USA

Abtreibungsrecht auf der Kippe: "Fällt 'Roe v. Wade', ist es vorbei"

Michele Goodwin wurde mit zwölf Jahren von ihrem Vater missbraucht und konnte abtreiben. Heute kämpft die Juristin für das Recht auf Abtreibung.

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profil: Sollte der Supreme Court im Sinne des neuen Abtreibungsgesetzes in Mississippi entscheiden, würden Frauen und Mädchen auf dem "Schlachtfeld" allein gelassen, schrieben Sie kürzlich in der "New York Times". Was steht mit dem Urteil auf dem Spiel?
Goodwin: Viel. Texas plant, fast alle Abtreibungen nach der sechsten Schwangerschaftswoche zu verbieten. Mit dem Gesetz würde es so gut wie keine Abtreibungen mehr geben. In Mississippi geht es um ein Verbot ab der 16. Woche, auch da ohne Ausnahmen bei Inzest oder Vergewaltigung. Das Gesetz liegt beim Supreme Court, nachdem ein untergeordnetes Gericht es gestoppt hatte. Die größte Gefahr ist, dass das Grundsatzurteil 'Roe v. Wade' fällt, was offenbar einige Richter wollen.

"Auch Zwölf-, Elf- oder Zehnjährige wären in Texas gezwungen, das Kind auszutragen"

profil: Sie sind persönlich betroffen, wurden als Kind missbraucht und mit zwölf schwanger. Bedeuten die neuen Gesetze, dass Mädchen in derselben Situation heute nicht mehr abtreiben könnten?
Goodwin: Das kommt drauf an. Fällt 'Roe v. Wade', ist es vorbei. Auch Zwölf-, Elf- oder Zehnjährige wären in Texas gezwungen, das Kind auszutragen. Dasselbe gilt in Mississippi nach der 16. Woche, wenn sich Eltern die Reise in einen anderen Bundesstaat nicht leisten können. Sollte der Supreme Court das Gesetz in Mississippi legalisieren, dann stehen etliche Bundesstaaten bereit, ihre eigenen Gesetze zu verschärfen.

profil: In vielen Bundesstaaten ist es sehr schwer, Abtreibungen durchzuführen. In Mississippi gibt es nur eine einzige Klinik, die solche Eingriffe durchführt. Warum, wenn Schwangerschaftsabbrüche dort (noch) legal sind?
Goodwin: Diese Bundesstaaten haben die Ära von Jesse Helms wiederauferstehen lassen. Helms war ein dezidiert sexistischer, rassistischer und homophober Senator. Er hat die Rassentrennung bis in die 1990er-Jahre verteidigt, war gegen die Unterstützung HIV-Kranker, gegen Schwule und so weiter. Helms berief sich auf das, was er die moralische Mehrheit nannte. Er hatte begriffen, dass er keine politische Mehrheit hinter sich hat, aber er konnte sagen, dass die Leute, die seine Anliegen unterstützten, die "moralische Mehrheit", auf der richtigen Seite standen. Die Republikaner haben diese Menschen als Wähler mobilisiert. "Roe v. Wade" wurde von den konservativen Richtern am Supreme Court mitgetragen. Von den sieben, die dafür gestimmt hatten, waren fünf von den Republikanern ernannt worden. Heute ist es anders. Die Helms-Fraktion ist mächtiger geworden und besetzt höhere Posten im Land.

profil: Wann hat dieser Prozess begonnen?
Goodwin: Der Helms-Republikanismus hatte seinen Aufschwung von 2010 bis 2013 mit dem Auftauchen der Tea Party (besonders radikale Strömung innerhalb der Republikanischen Partei, Anm.). Sie entstand in Opposition zum damaligen schwarzen Präsidenten Barack Obama. Es ist ein Fehler, den Aufstieg der Tea Party allein als Frage von Reproduktionsrechten zu sehen. Es geht um mehr: um Rechtsstaatlichkeit, um Demokratie. Jene, die nun in den Rechtsstreit involviert sind, sind dieselben Gesetzgeber, die versuchen, bestimmte Bevölkerungsgruppen von Wahlen abzuhalten.

profil: Einmal mehr geht es um Hautfarbe, Ethnie und Armut. In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Frauen in den USA kontrolliert und kriminalisiert werden, wie sie gezwungen werden, Kinder auszutragen ...
Goodwin: Hautfarbe (englisches Original: "race") war in den USA stets ein Werkzeug zur Unterdrückung von Menschenrechten und zur Anhäufung von Kapital. Weil unsere Gesellschaft auf Rassismus fußt, haben wir uns in den USA nie damit befasst, wie wir unsere Geschichte der Ungleichheit aufarbeiten können. Die Kampagne, die Föten Persönlichkeitsrechte geben will, kommt nicht aus der Anti-Abtreibungs-Bewegung, sondern ist aus der Kriminalisierung schwarzer Frauen und Latinos entstanden. Diese Frauen haben wenig politische und soziale Macht. Das Gesetz hat sie in einer Weise diskriminiert, wie das sonst nie passieren würde.

