Vea Kaiser: "Die Götter strafen bekanntlich jene, die 
sie lieben"

Bestseller-Autorin Vea Kaiser über Griechenland und Heldentum

Bestsellerautorin und Griechenland-Kennerin Vea Kaiser hätte früher Syriza gewählt. Sie sieht Alexis Tsipras als tragischen Helden, der an den Früchten seiner Taten zerbrechen wird.

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Wieder einmal steuert Europa auf eine Entscheidung zu: Am 20. September finden Parlamentswahlen in Griechenland statt. Auf vier Wahlen, drei Hilfspakete und ein Referendum blickt das Land im Jahr fünf der Krise zurück. Mehrmals drohte die Europäische Union während der Verhandlungen mit Athen zu scheitern; wieder schaut der ganze Kontinent nun auf Griechenland. Der Ausgang dieser Wahlen wird darüber entscheiden, ob Alexis Tsipras sein Manöver zu Ende bringen wird: Wird er, der als Held des Anti-Sparkurses angetreten war und schließlich doch ein Sparprogramm akzeptieren musste, mit seiner Idee von einer anderen Politik für Griechenland und die Europäische Union die Kehrtwende einleiten? Oder steht das Land am Ende des Widerstandskampfes?

Die österreichische Schriftstellerin Vea Kaiser, deren Faible für die alten Griechen bereits in ihrem Erzähldebüt „Blasmusikpop“ (2012) erste Spuren hinterlassen hat, beschäftigt sich in ihrem im Mai erschienenen Zweitwerk „Makarionissi oder Die Insel der Seligen“ noch eingehender mit Griechenland. Auf fast 500 Seiten erzählt die 26-jährige Autorin darin Heldengeschichten von Griechinnen und Griechen über fünf Generationen hinweg. Sie enden in der von Krisen durchgebeutelten Gegenwart Griechenlands, in denen die Linke im Zentrum der Hoffnungen vieler steht.

INTERVIEW: ANNA GIULIA FINK und WOLFGANG PATERNO

profil: Wären Sie Griechin, wer hätte bei der Wahl im Januar dieses Jahres Ihre Stimme bekommen? Vea Kaiser: Ich hätte ziemlich sicher Syriza gewählt, weil mit der Partei ein Aufbruchsversprechen verknüpft war. Sonst waren da nur Parteien, von denen man schon wusste, dass sie für genau dasselbe System stehen, das bis dahin nicht funktioniert hatte.

profil: Und bei der Neuwahl an diesem Wochenende? Kaiser: Das weiß ich nicht, ich weiß allerdings auch noch nicht, wen ich in Wien wählen werde. Letztlich geht es um die Frage, welches System man wählt. Das Land braucht einen Wandel. Ich will mir erst gar nicht vorstellen, wie es mir als freischaffender Schriftstellerin in Griechenland gehen würde. Ich hätte keine Lebensbasis, keine Versorgung, keine Einnahmequellen.

profil: Steht Premier Alexis Tsipras inzwischen nicht mehr für den Wandel? Kaiser: Kürzlich habe ich einen Artikel gelesen – einen furchtbar populistischen Text, aber im Kern leider wahr –, der auflistete, wie oft Tsipras seine Versprechen gebrochen hat. Es ging um sieben zentrale Punkte. Die Frage ist also, wie weit man ihm noch vertrauen kann. Wie kann man ein System ändern, sobald man selbst drinsteckt? In Athen grenzt das Exarchia-Viertel, das Zentrum der alternativen Szene, wo auch immer wieder politische Revolten ihren Ausgang nahmen, im Süden an Kolonaki, das reichste Viertel Athens, wo sich die Schickeria tummelt. Dort gibt es einen privaten Club, in dem die Söhne der alten politischen Elite ihre Partys feiern. Syriza ist angetreten als Feindbild, das aus Exarchia kommt und gegen die Kolonaki-Jungs vorgeht. Und jetzt? Verkehren viele von ihnen selbst in diesem privaten Club.

profil: Bieten die aktuellen griechischen Helden und Anti-Helden viel literarischen Stoff? Kaiser: Ich glaube, über das plötzliche Elend der Mittelschicht wird noch sehr viel geschrieben werden. Wie es den Leuten in Griechenland geht, wird thematisiert werden wie in den großen Romanen über Österreich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.

