Der ehemalige britische Premierminister Tony Blair
Blair: "Heute geht es für Europa nicht mehr um Frieden. Es geht um Macht.“

Tony Blair: "Heute geht es für Europa nicht mehr um Frieden. Es geht um Macht.“

Der ehemalige britische Premierminister Tony Blair über heimatlose Wähler, Emmanuel Macron als Vorbild für die Labour-Partei und über seine Hoffnung, dass die Briten den Brexit doch noch absagen.

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Bei Tony Blair wird zum Frühstück kein "Full English Breakfast“ mit Würstchen und gebackenen Bohnen gereicht, sondern stattdessen - very continental - Croissants. Blair ist überzeugter Pro-Europäer, und damit Angehöriger einer selten gewordenen Spezies in der britischen Politik. Auch sonst ist der ehemalige Langzeit-Regierungschef (1997 bis 2007) eine Ausnahmeerscheinung. Er war der jüngste Premier seit dem 19. Jahrhundert, er krempelte die Labour-Partei unter dem Slogan "New Labour“ um und räumte mit deren alten, linken Dogmen auf. Zu Beginn seiner Ära riss der energetische Mittelinks-Reformer nicht nur die Briten mit, sein "Dritter Weg“ wurde auch auf dem europäischen Kontinent gefeiert. Die Trennung zwischen kommunistischem Osten und kapitalistischem Westen wurde in seiner Regierungszeit endgültig Geschichte. Blair hatte die Osterweiterung der EU sehr befürwortet.

Mittlerweile ist der heute 64-Jährige, der für sein bubenhaftes Gesicht berühmt war, ergraut, doch sein Tatendrang ist ungebrochen. In Großbritannien herrscht Wahlkampf. Die konservative Regierungschefin Theresa May hat für 8. Juni vorgezogene Parlamentswahlen ausgerufen. Blair möchte mithelfen, einen Erdrutschsieg der Tories zu verhindern. Seine jüngste PR-Offensive nährt Spekulationen, dass der Mitte-links-Politiker eine neue, zentristische Partei gründen könnte. Die Labour-Partei wird seit 2015 von Jeremy Corbyn, einem Altlinken mit tendenziell sektiererischem Führungsstil angeführt, gewissermaßen ein Anti-Blair. Blairs "Institute for Global change“ richtet sich folgerichtig ausdrücklich an die nächste progressive Generation. Doch Blair will nicht über Corbyn reden, jedenfalls nicht jetzt vor den Wahlen. profil und eine Gruppe europäischer Korrespondenten trafen ihn in seinem Büro im Londoner Stadtteil Mayfair.

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Interview: Tessa Szyszkowitz / London

profil: Müssen Sie gerade zusehen, wie Ihr politisches Erbe verschleudert wird? Die Labour-Partei ist weit vom Dritten Weg abgekommen, Großbritannien verlässt die EU. Was bleibt von Tony Blair? Tony Blair: Ich sehe älter aus. Aber sonst? Wir haben viel verändert, soziale Reformen durchgeführt und das Friedensabkommen in Nordirland geschlossen. Doch was mich heute vorwiegend beschäftigt, ist der Brexit. Es ist ein schwerer Fehler, dass wir uns in diesem Moment von Europa trennen. Ich habe immer geglaubt, dass Großbritannien eine große Rolle in Europa spielen sollte. Deshalb ist der Brexit für mich eine sehr traurige Sache.

profil: In den 1990er-Jahren wurde "Cool Britannia“ zum Slogan für ein weltoffenes Land. War das ein Irrtum, ist das Brexit-Land das wahre Britannien? Blair: Großbritannien hat den kreativen und innovativen Geist nicht verloren, es ist nur so, dass sich beim EU-Referendum die anderen durchgesetzt haben. Also jene, die aus verschiedenen Gründen aus der EU austreten wollen. Die Jungen wollten mit großer Mehrheit in der EU bleiben, die Alten wollten raus. Doch es war keine große Mehrheit von 65 zu 35 Prozent, es waren bloß 52 zu 48 Prozent. Wir haben eben verschiedene Strömungen in unserem Land, die miteinander konkurrieren. Das ist überall so.

profil: Premierministerin Theresa May will nicht nur den Exit aus der EU, sie propagiert einen harten Schnitt. Wird sie es sich noch anders überlegen? Blair: Den Binnenmarkt zu verlassen, ist per definitionem ein harter Brexit. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir ein Freihandelsabkommen erreichen können, das uns die gleichen Vorteile wie die Mitgliedschaft bringt. Der gemeinsame Markt ist ja eine einzigartige Erfindung für den Handel, wir verkaufen Waren und Dienstleistungen zwischen London und Berlin zu den gleichen Bedingungen wie zwischen London und Newcastle. Da geht es um die Zukunft von buchstäblich Hunderttausenden Jobs und damit auch um unseren Lebensstandard. Wenn wir aus dem Binnenmarkt ausscheiden, dann ist es so, als würden wir freiwillig aus der Premier League (der höchsten Spielklasse im englischen Fußball, Anm.) in die zweite Liga absteigen.

