Erdbeben

Augenzeuginnenbericht aus Syrien: „Wie der Weltuntergang“

Aisha lebt mit ihrer Familie in der vom Erdbeben schwer getroffenen nordsyrischen Stadt Azaz. Die Hebamme der „Ärzte ohne Grenzen“ berichtet, wie sie die Katastrophe erlebt hat.

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Als um 4.17 Uhr die Erde bebte, schliefen meine Familie und ich noch. Wir wohnen in einem fünfstöckigen Gebäude - wir spürten, wie das Gemäuer über unseren Köpfen wackelte.

Auf diese Weise aus dem Schlaf gerissen wussten wir zuerst nicht, was los war, aber nach etwa zehn Sekunden wurde uns klar, dass es ein Erdbeben sein musste. Ich schrie meinen Mann an, unsere zweijährige Tochter Lareen zu holen. Er hielt sie dicht an sich gedrückt. Unsere beiden anderen Kinder waren in ihren Schlafzimmern. Ich rannte los, um sie zu wecken. Wir machten uns auf den Weg auf die Straße.

Hebamme Aisha Ende 2022 beim Traninig in einem von "Ärzte ohne Grenzen" unterstützten Kinderkrankenhaus.

Ich hörte meine Nachbarin schreien. Sie ist Mutter von zwei Kindern, und ihr Mann war nicht zu Hause. Mein Mann nahm ihren Sohn auf den Arm, und wir halfen ihr, nach draußen zu gelangen. Unsere Nachbarn in den oberen Stockwerken warfen ihre Kinder hinunter, damit wir sie auffangen konnten. Aus Angst, dass sie es sonst nicht rechtzeitig aus dem Haus schaffen würden, warf jeder seine Kinder aus dem Gebäude. Wir fingen sie auf.

Draußen sahen wir uns schockiert um. Unsere Tränen waren mit Blut vermischt. Wir konnten nicht fassen, was geschehen war.

Mir wurde klar, dass ich Menschen retten musste. Einige waren in ihren Häusern geblieben, andere lagen bereits unter den Trümmern begraben oder mussten den Einsturz befürchten.
Ich rannte auf die Straße hinunter, barfuß. Mein Mann schrie mich an, ich solle zurückkommen: „Aisha, wo gehst du hin? Komm zurück!“

Ich weigerte mich. Ich konnte nicht tatenlos zusehen, wenn so viele Menschen Hilfe brauchten. „Vielleicht sind noch Menschen unter den Trümmern gefangen", rief ich zurück. Ich bin Sanitäterin, also muss ich helfen.“
Ich lief durch die Straßen unseres Viertels, bis ich sicher war, dass hier kein Gebäude eingestürzt war. Dann kam ich zurück und nahm meine Kinder in den Arm. Den Rest der Nacht verbrachten wir mit unseren Nachbarn im Hof. Es regnete. Wir hatten alle schreckliche Angst.

Als Mutter wollte ich für meine Kinder da sein, zumal mein ältester Sohn bei der Bombardierung von Aleppo getötet worden war. Das erste, was mir in den Sinn kam, war, meine Kinder zu schützen und sie an einen sicheren Ort zu bringen.

Aber ich konnte nicht lange bei meinen Kindern bleiben. Ich musste helfen. Die Krankenhäuser riefen Menschen mit medizinischen Berufen dazu auf, sie zu unterstützen. Die Menschen, die aus den Trümmern gerettet wurden, kamen in die Krankenhäuser, die bald überlastet waren.

Meine Kinder ermutigten mich, zu gehen. Mein Sohn sagte: „Mama - geh und hilf den Menschen. Bleib nicht hier!“ Das gab mir die Kraft, meine Kinder zurückzulassen und zu gehen.
Ich stieg ins Auto und schloss mich den Freiwilligen im Krankenhaus an, das am dringendsten Sanitäterinnen und Sanitäter benötigte. Ich erreichte die Notaufnahme und begann zu arbeiten.
Ich war in engem Kontakt mit den Teams von „Ärzte ohne Grenzen“ in der Region sowie deren medizinischen Beraterin. Sie fragte, was wir an Medikamenten brauchten, an chirurgischem und medizinischem Material.

Um 13.24 Uhr spürten wir das massive Nachbeben. Das Krankenhaus besteht aus Metallplatten, es hätte jeden Moment einstürzen können. Die Verletzten eilten aus dem Gebäude. Mütter, Kinder - alle rannten um ihr Leben. Ich sah, wie einer schwangeren Frau, die kurz vor der Entbindung stand, aus dem Gebäude geholfen wurde.
Es war sehr beängstigend. Wir haben mehr als 50 Verletzte aufgenommen, die aus allen Regionen ins Krankenhaus kamen. Alle vier Operationssäle waren voll besetzt. Die Räume waren blutverschmiert. Die Chirurgen führten Osteotomien (Knochendurchtrennungen) und Laparoskopien (Bauchoperationen) durch.
Es herrschte ein enormer Mangel an medizinischem Material, und die Chirurginnen und Chirurgen konnten nicht alle erforderlichen Osteotomien durchführen - sie mussten die Patientinnen und Patienten an andere Krankenhäuser überweisen.

Es gab auch viel zu wenig Särge und Leichensäcke. Die Zahl der Toten war enorm: Frauen, Kinder, alte Menschen ...
Ein Mann hatte gesehen, wie die Leichen seiner Frau, seiner Kinder und seiner Eltern unter den Trümmern hervorgeholt wurden. Er konnte es nicht fassen und stand unter Schock. Er konnte nicht begreifen, dass seine ganze Familie unter den Trümmern begraben worden war. Jede halbe Stunde kam ein weiteres Mitglied seiner Familie zu uns: sein Sohn, sein Vater, dann seine Brüder. Er hat mehr als 13 Familienmitglieder verloren. Und er war nicht der Einzige.

Wir versuchten, den Schmerz der Kinder so gut wie möglich zu lindern. Wir brachten sie in die Säuglingsstation, um sie von all dem Blut und den Verletzungen, die man im Krankenhaus sah, fernzuhalten. Das war alles, was wir tun konnten.
Um Mitternacht wurde ein Orthopäde angefordert, um den Fuß eines Mädchens zu amputieren, das unter den Trümmern eingeklemmt war. Für die Amputation wurden ein Arzt und ein Narkosespezialist benötigt. Zusammen mit Sanitäterinnen und Sanitätern machten sie sich um vier Uhr morgens auf den Weg zu dem eingestürzten Haus, um den Fuß des Mädchens zu amputieren und es so aus den Trümmern zu retten. Das Mädchen weinte: „Macht euch keine Sorgen um meinen Fuß, rettet mich ohne meinen Fuß - holt mich einfach hier raus“, sagte es. „Es ist dunkel und ich habe Angst!“
Die Szene war entsetzlich. Es fühlte sich wie der Weltuntergang an.