Ich muss gestehen, ich habe mich mit Varoufakis nie sonderlich beschäftigt, weil er mir eine Zeit lang ziemlich auf die Nerven gegangen ist.

profil: Wie geht es der Kunstszene in Griechenland? Kaiser: Gerade jetzt investieren die reichen griechischen Sammler gerne in Kunst. Dem Kunstmarkt geht es also nicht schlecht. Die Kunstszene ist enorm produktiv, auch wenn viele Künstler ums Überleben kämpfen müssen. Schriftsteller haben allerdings null Chancen, Verlage haben überhaupt kein Geld mehr. Dabei kommen im Moment wahnsinnig gute Texte.

profil: Tsipras, den deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble, Griechenlands Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis: Welche Figur finden Sie literarisch am interessantesten? Kaiser: Ich muss gestehen, ich habe mich mit Varoufakis nie sonderlich beschäftigt, weil er mir eine Zeit lang ziemlich auf die Nerven gegangen ist. Ich weiß nicht, ob er wirklich so genial war, wie alle meinten, oder wirklich so ein Arschloch, wie alle anderen meinten. Aber ich verstehe die griechische Bevölkerung, die sagte: Endlich so einer! Das war eine Regierung, die gleich einmal die Dienstwägen abschaffte – und das, obwohl Varoufakis selbst aus der Elite stammt und mehr Zeit im Ausland als in Griechenland verbracht hat …

profil: … was ihm viele zum Vorwurf machten. Kaiser: Der Braindrain in Griechenland dauert schon seit 150 Jahren an. Die Griechen sind viel wanderbereiter im Gegensatz zu uns Mitteleuropäern, sie sind eher bereit zu gehen, wenn es schwierig wird. Griechenland ist seit der Antike ein Volk der Seefahrer! Das machen sie derzeit auch, und genau das ist gleichsam das Problem: Wie soll sich ein Land erholen, wenn alle, die etwas könnten, es verlassen?

profil: Europas Wurzeln liegen in Griechenland. Europa gegenüber empfindet Griechenland aber massive Ressentiments. Kaiser: Die griechische Geschichte ist seit 300 vor Christus geprägt davon, dass irgendeine Macht von außen kommt und macht, was sie will: Römer, Makedonier, Osmanen, Briten, Amerikaner. Natürlich wirkt das nach. Die Menschen, die das zuletzt erlebt haben, sind noch nicht einmal unter der Erde. Ich kann ihren Hass gut verstehen.

Es ist immer leichter, dem Präsidenten böse zu sein als dem Bürgermeister, den man jeden Tag sieht und mit dem man sich direkt auseinandersetzen müsste.

profil: Andererseits kommen die EU-Tanten und -Onkels auch mit reichen Geschenken daher. Kaiser: Die kommen auch in Österreich mit vielen Geschenken daher und haben etwa das ganze Burgenland zu einem lebenswerten Ort gemacht. Man nimmt allerdings immer nur wahr, was nicht funktioniert. Es ist ja auch ein perverses System: Wir haben eine Bundesstaatlichkeit, eine Nationalstaatlichkeit – und dann eine Europäische Union drüber. Da ist es einfach schwierig zu sagen, wer wofür verantwortlich ist. Und es ist natürlich immer einfacher, Verantwortung weiter weg zu schieben. Es ist immer leichter, dem Präsidenten böse zu sein als dem Bürgermeister, den man jeden Tag sieht und mit dem man sich direkt auseinandersetzen müsste.

profil: In Ihrem Roman „Makarionissi“ erzählt Großmutter Maria oft von „Fremden, die Feinde niederrangen und unlösbare Aufgaben bewältigen“. Sind die Verhandlungen mit der EU ein solches Feindniederringen? Kaiser: Die Frage ist, was eine Heldengestalt ist. Wenn man sich die griechischen Helden der Vergangenheit ansieht, sind das immer diejenigen, die etwas machen und dafür einen hohen persönlichen Verlust hinnehmen. Achilles etwa wusste ganz genau: Wenn er für Troja in die Schlacht zieht, wird er sterben. So hatte es das Orakel vorausgesagt. Trotzdem kämpfte er. Ich glaube, es braucht derzeit solche Helden. Menschen, die bereit sind, sich selbst zu schaden, um die richtige Sache zu verteidigen.

profil: Eine der Hauptfiguren, Lefti, sagt am Anfang des Romans, dass er seine Finger von der Politik lassen will: „All das zerriss doch bloß Familien und zog unsichtbare Grenzen durch Dörfer.“ Kaiser: Da ist Lefti eher untypisch. Die Griechen sind äußerst politisiert. Man braucht sich nur in Athen die Cafés am Nachmittag ansehen – die Leute am Tisch rauchen, trinken Kaffee und reden über Politik, das ist das Lieblingsgesprächsthema. Einmal saß ich in Berlin mit Freunden zusammen, darunter ein griechischer Grafiker. Wir führten eine aufgeheizte politische Diskussion, bis die Gastgeberin meinte, wir sollten doch über angenehmere Dinge reden und einfach einen schönen Abend genießen. Der Grieche konnte das überhaupt nicht verstehen, für ihn bestand genau darin ein netter Abend, über Politik zu diskutieren.

profil: Ist Griechenland der letzte Sehnsuchtsort für Europas Linke? Kaiser: Auch in Spanien erstarkt die Linke gerade. George Orwell hat in seinem Bericht über den Spanischen Bürgerkrieg festgestellt, dass linke Regierungen ihre Bürger immer nur enttäuschen können werden. Eine linke Regierung kann zwar einen Wandel erreichen, aber bis dieser Wandel eintritt, dauert es so lange, dass die Bevölkerung unweigerlich enttäuscht sein muss.

