Taliban

Afghanistan: In einem Land vor unserer Zeit

Seit vergangenem Sommer sind in Afghanistan wieder die Taliban an der Macht. Wie schlimm ist das Leben unter ihrer Herrschaft?

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Seit Tagen sucht Zafar Hashemi* jeden Morgen das Passamt in Kabul auf, um für sich und seine Familie neue Reisedokumente zu beantragen. Das Gedrängel vor dem Gebäude im Südwesten der afghanischen Hauptstadt ist stets dasselbe. Hunderte von Menschen stehen in der Schlange und haben nur ein Ziel: raus aus Afghanistan. Bereits vor der Machtübernahme durch die radikalislamistischen Taliban im August des vergangenen Jahres war ein neuer Pass eine teure Angelegenheit. 70 bis 100 Dollar zahlte man pro Person. Hinzu kam meist noch das Schmiergeld für die Beamten.

Seit Jahren inszenieren sich die Taliban als Feinde der Korruption, für die sie die mittlerweile gestürzte (oder besser gesagt: geflüchtete) Kabuler Regierung und ihre westlichen Verbündeten verantwortlich machten. In vielen Regionen des Landes gewannen sie auch deshalb an Zulauf, denn dass das vorherige Regime korrupt war, stand außer Frage. Doch im Kabuler Passamt hat sich seit der Rückkehr der Taliban wenig geändert. Die Korruption hat sogar zugenommen.

"Ein Verwandter zahlte vor einigen Tagen 600 Dollar für einen Pass. Andere mussten bis zu 1000 Dollar hinblättern. Das ist Wucher, vor allem in diesen Zeiten", sagt Hashemi. Der Grund: Die Nachfrage ist groß, und die korrupten Beamten des vorherigen Regimes sitzen weiterhin in ihren Büros. Der neue Chef des Passamts ist zwar ein Talib, ein Mitglied der Taliban, er hat aber allem Anschein nach die Lage nicht im Griff. "Wir haben mehrere Mitarbeiter aufgrund von Korruptionsvorwürfen entlassen. Wer erwischt wird, hat mit harten Strafen zu rechnen", behauptete er vor Kurzem im Interview mit einem afghanischen Fernsehsender. "Der ist entweder dumm und sieht nicht, was vor seiner Nase passiert - oder er verdient selbst an der Korruption mit", meint Hashemi.

Doch Korruption ist unter dem wiedergeborenen Taliban-Regime wohl das kleinste Problem. Nach dem Abzug der internationalen Truppen nahmen die Extremisten, die bereits zuvor zahlreiche Regionen kontrollierten, das ganze Land ein. Letzte Widerstände in einigen wenigen Regionen wurden schnell niedergeschlagen. In propagandistischer Manier nahmen die Taliban den Flughafen ein, nachdem die letzten US-Soldaten abgezogen waren, und veranstalteten bald darauf Treffen und Konferenzen in jenen Kabuler Luxushotels, die sie einst mit Selbstmordattentätern heimgesucht hatten. Der alte Staatsapparat wurde abgeschafft, die weiße Taliban-Flagge gehisst.

Viele Menschen, die zurückbleiben mussten, sind seither in Gefahr. Beispielsweise Samir*, der einst für die Deutsche Bundeswehr als Ortskraft tätig war, oder Mustafa*, der in der afghanischen Armee diente. Beide verlassen gegenwärtig kaum noch das Haus und haben Angst vor Racheaktionen. Laut einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wurden seit der Rückkehr der Taliban Dutzende Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte gejagt, gefoltert und getötet - trotz einer im August verkündeten Generalamnestie. Die Taliban machten ihrerseits abtrünnige Kämpfer für die Vorfälle verantwortlich und beharrten darauf, dass seitens ihrer Führung die Amnestie weiterhin bestehen würde. Doch viele Beobachter halten das für unglaubwürdig und sprechen von einer Scheinamnestie, um vor allem internationale Geldgeber zu befriedigen.

