Die Menschen des Jahres 2014
Wir werden das Jahr 2014 nicht in allerbester Erinnerung behalten. Wir werden an Seuchen denken, wenn wir an dieses Jahr denken, an Ebola in Westafrika und die Pest auf Madagaskar. Wir werden an Kriege denken, an Konflikte, die sich zu Katastrophen ausgewachsen haben, an Syrien, an den Gazastreifen, an die Ukraine. Wir werden an fanatische Sektierer denken, an Boko Haram, Al-Shabaab und den sogenannten Islamischen Staat. Und wir werden uns daran erinnern, dass nicht alle dieser Katastrophen irgendwo in der Welt passiert sind, als fernes Grauen aus den Fernsehnachrichten. Der Wahnsinn ist uns nahe gekommen. Nicht mit Bomben und Granaten, aber doch mit Angst und Paranoia. Auch österreichische Teenager wollten in diesem Jahr für ihren Gott töten, Krankheiten reisten unerkannt und hatten Panik im Gepäck, der Kalte Krieg rückte näher. Dazu gesellte sich ein tragisches Gefühl: Der soziale Kitt schien zu bröckeln, die westlichen Gesellschaften machten Anstalten, ihre Geselligkeit zu verlieren. Brüche taten sich auf: Zwischen Schwarzen und Weißen in den USA, Männern und Frauen in Österreich, Reichen und Armen überall.
Der Wirtschaft, immerhin, ging es in diesem Jahr auch nicht viel schlechter als zuvor. Allerdings hat sie sich endgültig als chronischer Patient erwiesen. Die Diagnose schwankt zwischen Deflation, Low-flation, Rezession und noch ein paar -ionen der ungesunden Art.
Wer soll einem solchen annus horribilis sein Gesicht geben? Seit sechs Jahren wählt die profil-Redaktion einen "Menschen des Jahres“. Es muss sich nicht zwangsläufig um einen einwandfreien Helden oder eine strahlende Heldin handeln. Zu unseren bisherigen "Menschen des Jahres“ zählten neben Arigona Zogaj (2009), Barack Obama (2008) oder Edward Snowden (2013) auch der tragische griechische Krisen-Premier Giorgos Papandreou (2011) und der deutsche Provokateur Thilo Sarrazin (2010).
Wie jedes Jahr, hätten sich auch heuer mehrere Persönlichkeiten der Weltpolitik als "Menschen des Jahres“ angeboten: Papst Franziskus etwa, der einem neuen Verständnis der katholischen Kirche den Weg geebnet hat. Oder Abu Bakr al-Baghdadi, der als Führer des "Islamischen Staats“ die Verantwortung für den wohl schlimmsten Terror trägt, der derzeit im Namen einer Religion verübt wird.
Der Titel "Mensch des Jahres“ ist jedoch nicht in erster Linie eine Frage von Sympathie oder Abscheu, sondern von konkretem Einfluss. Und darin übertraf der russische Präsident Wladimir Putin in diesem Jahr alle anderen Kandidaten bei Weitem. Keiner hat die geopolitische Situation so nachhaltig und mit so unabsehbarem Ausgang verändert wie der Kreml-Chef. Das militärische Eingreifen Russlands in der Ukraine markiert das Ende einer 25 Jahre währenden Ära europäischer Friedensordnung, die nur durch regionale Konflikte beeinträchtigt war. Was als stabile Ordnung nach dem Ende des Kalten Krieges erschien, hat sich mit der Ukraine-Krise lediglich als trügerische Ruhe entpuppt.
Russland, lange Zeit an den Rand der Weltbühne gedrängt, steht wieder in ihrem Zentrum. Sein Auftritt ist furchteinflößend, und sein Regisseur, Autor und Hauptdarsteller zugleich ist Wladimir Putin.
Dass sich profil zudem entschieden hat, auch die konkret vergleichsweise machtlose Conchita Wurst ex aequo zum Mensch des Jahres zu erklären, hat andere Gründe. Natürlich hat Conchita Wurst die Welt nicht verändert. Sie hat keine Kriege beendet, keine Seuchen geheilt, Conchita Wurst ist keine Politikerin und keine Heilige, auch wenn sie manchmal als Mutter Gottes posiert. Aber sie ist zu einem Symbol geworden. Dafür, dass Toleranz unter gewissen Umständen mehrheitsfähig ist. Dass sich das beharrliche "War-immer-schon-so“ und "Hätt’s-früher-nicht-gegeben“ manchmal auch einem "Warum-nicht?“ öffnen kann. Das hat Hoffnung gemacht in diesem Jahr, das sonst einigermaßen hoffnungslos daherkam. Und nicht zuletzt war unsere Wahl, zugegeben, auch von einem klein bisschen Lokalpatriotismus getragen. Es kommt nicht so oft vor, dass Österreicher die Welt bewegen, und sei es nur in ihrer Haltung.
Wladimir Putin und Conchita Wurst, der düstere Kreml-Herr und die glitzernde Kunstfigur, könnten kaum unterschiedlicher sein: Hier skrupellose Machtpolitik, Nationalismus, antidemokratische Repression und Machogehabe - dort künstlerische Fantasie, Weltoffenheit, Liberalität und Sensibilität.
Dennoch ergibt sich aus ihrer Gegensätzlichkeit auch eine Verbindung. Putin und Wurst stehen für den Wettstreit um diametral entgegengesetzte Lebensentwürfe, der bei Weitem nicht nur in Russland stattfindet.
Dass sie wurden, was sie sind, hat nicht nur mit ihrem ganz persönlichen Lebensweg zu tun, sondern auch mit dem gesellschaftlichen und politischen Umfeld, in dem sie geboren, aufgewachsen und groß geworden sind. Putin hat seine Kindheit in der von Armut und Mangel geprägten Nachkriegszeit durchgemacht, die Jugend in der engen Welt des Sowjetkommunismus. Nachhaltig geprägt wurde er durch den Zerfall eines Systems und den damit einhergehenden Verlust aller Sicherheiten. Als der spätere russische Präsident die Auflösung des Ostblocks erlebte, war Tom Neuwirth gerade geboren worden - in eine Phase der Geschichte hinein, in der sich für junge Europäer die Welt zu öffnen begann.
Die bleierne Zeit des Kalten Krieges hatte er nicht mehr erlebt, der Aufbruch der 1990er-Jahre kann selbst an dem Kind vom Land, das er damals war, nicht spurlos vorübergegangen sein. Von Wirtschaftskrise oder islamistischem Terror ahnte noch niemand etwas, dafür war der Fall vieler unüberwindlich geglaubter, sowohl staatlicher als auch gesellschaftlicher Grenzen unübersehbar. Auch, wenn es gerade in der österreichischen Provinz in dieser Zeit noch schwierig war, sich zu seiner homosexuellen Orientierung zu bekennen wie Tom Neuwirth: Er muss gespürt haben, dass es doch immer leichter wurde.
Merci, Cherie
Die österreichische Song-Contest-Gewinnerin Conchita Wurst hat Europa in diesem Jahr die Gewissheit gegeben: Wir sind die Guten. In Wahrheit verhält es sich natürlich sehr viel komplizierter. Niemand weiß das besser als die Künstlerin selbst.
