Ein Panzer der ukrainischen Armee in der Nähe der Hauptstadt Kiew.
Interview

Angriff auf die Ukraine: Ist der Krieg für Kiew schon verloren?

Der Militärexperte Franz-Stefan Gady über die russische Kriegsführung, den Widerstand der Ukrainer und ein „Bagdad-Szenario“.

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profil: Hat Sie der offenbar rasche Durchbruch der russischen Streitkräfte überrascht?
Gady: Ich würde vor solchen Einschätzungen warnen. Das Lagebild ist noch unvollständig. Es gibt schon auch Hinweise, dass sich Teile der ukrainischen Streitkräfte zäh verteidigen und den Russen Verluste zufügen, etwa im Süden des Landes. Klar ist, dass russische Truppen bereits weit vorgestoßen sind. Es gibt massive Landgewinne.

profil: Das russische Vorgehen ist im wahrsten Sinn generalstabsmäßig geplant.
Gady: Es ist wie aus dem militärischen Lehrbuch. Der Angriff begann mit landgestützten Raketen und Artillerie-Beschuss. Darauf folgten Luftlande-Operationen an neuralgischen Punkten und hinter den Linien der Ukrainer, danach mechanisierte Verbände aus Panzern und gepanzerten Fahrzeugen, die vom Norden und Süden her in die Ukraine eindrangen.

profil: Vor allem im Luftraum ist die russische Überlegenheit evident.
Gady: Nach allem, was wir wissen, wurden ukrainische Flugabwehrsysteme, Teile der Luftstreitkräfte und auch die aus der Türkei gelieferten Drohnen teilweise schon sehr früh zerstört.

profil: Ist der Krieg bereits verloren?
Gady: Auch hier muss man vor übereilten Schlüssen warnen. Tatsache ist aber, dass die ukrainischen Streitkräfte landesweit mit Brennpunkten konfrontiert sind. Die Frage ist: Kollabieren die Streitkräfte gleich zu Beginn, oder können sie sich in einem Verzögerungskampf geordnet zurückziehen und eine neue Verteidigungslinie etablieren, etwa im Westen des Landes, von der sie den Widerstand fortsetzen. Sogar Gegenstöße sind dann möglich. Entscheidend ist auch die Kampfmoral. Prinzipiell muss man sagen, dass die Ukraine schlicht zu groß ist, um gegen einen Zangenangriff eines quantitativ und qualitativ überlegenen Gegners auf Dauer verteidigt zu werden. Das Spektrum, wann dieser Krieg zu Ende sein wird, reicht also von einigen Stunden bis Tagen oder Wochen. Den Krieg zu beenden, ist letztendlich eine politische Entscheidung. Wird die Ukraine kapitulieren, wenn der Widerstand aussichtlos ist, oder wird sich im Westen des Landes neuer Widerstand formieren, sollte die Hauptstadt fallen?

profil: Kann die Invasion in der Ukraine mit den Kriegen in Syrien, Irak und Afghanistan verglichen werden?
Gady: Nein. Was wir in der Ukraine sehen, ist ein hochintensiver, konventioneller Bewegungskrieg, der mit der Art von Gefechten westlicher Truppen in Afghanistan oder im Irak nicht vergleichbar ist. Dort gab es, laienhaft gesagt, Scharmützel. In der Ukraine herrscht ein Kampf der verbundenen Waffen mit todbringenden Systemen, die die Verluste schnell nach oben treiben. Die Geschwindigkeit solcher Gefechte ist enorm.

profil: Ist die Hauptstadt Kiew das Ziel des Vorstoßes?
Gady: Alles deutet darauf hin. Ich denke aber, die russischen Kommandeure wollen einen Häuserkampf im urbanen Raum verhindern. Daher werden sie in die Vorstädte eindringen und eine Art Belagerung beginnen. Denkbar ist auch der Einsatz von Fallschirmjägern, einer Elitetruppe der russischen Streitkräfte. Allerdings ist auch ein Szenario wie in Bagdad im Jahr 2003 möglich. Wenn die russischen Soldaten auf keine Gegenwehr in den äußeren Bezirken von Kiew stoßen, könnten sie direkt ins Stadtzentrum vorstoßen.

Zur Person

Der Österreicher Franz-Stefan Gady (39) ist Analyst auf dem Gebiet militärischer Kriegsführung und internationaler Sicherheit am Institute for International Strategic Studies in London.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.