In wirtschaftlicher Hinsicht ist Afghanistan abhängiger denn je. Aufgrund der US-Sanktionen, die de facto seit dem Abzug bestehen, befindet sich die Volkswirtschaft praktisch im freien Fall. Hinzu kommt, dass die afghanischen Staatsreserven im Ausland in Höhe von rund zehn Milliarden Dollar von Washington eingefroren wurden. In der vergangenen Woche wurde bekannt, dass US-Präsident Joe Biden die Hälfte dieser Gelder an die Opfer der Anschläge des 11. Septembers aufteilen möchte. Der Rest soll der humanitären Hilfe für Afghanistan dienen, allerdings nicht in Talibanhände übergeben werden.

Der Schritt sorgte nicht nur unter Afghanen für viel Kritik. Experten wie Graeme Smith von der NGO International Crisis Group betonen seit Monaten, dass eine Zusammenarbeit mit den Taliban unausweichlich ist, um den Menschen vor Ort zu helfen. Die Leidtragenden vieler Strafmaßnahmen gegen die Taliban seien in erster Linie nicht die Extremisten selbst, sondern vielmehr Millionen von Afghaninnen und Afghanen. Sie sind einer humanitären Katastrophe ausgesetzt, die mehr Menschenleben kosten könnte als der Krieg in den vergangenen 20 Jahren.

Durch die drohende Isolation des Landes könnte sich auch die Schreckensherrschaft der Taliban verschärfen. Anzeichen hierfür gibt es bereits seit ihrer Rückkehr, unter anderem in Form von Zensur und Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit. "Wir zensieren uns bereits selbst", erzählt ein Journalist aus dem Südosten des Landes. Er lebt und arbeitet weiterhin in Afghanistan und will deshalb anonym bleiben. Das Land gehört seit Jahren zu den tödlichsten Ländern für Journalisten. Die Taliban machen kein Hehl daraus, dass ihnen viele Medien ein Dorn im Auge sind. Während sie internationale Medienmacher hofieren und ihnen Schutz gewähren, sind es vor allem lokale Reporter, die ihnen schutzlos ausgesetzt sind. Sie werden von ihnen bedroht, willkürlich verhaftet oder gefoltert.

Ähnlich verhält es sich mit Frauenrechtsaktivistinnen. Sie wurden nicht nur mehrmals nach Protesten körperlich angegriffen, sondern auch verschleppt und ermordet. Die Frauenproteste bezogen sich auf die Schließungen von Mädchenschulen (ab der 7. Klasse) und Universitäten. Mittlerweile ist die Situation von Region zu Region unterschiedlich. Manche Bildungseinrichtungen sind sowohl für Jungen als auch für Mädchen geöffnet. Jedoch herrscht in den Klassen eine strengere Geschlechtertrennung als zuvor. Studentinnen und Lehrerinnen müssen zwar keine Burka tragen, die Regelungen zur Verschleierung sind aber strenger geworden.

Mit den Entführungen und Morden an Aktivistinnen wollen die Taliban nichts zu tun haben, doch ihre Aussagen sind kaum glaubwürdig, immerhin kontrollieren sie mittlerweile das gesamte Land.

Mit dem Fall der letzten afghanischen Regierung und der Flucht von Präsident Ashraf Ghani ist auch der gesamte afghanische Sicherheitsapparat, also Armee, Polizei und Geheimdienst, zusammengebrochen. Lediglich die afghanische Zelle der Terrorgruppe "Islamischer Staat" (IS) bereitet dem neuen Taliban-Regime ernst zu nehmende Kopfschmerzen. Sie greift nämlich auf jene Mittel zurück, die einst zum Repertoire der Taliban gehörten: Bombenattentate und Selbstmordanschläge, etwa um religiöse Minderheiten wie die Schiiten auszulöschen. Die Taliban gehören zu den Erzfeinden des IS. Und genau das ist auch ein Grund dafür, warum nicht nur Staaten in der Region mit den neuen Machthabern in Kabul zusammenarbeiten wollen-sondern früher oder später vermutlich auch westliche Akteure.

*Namen aus Sicherheitsgründen geändert.

Bilder: Ilir Tsouko