Der Krieger
Wladimir Putin fühlte sich vom Westen herausgefordert und reagierte auf seine Weise: Er zog die Waffe. Das Porträt eines Mannes, der Geopolitik mit den Mitteln betreibt, die er sich einst in den Hinterhöfen von Leningrad angeeignet hat.
Man kann davon ausgehen, dass Wladimir Putin sehr genau weiß, wer Conchita Wurst ist - spätestens seit dem Song Contest. Schon vor dem Bewerb hatte es vor allem aus Russland, wo gerade ein Gesetz gegen "Homosexuellen-Propaganda“ erlassen worden war, schwulenfeindliche Ausfälle gegen die Sängerin gegeben. Nach ihrem Sieg wandte sich Wurst im Fernsehen direkt an den Kreml-Chef: "Ich weiß nicht, ob er zuguckt. Aber falls ja, sage ich ganz klar: Wir sind unaufhaltbar.“
Dieser Zuruf konnte natürlich nicht ungestraft bleiben. Das Ergebnis zeige "Anhängern einer europäischen Integration, was sie dabei erwartet - ein Mädchen mit Bart“, twitterte der stellvertretende russische Regierungschef Dmitri Rogosin. "Schmort in der Hölle, Euro-Homos“, tobte ein anderer Politiker. "Das ist das Ende Europas“, sagte der nationalistische Abgeordnete Wladimir Schirinowski im Fernsehen: "Da unten gibt es keine Frauen und Männer mehr, sondern stattdessen ein Es. Vor 50 Jahren hat die sowjetische Armee Österreich besetzt, es freizugeben war ein Fehler, wir hätten dort bleiben sollen.“
Wer so poltern zu müssen glaubt, fühlt sich offenbar bedroht - und übersieht zudem die Tatsache, dass Conchita Wurst sogar in Russland vom Publikum bejubelt worden war: Im offenen Tele-Voting zum Song Contest kam sie dort auf den dritten Platz, während die offiziell vom Land gestellte Jury den österreichischen Beitrag nur auf Rang elf reihte.
Es wäre naiv, darin einen generellen Protest der russischen Bevölkerung gegen die Homophobie ihrer Führung zu vermuten. Aber es ist doch eine Erinnerung an den Kreml, dass sich nicht alles von oben verordnen lässt - schon gar nicht Sympathie.
Einflussreichtum ist nicht notwendigerweise eine Frage von Macht, und schon gar nicht von Stärke. Der Einfluss, den Wladimir Putin und Conchita Wurst im vergangenen Jahr auf die Welt hatten, könnte unterschiedlicher nicht sein.
Beide stehen auf ihre Weise prototypisch für 2014, in all seinem Schrecken und seiner Schönheit, sie stehen für Rückschritt und Aufbruch, Angst und Hoffnung.
Darum sind diese beiden für profil die "Menschen des Jahres“.
Conchita Wurst
Es geht kein Licht an, wenn Conchita Wurst einen Raum betritt, man spürt kein Knistern in der Luft. Stattdessen: ein Trippeln auf dem Flur, ein Tuscheln mit der Entourage. Dann geht auf dem Damenklo ein Licht an, Frau Wurst ist gleich so weit. Endlich sagt sie, frisch geschminkt, mit heller, leiser Stimme: "Hallo.“ Halbfester Händedruck, sanfter Blick, Small Talk mit dem Kellner. Sie bestellt Cola, lässt sich in ein Sofa fallen, kaum mehr als 50 Kilo schwer, schlägt die Beine übereinander und schaut neugierig.
Erster, starker Eindruck: Conchita Wurst verzichtet auf laute Posen, es wird keine Superstarshow geboten. Den Klischees, an denen sich Menschen, die beruflich auf Bühnen stehen, sonst so aufrichten, lässt sie mit einem Wimpernschlag die Luft raus. Conchita Wurst ist in sehr vielen Aspekten sehr besonders, im persönlichen Umgang aber total normal. Aber was ist schon normal? Schon nach fünf Sekunden steht somit die zentrale Frage im Raum. Die zweite, weniger entscheidende Frage: Meint Conchita Wurst das wirklich ernst, wenn sie über ihren Beruf sagt: "Es ist immer noch Unterhaltung und keine Herzchirurgie“?
Das ist die Untertreibung des Jahres. Was Conchita Wurst macht und was sie damit bewirkt, ist natürlich viel mehr als Unterhaltung oder Herzchirurgie. Es ist Politik, es ist Philosophie, es ist Leben. Conchita Wurst hat in diesem Jahr am wahrscheinlich unwahrscheinlichsten Ort für derartige Offenbarungen - nämlich auf der Bühne des Eurovision Song Contest - gezeigt: Pop ist politisch. Pop verändert Leben. Pop schreibt Geschichte.
Wenn die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel in diesem Jahr mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin telefonierte - und es gab viele gewichtige Gründe für solche Telefonate -, dann war Conchita Wurst, auch wenn sie vielleicht nicht explizit angesprochen wurde, ein Thema.
Wenn sich Europa in diesem Jahr selbst betrachtete und etwas sehen wollte, das Mut machte und sich positiv abhob von dem Wahnsinn, der die Welt heuer fest im Griff hatte, dann blickte es auf Conchita Wurst.
Wenn Mädchen in diesem Jahr ihren Brüdern Lippenstift zum Ausprobieren borgten, bevor sie selbst zum Fußballtraining gingen, dann war Conchita Wurst im Geiste dabei, und vielleicht sogar als Poster an der Kinderzimmerwand.
Und wenn Werner Faymann auch nur irgendetwas richtig gemacht hat in diesem Jahr, dann dadurch, dass er für Conchita Wurst nach ihrem Song-Contest-Sieg eine große Bühne auf dem Ballhausplatz stellte und sie als österreichische Botschafterin in der Welt inthronisierte.
Andererseits: Dafür hätte Conchita den Bundeskanzler wirklich nicht gebraucht.
Als Treffpunkt für das profil-Interview hat Conchita Wurst das Hotel Ruby in den Wiener Sofiensälen vorgeschlagen, und es ist nicht vorstellbar, dass damit kein Statement gesetzt werden soll. Selbst in Wien gibt es wenige Orte, die so geschichtsträchtig sind: Benannt nach der Mutter von Kaiser Franz Joseph, eröffnet unter der musikalischen Leitung von Johann Strauß Vater, klassizistischer Bau, jüngere Fassade im Secessionsstil. Karl May hielt hier kurz vor seinem Tod seinen berüchtigten Vortrag "Empor ins Reich der Edelmenschen“, im Publikum saßen damals Karl Kraus, Bertha von Suttner und Adolf Hitler. Die österreichische NSDAP wurde hier gegründet, die Philharmoniker spielten nach dem Krieg hier ihre Platten ein, noch später wurden die Sofiensäle zur Clubbing-Location, schließlich zur Brandruine und zum Spekulationsobjekt - die Geschichte von Österreich in der Nussschale.
Conchita Wursts Geschichte hat viele Anfänge, sie liegen unter anderem im Salzkammergut und am Küniglberg, vor allem aber natürlich am Öresund.
