nicht nur in Russland stattfindet ...

Lesen Sie die Titelgeschichte von Tina Goebel, Sebastian Hofer, Martin Staudinger und Robert Treichler in der aktuellen Printausgabe oder als E-Paper (www.profil.at/epaper)!