Ich empfinde mich nicht als Orakel, dennoch gehe ich davon aus, dass Alexis Tsipras erneut Premierminister werden wird.

profil: Selten wurden politische Diskussionen derart emotional geführt wie während der Griechenland-Verhandlungen. Kaiser: Ja, das war irre, aber auch gut so. Nach einer der vielen Marathon-Sitzungen sagte der polnische EU-Ratspräsident Donald Tusk, er habe gerade Angst, weil eine Stimmung herrsche, aus der Revolutionen entstehen. Wann kommt eine Revolution? Nicht, wenn es allen gutgeht und alle das Gefühl haben, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden.

profil: Verfolgen Sie die politische Stimmungslage in Griechenland derzeit? Kaiser: Ich empfinde mich nicht als Orakel, dennoch gehe ich davon aus, dass Alexis Tsipras erneut Premierminister werden wird. Die Frage ist nur, welche Koalition er schmieden wird, da er sicher nicht genügend Stimmen für eine Alleinregierung bekommen wird. Es wird wohl ein Pyrrhussieg werden.

profil: Viele Beobachter sprechen davon, dass die EU gegenüber Griechenland ebenfalls einen solchen errungen habe. Kaiser: Die EU-Troika hat Griechenland das dritte Hilfspaket regelrecht aufgezwungen. Diese Politik hat jene Kräfte mobilisiert, die eine solche Form der rigiden ökonomischen Diplomatie in Zweifel ziehen.

profil: Ist die griechische Tragödie auch Teil einer medialen Inszenierung? Kaiser: Erst vor wenigen Tagen fand ich in meinem Facebook-Feed einen Link von der „Basler Allgemeinen Zeitung“ mit dem Betreff: „Sehr einleuchtend: Hier wird die Griechenland-Krise erklärt“. In dem Text ging es darum, dass Alexis Tsipras völlig machtlos sei, denn dessen Frau entscheide alles, und zwar mit dem Druckmittel Sex. Mit Griechenland lässt sich Panik und Aufregung erzeugen, die einem selber nicht wehtut.

profil: Stimmen Sie bestimmten Klischees zu, die über Griechenland transportiert werden? Kaiser: Manchen. Zum Beispiel dem Klischee des Nepotismus. Mit Geld lässt sich die Wartezeit beim Arzt verkürzen, oder man kann sich eine Baugenehmigung in einer Verbotszone beschaffen. Jeder Provinzpolitiker hat auch Dutzende Patenkinder, deren Familien dann für ihn stimmen werden, wofür er ihnen wiederum Vorteile verschafft.

profil: Welches Klischee über das Land ärgert Sie? Kaiser: Viele verbinden Griechenland vorrangig mit Urlaub. Seit dem 19. Jahrhundert unausrottbar scheint das Vorurteil, die Griechen der Neuzeit seien faul und würden nichts zusammenbringen. Dagegen werden die antiken Griechen gestellt, die nach wie vor im Elysium leben.

profil: Was denken sich die olympischen Götter mit Blick auf das Griechenland anno 2015? Kaiser: Nach antiker Vorstellung strafen die Götter bekanntlich jene, die sie lieben. Tsipras, der tragische Held, zerbricht an den Früchten seiner Taten. „Drama“ wurzelt im Wortstamm „etwas tun, vorantreiben, vorwärtskommen“: Es gibt in Griechenland keinen Stillstand.

profil: Haben die Menschen in Griechenland die Politik langsam satt? Kaiser: Auf keinen Fall. Die Menschen im Land sind extrem politisiert und interessiert. Die Söhne und Töchter von Familien, die unterschiedlichen politischen Parteien anhängen, haben bis heute Schwierigkeiten, untereinander zu heiraten.

profil: Der Konjunktiv ist ebenfalls in Griechenland erfunden worden. Kaiser: Die alten Griechen hatten auch noch einen Optativ. Was wir in einer Variante des Möglichen ausdrücken, dafür haben die Griechen zwei unterschiedliche sprachliche Formen gehabt. Der Optativ drückt aus, was du dir wünschst – der Konjunktiv all das, was passieren könnte, jeweils in Nuancen. Griechisches Denken richtet sich nicht nach zeitlichen Verläufen, sondern nach Aspekten. Umgelegt auf die griechische Dauerkrise ließe sich durchaus formulieren: Es geht nicht darum, wie viel Zeit etwas bereits dauert, sondern um die Frage, welche Handlung begonnen oder abgeschlossen ist. Schäuble ist Konjunktiv, Tsipras Optativ.

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.