Zum Zeitpunkt des Gesprächs ist es genau 207 Tage her, dass Conchita Wurst auf der Bühne der Kopenhagener B&W Hallerne stand, ein paar Tränen verdrückte und zum zweiten Mal an jenem Abend "Rise Like A Phoenix“ sang. Gerade hatte sie mit dem Lied das Finale des Eurovision Song Contest gewonnen, mit Respektabstand und 290 Punkten, woraufhin sich die dänische Saalmoderatorin an einer Sportreporterfrage versuchte: "Hast du überhaupt noch Worte?“ Wurst, als hätte sie nie etwas anderes gemacht, als Worte für die Ewigkeit in Mikrofone zu sagen: "Die hab ich. Ich widme diesen Abend all jenen, die an die Zukunft von Friede und Freiheit glauben. Ihr wisst, wer ihr seid. Wir sind eine Gemeinschaft. Und wir sind nicht zu bremsen.“
A star was born. Noch in ihrer Umkleidekabine in der B&W Hallerne fand Conchita ein Bouquet mit einer Grußkarte vor: "We love you, Elton and David“. Die kleine Aufmerksamkeit stammte von Sir Elton John und seinem Lebenspartner David Furnish. Eine ähnliche Idee hatte auch Modeschöpfer Jean Paul Gaultier, der via Blumenpost seine "unstoppable love“ ausrichten ließ. Etwas weniger rosig die Botschaft von Cher, übermittelt via Twitter: "Darling, du verdienst einen schöneren Namen und eine bessere Perücke.“ Conchita Wurst behielt Name und Haarpracht und absolvierte in der Folge umjubelte Auftritte in Wien, London, Madrid, Stockholm, Amsterdam und am Landler Kirtag. Weiters folgten: ein Engagement im Pariser Varieté "Crazy Horse“, in dem Frau Wurst als erste Travestiekünstlerin überhaupt auftrat, Begegnungen mit UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon und der französischen "Vogue“-Legende Carine Roitfeld, eine Fotosession mit Karl Lagerfeld und ein Defilee für Jean Paul Gaultier, mit dem Wurst seither per "Jean Paul“ ist.
Die Künstlerin vermittelt glaubwürdig, dass ihr das Tempo ihres Aufstiegs auch selbst ein wenig unheimlich vorkommt. "Natürlich ist das irre. Oft war ich auch einfach sprachlos. Aber ich verspüre zum Glück keine Hysterie, wenn ich Prominente treffe. Und bei aller Verehrung: Natürlich arbeiten Leute wie Roitfeld oder Lagerfeld auch aus egoistischen Gründen mit mir. Dann können sie später sagen: Sie waren die Ersten. Es ist immerhin ihr Job, Trends zu erkennen.“
Zu Conchita Wursts eigenen Jobs gehören inzwischen auch zahlreiche Werbe-Engagements, darunter eine große Kampagne für eine sehr große österreichische Bank. Noch einmal, ganz langsam: eine große österreichische Bank. Wirbt mit einer Dragqueen. Ganz im Ernst. Ohne Augenzwinkern. Ohne Paradiesvogel-Signal oder "schriller“ Botschaft. Irgendetwas ist eindeutig passiert im Sommer 2014.
Vielleicht wird man in zehn Jahren zurückdenken und sich fragen, was das denn gewesen sein mag, in diesem verrückten Sommer 2014, als ganz Österreich, das Land der Söhne und Bestimmtnichttöchter, einer bärtigen Frau verfiel, die eigentlich ein junger Mann war. Ein Sommer, in dem das ganz normal schien, sogar sehr erfreulich, und nur ein paar Unverbesserliche ihre Homophobie gar nicht in den Griff bekommen mochten. Vielleicht wird man sich an diesen verrückten Sommer erinnern und denken: Seltsam, was es damals alles gab. Oder man wird sich an einen Meilenstein erinnern, an einen Wendepunkt, ab dem es wirklich egal wurde, wie jemand sich selbst fühlt und kleidet und gibt.
Was wird bleiben von Conchita Wurst? Was wird noch kommen? Und wer ist das eigentlich: Conchita Wurst?
Spurensuche in Bad Mitterndorf, einer Gemeinde im Salzkammergut, Bezirk Liezen, Hinterberger Tal, 3127 Einwohner, ab Anfang 2015 Gemeindezusammenschluss mit Pichl-Kainisch und Tauplitz. Attraktion: größte Naturschanze der Welt (Kulm) prominente Bürger: Hubert Neuper (Skispringer), Wolfgang Loitzl (Skispringer). Tom Neuwirth, geboren am 6. November 1988, übersiedelt als Zweijähriger mit seinen Eltern Siegfried und Helga von Grieskirchen hierher, der Vater übernimmt eine Gastwirtschaft im Ort, in seiner Freizeit schnitzt er Krippen. Dass Tom, der jüngere Sohn der Familie, schon als Volksschüler am liebsten Frauenkleider trägt, ist so lange kein Problem, wie im Ort niemand blöd darüber redet. Das Reden der anderen ist sehr wichtig im Dorf, für den Dorfwirten sogar noch viel wichtiger. Ländliche Leitfrage: Was sollen die Leute denken?
Nach der Schule zieht sich der Bub auf den Dachboden zurück - eine Flucht nach oben - und näht Kleider, träumt von großen Bühnen, singt Popsongs und Schlager. Man darf sich das nicht schlimmer vorstellen, als es war. Es war auch so schlimm genug. "Ich habe keine traumatischen Kindheitserfahrungen. Ich wurde nie physisch attackiert. Bekannte von mir haben viel Schrecklicheres erlebt. Ich wurde höchstens einmal gehänselt. Aber das werden Kinder mit Brille oder Zahnspange auch. Trotzdem war es, vor allem in meiner frühen Pubertät, nicht immer ganz leicht.“
Dass ihr Sohn schwul ist, wird für Siegfried und Helga Neuwirth erst kurz vor dessen 18. Geburtstag zur Gewissheit. Tom ist zu diesem Zeitpunkt schon vier Jahre von zu Hause weg, zunächst in Graz auf der Modeschule, dann in Wien bei der ORF-Castingshow "Starmania“. Das ist im Jahr 2006, Tom Neuwirth beweist großes Talent als Sänger und Entertainer, gibt irgendwie natürlich auch "Sweet Transvestite“ aus der "Rocky Horror Picture Show“ und outet sich in einem Interview mit der Programmzeitschrift "TV Media“ als homosexuell. Die Eltern haben es nur knapp nicht aus der Zeitung erfahren. Das bereut er bis heute: "Mich zu outen, ohne meine Eltern früh genug zu informieren, war einer der großen Fehler meines Lebens. Ein paar Tage nach ihnen hat es ganz Österreich gewusst, und natürlich jeder in unserem Dorf. Sie haben es wohl schon geahnt, aber ich habe ihnen die Zeit genommen, die ich selbst hatte, um damit klarzukommen. Das habe ich erst später verstanden und tut mir heute sehr leid.“
Tom Neuwirth beendet "Starmania“ als Zweitplatzierter hinter Nadine Beiler, hängt noch ein paar Monate mit der mittelprächtigen Casting-Boyband "jetzt anders!“ an, geht dann wieder nach Graz, schließt die Schule ab, geht wieder nach Wien, arbeitet in einer Boutique. Und immer noch trägt er sehr gern Frauenkleider.