profil: Können Sie ein Beispiel nennen?
Goodwin: Schwarze Frauen, die während der Schwangerschaft Drogen konsumieren - ein Problem, das man normalerweise mit Resozialisierung in den Griff zu kriegen versucht -, wurden in den 1980ern und 90ern während des Drogenkrieges in den USA von Ärzten und Krankenschwestern an die Polizei verraten. Wir haben herausgefunden, dass schwarze Frauen zehnmal häufiger angezeigt werden, wenn sie Drogen in der Schwangerschaft konsumieren. Die Behörden haben diese Frauen dann strafrechtlich verfolgt, als wären sie Drogendealerinnen und nicht in Armut lebende Frauen, die häufig Opfer von Vergewaltigungen waren. Die Idee vom Fötus als Person hat sich damals etabliert. Doch anstatt das Problem anzugehen, haben viele Hilfsorganisationen jahrzehntelang weggesehen. Die weißen Frauen, die diese Organisationen leiten, sehen arme schwarze Frauen mit ihren komplizieren Biografien nicht als Teil einer Bewegung, die sich für Reproduktionsrechte einsetzt. Das hat unter anderem dazu geführt, dass sich schwarze Frauen, die während der Schwangerschaft Drogen konsumierten, auf Deals mit der Staatsanwaltschaft eingelassen und nach einer Fehlgeburt Haftstrafen von zehn, 15 Jahren zugestimmt haben.

"Sterilisierungen in den USA sind berüchtigt, und sie finden nach wie vor statt"

profil: Sie schreiben auch von der Sterilisierung von Frauen, häufig im Gegenzug für eine mildere Haftstrafe.
Goodwin: Ja, die Geschichten von Sterilisierungen in den USA sind berüchtigt, und sie finden nach wie vor statt: In Flüchtlingslagern und Gefängnissen. Es ist ein Scheitern, und es sind nicht nur die Republikaner dafür verantwortlich, sondern auch die blinden Flecken der Linken. Sie haben nicht hingesehen. Es waren keine weißen Frauen, die in Fesseln aus der Geburtsklinik geschleift wurden. Es waren arme schwarze Frauen. Es gibt Ärzte, die krebskranken Schwangeren die Chemotherapie verweigern. Das sind die Vereinigten Staaten von Amerika. Es ist eine eklatante Missachtung des Lebens dieser Frauen, während gleichzeitig übermäßig für Embryos und Föten gesorgt wird.

profil: Wieso Ungeborenen Rechte zugestehen, aber gleichzeitig wenig Interesse zeigen, bereits geborene Kinder ordentlich zu versorgen?
Goodwin: Einiges davon ist komplett unlogisch. Es geht um Kontrolle über Menschen. Wer Macht will, wird sie nutzen, selbst zum eigenen Schaden. Die Konstante in der Geschichte ist, dass es großteils Männer sind, weiße Männer, die Macht auf bestimmte Gruppen ausüben. Es ist eine Geschichte der Macht: Macht über Menschen, vor allem über Frauen, vor allem über nicht weiße Frauen.

Legal oder verboten? Abtreibungen in Europa

Island hat Abtreibungen bereits vor dem Zweiten Weltkrieg legalisiert - Malta bis heute nicht. Ein Überblick.

Bereits 1935 legalisierte Island als erster westlicher Staat die Abtreibung. Der Großteil der europäischen Länder zog erst 40 Jahre später nach. Heute gilt eine Faustregel: Je katholischer die Länder, desto eingeschränkter die reproduktiven Rechte der Frau. Irland beispielsweise hatte bis 2018 eines der strengsten Abtreibungsgesetze der Welt. Auch Minderjährige, die vom eigenen Vater schwanger waren, mussten das Kind austragen. Weltweite Schlagzeilen machte der Fall Savita Halappanavar, die 2012 an einer Blutvergiftung starb, weil sich Ärzte weigerten, den abgestorbenen Fötus aus ihrer Gebärmutter zu entfernen. Auf Abtreibungen standen in Irland bis zu 14 Jahre Haft. Ein Referendum im Jahr 2018 hat das gekippt: 66 Prozent der Wähler stimmten dafür, Abtreibungen zu legalisieren. In Polen ist das Gegenteil passiert: Seit Jänner 2021 sind Abbrüche in fast allen Fällen verboten. Frauen müssen den Fötus auch dann austragen, wenn er schwere Fehlbildungen aufweist. Viele lassen den Eingriff mittlerweile in den Nachbarländern durchführen. Wer sich das nicht leisten kann, treibt illegal ab. Schätzungen zufolge sind das über 200.000 Polinnen im Jahr. Nach dem Tod einer 30-Jährigen, die 2021 an einer Blutvergiftung starb, gingen im November Zehntausende Menschen auf die Straße und riefen: "Keine einzige mehr!" Die strengste Regelung gilt im EU-Land Malta, wo 98 Prozent der Bevölkerung katholisch sind. Hier sind Abbrüche komplett verboten. Einer vergewaltigten Frau, die ihr Kind abtreibt, drohen bis zu drei Jahre Haft. Laut dem Präsidenten des Landes soll sich das auch nicht ändern. "Niemals werde ich ein Gesetz unterschreiben, mit dem Mord erlaubt wird", meinte der Sozialdemokrat George Vella unlängst. In der Slowakei ist im November eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes knapp gescheitert. Sie hätte unter anderem eine 96-stündige "Bedenkzeit" sowie ein Werbeverbot vorgesehen.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort und gehört zum "Streiten Wir!"-Kernteam.

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.