Am Tag des Song-Contest-Finales strahlte der ORF eine Dokumentation über Conchita Wursts Herkunft und Werdegang aus, darin war eine bemerkenswerte Szene zu sehen: Conchita in voller Montur im Gasthaus ihrer Eltern, die Dorf-Honoratioren haben fürs Fernsehen ihre schönsten Gamsbärte und Steireranzüge angelegt. Conchita hält vor der Gemeinde eine Ansprache. Zwischen Grieskirchner-Bierkrügen, dunkler Holzvertäfelung und gekacheltem Boden steht eine zierliche Frau mit Bart. Allein dieses Bild ist eine Grenzüberschreitung. Man reibt sich die Augen und hört eine Stimme aus dem Volk: "A Mensch is a Mensch.“
Natürlich sahen das nicht alle so. Im Schutz der sozialen Netzwerke wurde gegen die Song-Contest-Siegerin gehetzt, an manchen Stammtischen klang das wahrscheinlich ganz ähnlich: "Erschießt die Fotze“, war da zu lesen. Oder: "So was hätte man früher direkt von der Bühne geschossen.“ Teile des offiziellen Österreich gaben sich etwas mehr Mühe, ihre mangelnde Passion für Frau Wurst schönzureden, der damalige Gerade-Noch-ÖVP-Chef Michael Spindelegger etwa gratulierte ganz explizit dem "Künstler Tom Neuwirth und seiner Kunstfigur Conchita Wurst“, FP-Chef Heinz-Christian Strache hielt noch einmal fest, dass es, bei aller berechtigten Gratulation, eben eine "Unterschiedlichkeit von Auffassungen“, derartige Kunstfiguren betreffend, gebe.
Die konservativen Parteichefs konnten durchaus mit stillschweigender Zustimmung spekulieren. In einer von profil beauftragten Umfrage vom Mai dieses Jahres gaben zwar 71 Prozent der Österreicher an, mit Conchita Wurst als Nachbarin kein Problem zu haben, 65 Prozent wären sogar mit ihr auf einen Kaffee oder ein Glas Wein gegangen. Nur 42 Prozent meinten aber, dass gleichgeschlechtliche Paare Kinder adoptieren sollten. profil-Chefredakteur Sven Gächter kommentierte das Ergebnis in seinem Leitartikel damals so: "Die Ressentiments sind keineswegs ausgerottet, sie haben es im Moment nur schwerer, sich ungebremst Bahn zu brechen.“ Immerhin: "Darin darf man durchaus einen zivilisatorischen Fortschritt erkennen.“
Aber erkennt man diesen Fortschritt auch noch, wenn man mitten im Shitstorm steht, Frau Wurst? "Ich muss nicht jedem gefallen. Aber wenn sich einer derart in seinen Hass hineinsteigert, frage ich mich schon, ob ich ihm vielleicht nicht doch wichtiger bin, als er es sich selbst eingestehen will. Manche Kommentare werfen auch die Frage auf, wie aufgeklärt manche Leute sind. Einige haben ja im Ernst gefragt, ob ich jetzt schwanger werden möchte. Da ist man dann schon ein bisschen fassungslos.“
Zur Aufklärung: Tom Neuwirth ist Conchita Wurst. Conchita Wurst ist eine Dragqueen. Tom Neuwirth ist ein Mann. Travestie ist nicht gleich Transsexualität. Eine Perücke ist eine Perücke, ein Rock nur ein Stück Stoff. Und wenn keiner zusieht, ist Conchita natürlich Tom. So einfach ist das. "Bin ich sehr lange am Stück nur Tom oder sehr lange nur Conchita, merke ich doch, dass mir das andere zu fehlen beginnt. Aber es braucht bei mir nicht viel, um wieder in die Balance zu finden. Wenn ich nach einem langen Tag als Conchita im Hotelzimmer ankomme, mich abschminke, endlich die High Heels ausziehen und die Korsage ablegen kann, ist das, ganz banal, auch eine ziemliche Erleichterung. Wir Dragqueens jammern nicht, aber natürlich besteht dieses Outfit zu 70 Prozent aus Schmerz.“ Zur Ergänzung: schwarze High Heels von Daniele Michetti, schwarze Strümpfe und schwarzes Oberteil von Wolford, schwarzer Lederrock ("von Zara, glaube ich“), Schmuck von Heldwein, "Haare aus London“.
Conchita Wurst lacht, durchaus auch ein bisschen über sich selbst. Das Besondere an ihr ist auch, wie wenig sie an die eigene Besonderheit glaubt - weil sie mit gutem Grund davon ausgeht, dass das alles ganz normal ist. Genau darum mangelt es Conchita Wurst auch an Sendungsbewusstsein. Sie will keine Botschafterin sein für irgendwas, keine Galionsfigur für irgendwen, keine Vorzeige-Transe fürs Familienfernsehen. Sie will Conchita Wurst sein - und zu Hause, wenn keiner mehr zusieht, wieder Tom Neuwirth. "Ich habe selbst keine Erwartungen, und ich möchte auch keine erfüllen müssen. Es ehrt mich zwar, dass viele in mir nun etwas ganz Bestimmtes sehen, in das sie Erwartungen setzen. Aber ich habe niemals etwas versprochen. Ich bin aus egoistischen Motiven zum Song Contest gefahren. Und wenn ich Menschen wie Ban Ki-Moon treffe, dann spreche ich dort nicht für eine bestimmte Community, sondern freue mich ganz persönlich, dass ich einen der wichtigsten Menschen auf diesem Planeten treffen darf. Sollte ich mich doch einmal vereinnahmen lassen, dann liegt das ausschließlich daran, dass ich sehr harmoniesüchtig bin.“
Nach Kopenhagen, Paris, Madrid und Brüssel erreichte Conchita Wurst im Lauf dieses seltsamen Sommers irgendwann auch Horn. Das örtliche Museum verfügt über ein Bildnis der Heiligen Wilgefortis, auch Kümmernis genannt, eine apokryphe Heilige, die im Sommer 2014 zum Ziel eines Pilgerstroms wurde. Irgendwie logisch: Wilgefortis, Tochter eines heidnischen Königs, soll, so die Legende, mit einer derartigen Inbrunst gegen ihre drohende Zwangsverheiratung angebetet haben, dass der liebe Gott ihr zum Schutz vor dem Zukünftigen einen Bart spendierte, was ihren lieben Vater aber leider nur dazu veranlasste, die Unglückliche ans Kreuz zu schlagen. Und sah Conchita auf manchen Fotos nicht wirklich aus wie eine Heilige?
In kirchenkundigen Kreisen der ÖVP wird man diese Geschichte vielleicht auch schon ante Conchitam gekannt haben, trotzdem wurde die Volkspartei von der sommerlichen Seligsprechung der bärtigen Chansonnière auf dem falschen Fuß erwischt. Die SPÖ dagegen setzte in der postkopenhagener Toleranzstimmung ein paar zarte Wirkungstreffer in Richtung schwarzes Reichsviertel, drängte sanft auf mehr Rechte für Homosexuelle und Transgenderpersonen. Dagegen ließ sich in diesem seltsamen Sommer kaum etwas sagen. Österreich war schließlich das tolerante Herz Europas, und ganz Europa war stolz auf seine Toleranz und damit auch auf Österreich, zumindest die linke Hälfte Europas.
Rechts drüben, also von Wien aus in Richtung Osten, war das völlig anders, in Ungarn zum Beispiel machte die rechte Jobbik-Partei mit Conchita Wurst (Anti-)Europawahlkampf, wobei die österreichische Dragqueen natürlich nicht als vorbildliches Rollenmodell beworben wurde. Noch weiter rechts war es noch schlimmer, der russische Extrempolitiker Wladimir Schirinowski sprach vom "Ende Europas“ und meinte: "Unsere Empörung ist grenzenlos.“ Das war insofern ein schöner Gag, als die Anerkennung von Grenzen und ähnliche nationalstaatliche Souveränitätsfragen in diesem Jahr ja ein nicht ganz unwesentliches Thema in den russisch-europäischen Beziehungen waren.
Der Eurovision Song Contest 2014 wird, im Lichte dieser Beziehungskrise, als Sonderfall in die Geschichte eingehen. Natürlich ging es bei dem Gesangswettbewerb schon immer um mehr als nur schlechte Kostüme und komische Kadenzen; schon immer wurde in diesem "europäischen Musikparlament“ (Peter Kümmel in der "Zeit“) auch allerlei Nationalistisches verhandelt und ganz genau beobachtet, ob etwa die Schweizer mit den Liechtensteinern gegen die Österreicher packeln oder ob die Balkanstaaten eh brav friedlich zueinander sind. Diesmal ging es aber um Grundsätzlicheres, nämlich um Werte. Die Erkältung der Verhältnisse zwischen Russland und der Europäischen Union beruhte schließlich nicht allein auf militärstrategischen Überlegungen, NATO-Einflusssphären und Gaspipeline-Verlegungen, sondern auch auf der Frage, ob Europa verweichlicht und dekadent sei und Russland dagegen echte, männliche Stärke verkörpere. Europa war offenbar nicht dieser Meinung, bewies das geschlossen mit der Krönung von Conchita Wurst und konnte sich hinterher sicher sein: Wir sind die Guten.
Das ist die einfache Version der Geschichte. Die komplizierte: Auch in Europa ist echte, männliche Stärke ein bleibender Wert, auch in Europa wird massenhaft gegen Homo-Ehen demonstriert und gegen Transgenderpersonen gepöbelt. Wir sind manchmal auch ziemlich böse. Und selbst in Österreich war man sich, in einer anderen Frage, gar nicht so sicher, wie viel Weiblichkeit ein Land eigentlich vertragen könne. Es wird zu den bleibenden Seltsamkeiten dieses Sommers gehören, dass sich Österreich an einer halben Hymnenzeile sämtliche Reißzähne ausgebissen, aber einen Transvestiten als nationales Maskottchen ganz gut verkraftet hat. Vielleicht lag es ja daran, dass Conchita im Grunde ihrer Korsage eben doch ein Mann ist. Vielleicht lag es auch daran, dass Patriotismus stärker wiegt als Sexismus: "Die hat uns den Schas gewonnen“ (Andi Knoll) - also darf die das.
Frau Wurst selbst fühlt sich, zumindest in der Hymnendebatte, nicht zu einem abschließenden Urteil berufen: "Ich habe mir dazu wirklich noch keine Meinung gebildet. Ich verstehe beide Seiten. Aber das will ja niemand hören, die Medien interessiert ja nur: Entweder - oder.“ Weiß sie denn zumindest, welche Version sie singen würde? "Ich würde natürlich ‚The Star-Spangled Banner‘ singen.“ Lachen, langer Wimpernschlag: "Nein, im Ernst: Ich würde natürlich die aktuelle Version singen. Und vielleicht würden mir noch ein paar geschlechtsneutrale Formulierungen einfallen.“
Toleranz ist für Conchita Wurst keine Einbahnstraße. Auch in Richtung russischer Radikaler versucht sie Verständnis: "Mir ist sehr genau bewusst, dass an jede Persönlichkeit im öffentlichen Leben eine gewisse Erwartungshaltung gerichtet ist. Und wer sich dem beugt, muss manchmal eine Haltung einnehmen, die ihm selbst vielleicht zuwider ist. In meinem Song ‚Heroes‘ geht es darum, dass alle Menschen unschuldig geboren werden. Erst Erziehung und Gesellschaft formen uns. Ich glaube fest daran, dass auch religiöse und politische Machthaber über eine solche urtümliche Unschuld verfügen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie einfach nur das Pech haben, gerade ganz vorne in der Öffentlichkeit stehen zu müssen. Und dann frage ich mich immer: Würde ich an ihrer Stelle ähnlich handeln? Ich weiß es nicht. Ich habe ja keine Ahnung, unter welchem Druck diese Personen stehen. Trotzdem nehme ich mir für mich das Recht heraus, zu sagen: Würdet ihr anders reagieren, wäre es viel schöner.“
Schön wär’s tatsächlich.
Wladimir Putin
Wladimir Putin fühlte sich vom Westen herausgefordert und reagierte auf seine Weise: Er zog die Waffe. Das Porträt eines Mannes, der Geopolitik mit den Mitteln betreibt, die er sich einst in den Hinterhöfen von Leningrad angeeignet hat.
Es ist eine Vorstellung, so weit hergeholt und furchteinflößend zugleich, dass sie bis vor Kurzem vollkommen abwegig erscheinen musste: Krieg zwischen Russland und Europa - das war undenkbar, nicht nur nach den Erfahrungen der jüngeren Geschichte, sondern auch mangels jeglichen ernsthaften Anlasses.
Dennoch ist nun wieder die Rede davon. Helmut Schmidt warnte in einem Essay für die "Zeit“ bereits im vergangenen September vor der Gefahr einer bewaffneten Auseinandersetzung, 60 prominente Landsleute des deutschen Altkanzlers formulierten Anfang Dezember einen Aufruf ähnlichen Inhalts: "Niemand will Krieg. Aber Nordamerika, die Europäische Union und Russland treiben unausweichlich auf ihn zu, wenn sie der unheilvollen Spirale aus Drohung und Gegendrohung nicht endlich Einhalt gebieten“, hieß es darin.
Vieles an diesem Appell - der unter anderem von Ex-Bundespräsident Roman Herzog, dem früheren Regierungschef Gerhard Schröder und dem Regisseur Wim Wenders unterzeichnet wurde - ist höchst fragwürdig. Aber alleine die Tatsache, dass er überhaupt verfasst wurde, beweist dramatische Verwerfungen auf einem Kontinent, für den ein anderer Zustand als Frieden unvorstellbar geworden war.
Mitten in Europa hat sich ein tiefer Riss zwischen zwei Machtblöcken aufgetan, die ohnehin erst dabei waren, nach Jahrzehnten ideologischer Frontstellung zu einer freundschaftlichen Koexistenz zu finden. Wie zuletzt im Kalten Krieg ist nun wieder die Rede von Abschreckung. In Osteuropa werden Bodentruppen hin und her geschoben, und zwar nicht nur auf Generalstabskarten. Kampfjets und Langstreckenbomber liefern sich am Himmel über dem Atlantik Hetzjagden. Marineverbände kreuzen in der Ostsee und im Schwarzen Meer. Wirtschaftssanktionen werden verhängt, Diplomaten ausgewiesen, transkontinentale Pipelineprojekte abgesagt.
Konkreter Auslöser dieser besorgniserregenden Entwicklung ist Wladimir Putins Aggressionspolitik in der Ukraine. Die Vorgeschichte mag komplex, von Provokationen und Fehlern des Westens beeinflusst und bei Weitem nicht auf eine Alleinschuld Russlands zu reduzieren sein. Zur unmittelbaren Eskalation führte jedoch zweifelsohne die Entscheidung des Kreml-Chefs, als Antwort auf den Euromaidan-Umsturz in Kiew erst die Krim zu annektieren und dann einen separatistischen Aufstand in der Donbass-Region anzuzetteln: Dort tobt der Krieg, vor dem Schmidt, Schröder und die anderen für Europa warnen, inzwischen längst.
Und seine Auswirkungen gehen weit über die Region hinaus. Die Isolation Russlands gegenüber dem Westen gefährdet Friedensbemühungen in anderen internationalen Konflikten - Iran, Syrien. Die NATO, nach dem Desaster in Afghanistan desillusioniert, orientierungslos und an den Rand der Bedeutungslosigkeit gedrängt, kann sich wieder als Militärbündnis aufplustern.
Auch innerhalb der westlichen Gesellschaft tun sich erbitterte Gegensätze anhand der Frage auf, wie mit der Krise umzugehen sei. Die in Europa vielfach erhobene Forderung nach Gerechtigkeit für Russland speist sich zum Teil gewiss aus Sorge um den Frieden - aber auch aus Ernüchterung gegenüber der Demokratie, Sehnsucht nach starker Führung und einer tiefsitzenden Ablehnung der USA. Anders ist nicht zu erklären, wie hartnäckig ihre Verfechter die Missachtung von Meinungsfreiheit, Menschen- und Minderheitenrechten unter Putin ausblenden oder durch Hinweise auf ähnliche Verfehlungen des Westens beiseitewischen.
Die Ereignisse des Jahres 2014 markieren das Ende der scheinbar zukunftsträchtigen Ordnung des Kontinents nach dem Zusammenbruch der Sowjet-union - und den Beginn einer neuen Ära, die weniger von Hoffnung und Aufbruch geprägt sein dürfte als jene zuvor.
Das politische System Russlands ist für Außenstehende schwer durchschaubar. Aber nach allem, was man darüber weiß, ist es tatsächlich Wladimir Putin, der die meisten großen Entscheidungen alleine trifft.
In Russland gilt Wladimir Putin als Nationalheld. Das ist weitaus mehr, als er je erwarten konnte - nicht nur aufgrund seiner Herkunft aus einfachsten Verhältnissen. Auch sein beruflicher Hintergrund als KGB-Offizier machte ihn nicht unbedingt zum Sympathieträger. Und selbst das Präsidentenamt ist in Russland alles andere als ein Garant für Beliebtheit: Boris Jelzin wurde als trunksüchtiger Tollpatsch mit raffgieriger Entourage verachtet, Michail Gorbatschow als Totengräber der Weltmacht UdSSR. Von den sklerotischen Parteiführern der Sowjet-Ära ganz zu schweigen: Über sie machte man höchstens Flüsterwitze.
Über Putin hingegen werden sogar Popsongs gedichtet: "Takogo kak Putin“ ("Einer wie Putin“) heißt der bekannteste, und sein Refrain lautet: "Ich will einen Mann wie Putin, der stark ist / einen wie Putin, der kein Säufer ist / einen wie Putin, der mir nicht wehtut / einen wie Putin, der mich nicht verlässt.“
Nichts davon kündigt sich an, als Wladimir Putin am 7. Oktober 1952 in Leningrad (heute St. Petersburg) geboren wurde. Die Familie hat im Krieg gegen die Nazis schwer gelitten. Vater Wladimir Spiridonowitsch ist nach einer lebensgefährlichen Verwundung invalid, Mutter Maria Iwanowa muss während der mehr als zwei Jahre dauernden Belagerung der Stadt durch die Wehrmacht mitansehen, wie ihr zweitgeborener Sohn an Typhus stirbt. Ein weiteres Kind hat sie bereits zuvor verloren. Das dritte, Wladimir, lässt die gläubige orthodoxe Christin taufen und hängt ihm ein Aluminiumkreuz um den Hals. Der Kreml-Chef trägt es heute noch.
Die Putins leben auf engstem Raum in einer Kommunalka, einer Gemeinschaftswohnung, in der sie sich Küche und Bad mit anderen Mietern teilen müssen. Einen großen Teil der Zeit verbringt Wladimir im Hof des Baus, wo er sich zu einem gefürchteten Schläger entwickelt - so will es zumindest die Legende, die der Kreml-Chef selbst stolz verbreitet.
Noch im Teenager-Alter fasst Putin den Entschluss, beim KGB anzuheuern. Angeblich ist es der Film "Schild und Schwert“, ein Thriller um einen Sowjet-Agenten im Berliner Hauptquartier der SS, der ihn für den Geheimdienst-Moloch begeistert. Nach dem Jus-Studium wird er an der Schule 401 aufgenommen und für Spionage-Abwehr ausgebildet. Sein Abschluss-Dekret enthält Lob für "analytische Denkweise“, aber auch Tadel für mangelnde Kommunikationsbereitschaft und "verringertes Risikobewusstsein“.
Sein erster und einziger Auslandsposten ist nicht wirklich prestigeträchtig: Die Industriestadt Dresden in der DDR. Ein Stasi-Kollege erinnert sich an die "große Bewunderung für deutsche Kultur und Disziplin“, die der russische Offizier hegt. Putin selbst bezeichnet die DDR in seiner Autobiografie als "strikt totalitäres Land, wie die Sowjetunion 30 Jahre zuvor“ und stellt fest: "Die Tragödie ist, dass viele Menschen ernsthaft an all diese kommunistischen Ideale geglaubt haben.“
Die Wende erlebt er als chaotisch - und zumindest ein Mal auch als persönlich bedrohlich. Im Dezember 1989 versuchen aufgebrachte Demonstranten, die KGB-Zentrale in Dresden zu stürmen, die nahegelegene russische Armee-Garnison weigert sich, einzugreifen: In Moskau ist niemand zu erreichen, der Befehle geben würde. Putin als kommandierender Offizier ist auf sich alleine gestellt und schlägt die Menschenmenge mit gezogener Waffe in die Flucht.
"Ich hatte das Gefühl, dass das Land (Russland, Anm.) nicht mehr existierte, dass es verschwunden war“, berichtet er. Der wenig später einsetzende Zerfall der Sowjetunion bedeutet für ihn die "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“.
Putin durchlebt diese Phase in St. Petersburg, wo er kurzfristig sogar in Betracht zieht, Taxifahrer zu werden, um seine Familie durchzubringen. Doch dann findet er einen Job als Assistent von Anatoly Sobchak, dem ersten frei gewählten Bürgermeister. Auch hier: Ernüchterung über die neuen Zeiten. "Wir dachten, wir führen die Prinzipien der parlamentarischen Demokratie direkt auf Stadtebene ein. Es wurde ein Schrecken ohne Ende“, erinnert sich Putin.
Der Versuch, als Wahlkampfleiter für die Partei "Unsere Heimat ist Russland“ zu reüssieren, endet mit einer bitteren Niederlage. Dennoch erwirbt sich Putin den Ruf von Fleiß, Effizienz - und einer Unkorrumpierbarkeit, die im russischen Jahrzehnt der hemmungslosen Bereicherung alles anders als typisch ist.
Als Sobchak abdankt, verlässt auch Putin St. Petersburg und wechselt 1996 in die Kreml-Administration, offenbar auf Empfehlung des Oligarchen Boris Beresowsky, der später vom Förderer zum Todfeind wird.
In Moskau beschleunigt der politische und private Niedergang von Boris Jelzin die Karriere Putins.
Mai 1998: Ernennung zum Vize-Stabschef des Präsidenten.
Juli 1998: Ernennung zum Chef des FSB, der Nachfolgeorganisation des KGB - offenbar mit dem Hintergedanken, den Geheimdienst davon abzuhalten, sich mit den Umtrieben der Familie Jelzin zu beschäftigen.
August 1999: Ernennung zum Premierminister. Putin beteuert, er habe sich um den Job nicht gerade gerissen: "Na gut, dann mache ich eben das ein Jahr, was soll’s? Wenn ich Russland vor dem Kollaps retten kann, habe ich etwas, worauf ich stolz sein kann. Es war eine Phase in meinem Leben, danach würde ich zur nächsten übergehen.“
Neujahr 2000: Ernennung zum Präsidenten der Republik Russland.
Dass Putin aus dem Nichts gekommen sei, wie vielfach kolportiert, ist angesichts dieser Laufbahn eine unhaltbare Behauptung. Im politischen Apparat Russlands ist er wohlbekannt und gut verankert.
Draußen in der Welt kennt man ihn allerdings nicht. Ihr tritt der neue Kreml-Chef als konzilianter, westlich orientierter Pragmatiker entgegen, der für Meinungsfreiheit und Minderheitenrechte eintritt, einen Beitritt seiner Heimat zur NATO nicht für ausgeschlossen hält und in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag fast scheu versichert: "Russland ist ein freundliches europäisches Land.“
14 Jahre nach Amtsantritt klingt Wladimir Putin ganz anders - hart und martialisch: "Es wird niemandem gelingen, militärische Überlegenheit gegenüber Russland zu erlangen“, sagt er in seiner diesjährigen Rede zur Lage der Nation Anfang Dezember an die Adresse des Westens: "Unsere Armee ist modern und kampffähig. Wie man heute sagt, höflich, aber abschreckend. Für die Verteidigung unserer Freiheit werden wir genug Kraft, Willensstärke und Mut haben.“
Russland selbst hat während der mittlerweile drei Legislaturperioden Putins als Präsident und zwei als Ministerpräsident eine massive Einschränkung der Bürger- und Freiheitsrechte durchgemacht. Nahezu alle wichtigen Medien befinden sich unter staatlicher Fuchtel, Demonstrationen werden niedergeschlagen, aufmüpfige Oppositionelle wie die Mitglieder der Gruppe Pussy Riot ins Gefängnis geworfen. Der Kreml ist auf einen dezidiert nationalistischen Kurs eingeschwenkt, die orthodoxe Kirche hat ebenso an Einfluss gewonnen wie dubiose Verfechter einer "eurasischen“ Ideologie. Und alle gemeinsam gerieren sich als Bollwerk gegen den "dekadenten“ Westen mit seinem Faible für Frauen-, Schwulen-, und Minderheitenrechte.
Was als "gelenkte Demokratie“ begann, ist inzwischen zur offen autoritären Herrschaft verkommen. Der Popularität Putins in Russland tut das keinen Abbruch - eher im Gegenteil. Das liegt zum einen daran, dass er geschickt die Bedürfnisse einer mehrheitlich stockkonservativen Gesellschaft bedient: "100 Kilometer außerhalb von Moskau kann man das 17. Jahrhundert sehen. Eine Europäisierung Russlands wurde gewaltsam oktroyiert und hat nur bei der aufgeklärten Schicht stattgefunden“, analysierte der Schriftsteller Viktor Jerofejew kürzlich in einem Interview mit der "Presse“.
Es liegt aber auch daran, dass Putin die Reichtümer, die der nach und nach re-nationalisierte Energiesektors des Landes anhäufte, für die soziale Absicherung der Bevölkerung und den Aufbau einer Mittelklasse einsetzte - die vorerst noch über die komplett vernachlässigte Modernisierung und Diversifizierung der Wirtschaft hinwegtäuscht.
Nicht zuletzt liegt es schließlich daran, dass in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten viel passiert ist, was in den Augen von Volk und Führung offenbar eine Politik der eisernen Faust rechtfertigt.
Als Waldimir Putin Präsident wurde, übernahm er ein devastiertes Land. Russland hatte die höchste Sterbe- und die geringste Geburtenrate Europas. Der Staatsbesitz war während der Wirtschaftsliberalisierung der 1990er-Jahre von Oligarchen geplündert, ein großer Teil der Förderlizenzen für Bodenschätze an ausländische Investoren vergeben worden.
Terroranschläge tschetschenischer Separatisten, bei denen möglicherweise der russische Geheimdienst die Hände im Spiel hatte, gaben Putin die Rechtfertigung für eine Militärintervention, die Tausende Menschenleben forderte und ihm den Ruf der Entschlossenheit eintrug.
Dass private Medien nach dem Untergang des Atom-U-Boots "Kursk“ im August 2000 schwere Kritik an ihm übten, nahm er zum Anlass, Zeitungen, Radiostationen und TV-Sender nach und nach unter staatliche oder staatsnahe Kontrolle zu bringen.
Die ungenierte Bereicherung der Oligarchen und ihren politischen Ambitionen, die Putin gefährlich zu werden drohten, beendete er nicht zuletzt durch das Exempel, das er durch die Verhaftung und Einkerkerung von Michail Chodorkowski statuierte. Gleichzeitig bringt er seine eigene Seilschaft aus ehemaligen Geheimdienstlern und Vertrauten der St. Petersburger Zeit an die Schaltstellen von Macht und Wirtschaft.
Die orange Revolution der Ukraine im Jahr 2004 beantwortete der Kreml mit Disziplinierungsmaßnahmen über den Energiesektor - und drehte seinem südlichen Nachbarland zwei Jahre darauf zum ersten Mal das Gas ab. Schon damals wurden erste Stimmen laut, die von einem neuen "Kalten Krieg“ sprachen.
Durch den Beitritt von sieben ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten zur NATO im Jahr 2004 fühlte sich Russland betrogen: Immerhin hatte der Westen Russland nach der Wende mit doppelzüngigen Formulierungen glauben lassen, dass an eine Osterweiterung der Allianz nicht gedacht sei. Doch die osteuropäischen Staaten mussten nicht gebeten werden - sie drängten in die NATO. Putin reagierte darauf zunächst mit stillen Investitionen in die eigenen Verteidigungskapazitäten - und bald darauf mit militärischen Gesten. Ab 2007 nahm die russische Luftwaffe die Patrouillenflüge ihrer Langstreckenbomber im internationalen Luftraum wieder auf, die seit 1992 unterbrochen gewesen waren. Auf weitere NATO-Avancen der Ukraine und Georgiens im Jahr 2008 folgte postwendend der Einmarsch in Südossetien.
Die westliche Militärintervention in Libyen 2011, der Russland durch die Zustimmung einer UN-Sicherheitsresolution ungewollt den Weg bereitet hatte, zerrüttete das Verhältnis zur NATO noch weiter.
Und dann das wirtschaftliche und politische Tauziehen zwischen Europa und Russland um die Ukraine, das zu den Euromaidan-Protesten und zum Sturz der Regierung in Kiew führte: Putin dürfte tatsächlich davon überzeugt sein, dass der Aufstand von den USA - die auch tatsächlich hoch aktiv waren - inszeniert wurde, um letztlich auch ihn zu schwächen. Und dass seiner Herrschaft das gleiche Schicksal drohen könnte.
Anfang März dieses Jahres ließ Putin Soldaten auf der Krim aufmarschieren und verleibte sich die ukrainische Halbinsel unter Berufung auf ein blitzschnell und jenseits aller üblichen Standards durchgeführtes Referendum ein. Gleichzeitig provozierte der Kreml in der Ostukraine einen Bürgerkrieg, den er mithilfe seiner Truppen seither je nach Bedarf eskalieren oder abflauen lässt, und der inzwischen mehr als 4000 Todesopfer gefordert hat. Als Rechtfertigung dafür dient die angebliche Machtübernahme einer faschistischen Junta in Kiew: Ein Vorwurf, der bei allen Fehlern und Missgriffen der dortigen Regierung freilich durch nichts zu belegen ist.
Dazu kommt die kaum verhohlene Drohung, auch in anderen Regionen mit russischer Bevölkerung - namentlich in Kasachstan, aber auch im Baltikum - im Bedarfsfall nicht vor einer gewaltsamen Interessenspolitik nach dem Muster der Ukraine zurückzuschrecken.
Seither fragt sich die Welt, wie weit Putin noch zu gehen bereit ist. Ein paar Antworten darauf gibt es bereits. Wirtschaftssanktionen kontert der Kreml unter anderem mit der Aufkündigung des zukunftsweisenden Pipeline-Projekts South Stream, das die Energieversorgung Europas garantieren sollte. Um die EU zu spalten, unterstützt der Kreml gezielt rechte und rechtsextreme Bewegungen und Parteien in mehreren Mitgliedsstaaten. Und von seinen westlichen Nachbarn wendet sich Russland immer mehr ab. Während Europa und die USA Russland mit Sanktionen belegten, schloss Putin vergangenen Mai mit China einen Gas-Deal über 400 Milliarden Dollar und mit einer Laufzeit von 30 Jahren. "Ihr wendet euch nach Asien, aber wir sind längst hier“, höhnte Russlands Botschafter in Washington kurz vor der China-Reise von US-Präsident Barack Obama im vergangenen November.
Auch Indien bezeichnet seine Beziehungen mit Russland als "besondere und privilegierte strategische Partnerschaft“, und an Wirtschaftssanktionen gegen Moskau werde sich die Regierung von Narendra Modi keinesfalls beteiligen, sagte ein Regierungssprecher kurz vor Putins Besuch beim Indisch-Russischen Gipfel Anfang Dezember.
In den vergangenen Monaten wurden zahllose Versuche unternommen, zu erklären, wie Wladimir Putin tickt - mit mäßig befriedigenden Ergebnissen.
An Anekdotischem herrscht kein Mangel: Man weiß, dass er Romy Schneider, die Beatles und Opern mag. Dass er abgesehen von einer Schwäche für teure Uhren kein Interesse an Luxus hat (was zwar gegen Gerüchte spricht, er habe als Präsident ein sagenhaftes Vermögen angehäuft, diese allerdings nicht zum Verstummen bringt). Dass er notorisch unpünktlich ist, ungern vor elf Uhr vormittags zu arbeiten beginnt, dafür aber noch spät nachts am Schreibtisch sitzt.
Seine Vorliebe für Freundschaften mit viril auftretenden Männern wie Silvio Berlusconi und Gerhard Schröder ist bekannt, über seine Frauenbeziehungen wird nicht erst seit seiner Trennung von Gattin Ljudmilla gemunkelt.
Eines zieht sich durch: das Auftreten als harter Kerl, das er sich als Jugendlicher in den Hinterhöfen von St. Petersburg angeeignet hat, weil er, der blasse, klein gewachsene Bursche, sich Respekt verschaffen musste. Dieses Gehabe zelebriert er inzwischen in vielfältiger Art und Weise - als geübter Kampfsportler und Eishockeyspieler; mit nacktem Oberkörper hoch zu Ross, in Camouflage auf der Jagd; am Ruder von U-Booten, im Cockpit von Kampfjets; mit Tieren aller Art: Pferden, Hunden, Tigern; und auch in seiner Rhetorik, wenn er davon spricht, tschetschenische Terroristen "am Klohäuschen auszuradieren“ oder den georgischen Präsidenten "an den Eiern aufzuhängen“.
Dem ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush, einem überzeugten Christen, empfahl er sich als Glaubensbruder, indem er ihm das Aluminium-Taufkreuz zeigte, das ihm einst die Mutter geschenkt hatte. Bush erklärte daraufhin ergriffen, er habe Putin "in die Augen gesehen und seine Seele erkannt“.
Aber ein klares Bild seiner Persönlichkeit ergibt sich zwischen all den Inszenierungen, die um ihn betrieben wird, nur schwer. Stimmt, was seine Ex-Frau beteuert: dass er ein äußerst emotionaler Mensch sei, aber Schwierigkeiten hat, seine Gefühle auszudrücken? Oder ist er doch der gelernte, durch und durch berechnende KGB-Agent, als den ihn beispielsweise Alastair Campbell, ein ehemaliger Spitzenberater des britischen Premierministers Tony Blair, kennengelernt hat?
Offenkundig ist sein Hang zu abgründigem Humor, der etwa im vergangenen Sommer bei seinem Österreich-Besuch aufblitzte. Mitten in der Ukraine-Krise von Claqueuren der Bundeswirtschaftskammer mit stehenden Ovationen empfangen, machte sich der Kreml-Chef darüber lustig, dass WKÖ-Präsident Christoph Leitl mittlerweile genauso lange im Amt ist wie er selbst. "Diktatur“, spöttelte Putin auf Deutsch, Nachsatz: "Aber gute Diktatur.“
Der Mann weiß, wie er im Westen gesehen wird, und auch wenn er sich darüber lustig macht, ist es ihm vermutlich nicht ganz egal. Was ihn erkennbar antreibt, ist die Sehnsucht, Russland wieder zu jener Größe zu verhelfen, die es mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verloren hat - und zu jenem Respekt, der dem Land seiner Meinung nach seither versagt wird.
Es ist ein Wunsch, der möglicherweise an jenem Abend geboren wurde, an dem der KGB-Oberstleutnant Wladimir Putin in Dresden die Autorität der Großmacht UdSSR gegenüber einer aufgebrachten Menschenmenge nur wahren konnte, indem er die Waffe zog.
So, wie auch jetzt wieder.