profil: Finden Sie es nicht erstaunlich, dass Theresa May ihre Bevölkerung nicht auf die Folgen des Brexit vorbereitet? Wieso schenkt sie den Leuten nicht reinen Wein ein und sagt: Auch die Einwanderungszahlen werden sich schwer senken lassen? Blair: Ich bemühe mich täglich, zu verstehen, worin die Position der Regierung eigentlich besteht. Wenn man es wirklich will, kann man die Einwanderung natürlich reduzieren. Dann lässt man die Europäer eben nicht mehr rein. Das heißt aber auch, dass wir unsere Wirtschaft schädigen. Deshalb glaube ich nicht, dass die Regierung das tun wird. Ich nehme an, sie werden die EU-Einwanderer durch einen bürokratischen Prozess schicken, damit es theoretisch so aussieht, als hätten wir wieder die Kontrolle über unsere Grenzen. Die Europäer, die wegen eines Jobangebots kommen, brauchen wir ja. Die europäischen Studenten an unseren Universitäten wollen wir auch. Und die Beerenpflücker, nehmen die den Briten die Arbeit weg? Nein, denn die Briten bewerben sich gar nicht für diese Jobs. Die einzige Gruppe von Einwanderern aus Europa, die wir eventuell beschränken können, sind Leute, die ohne Job hierherkommen. Die meisten von ihnen landen in London und arbeiten im Service. Wenn wir einem Polen in einer Londoner Bar verbieten, hierzubleiben, heißt das noch lange nicht, dass ein junger Engländer im Norden des Landes deshalb einen Job bekommt.

In dieser Phase des wiedererwachenden russischen Nationalismus - wie stünden die osteuropäischen Staaten ohne die EU-Mitgliedschaft heute da?

profil: Sie haben leidenschaftlich für die Osterweiterung der EU gekämpft. Sie hätten 2004 Übergangsfristen für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer fordern können, das haben Sie aber nicht getan. Tragen Sie damit nicht auch Mitverantwortung dafür, dass in kurzer Zeit so viele Osteuropäer ins Land kamen? Vielleicht hätten die Briten nicht für den Brexit gestimmt, wenn der Zustrom von Ausländern weniger stark gewesen wäre? Blair: Die meisten Europäer kamen viel später. 2011 wären die Übergangsfristen ausgelaufen gewesen. Ich leugne nicht, dass es in manchen Gemeinden, wo viele europäische Einwanderer leben, erhöhten Druck gibt. Doch am meisten beunruhigt die Leute die Immigration aus einer anderen Kultur. Sie machen sich Sorgen, ob die Integration klappt und ob diese Einwanderer unsere kulturellen Werte akzeptieren. Das hat mit den EU-Immigranten und der Brexit-Debatte nichts zu tun.

profil: Die EU dient als Sündenbock für vieles. Blair: Wirklich erstaunlich finde ich die Tatsache, dass ausgerechnet die beiden großen Errungenschaften der EU - die gemeinsam von konservativen und Labour-Regierungen entwickelt und beschlossen wurden - heute in Britannien so negativ gesehen werden: Der Gemeinsame Markt und die Osterweiterung. Das ist doch unglaublich! In dieser Phase des wiedererwachenden russischen Nationalismus - wie stünden die osteuropäischen Staaten ohne die EU-Mitgliedschaft heute da?

profil: Warum funktioniert der wirtschaftliche Pakt heute nicht mehr so wie früher, warum laufen die Wähler den Sozialdemokraten davon? Blair: 2008 gab es eine Finanzkrise. Und als Folge der Globalisierung verändert sich einfach sehr viel. Doch all das ändert nichts an meiner ursprünglichen Annahme, dass die Antwort auf die Globalisierung nicht sein kann, dass man die Welt stilllegt. Wer die Globalisierung stoppen will, der wird Protektionismus und Isolationismus ernten. Wir sehen diese Kämpfe um den richtigen Umgang mit Immigration überall in Europa. Wenn diese Frage zwischen den Staaten zum Spaltpilz wird, endet man in einer Sackgasse.

profil: Was würden Sie heute anders machen als vor 20 Jahren? Blair: Ich würde einiges anders angehen, weil sich die Welt verändert hat. Dieser Wandel geht heute noch schneller vor sich als zu meiner Zeit. Deshalb gilt das, was 1997 wichtig war, 2017 noch viel mehr: Die progressiven Kräfte können nur gewinnen, wenn sie die Herausforderungen der Zukunft verstehen und Lösungen aufzeigen. Was in Frankreich passiert ist (die Niederlage der sozialistischen Partei PS bei den jüngsten Präsidentenwahlen, Anm.), war für mich unausweichlich. Wenn die Linke einen altmodischen Typus von Politik vertritt, wird sie verlieren. Alles, was sich wie konservative Politik anfühlt, kann nicht erfolgreich sein.

profil: Kann man heute überhaupt noch von "Links“ versus "Rechts“ sprechen? Blair: Ich glaube schon, dass diese Begriffe noch etwas bedeuten. Doch es gibt heute eine zusätzliche Dimension: "offen“ gegen "abgegrenzt“. Teile der Linken und der Rechten treffen sich über Isolationismus und Protektionismus. Die Linke braucht meiner Meinung nach eine weltoffene Haltung, gleichzeitig muss sie bei Immigration und Sicherheitsfragen klare und auch harte Positionen vertreten - sonst glauben die Leute nicht, dass wir ihre Ängste hinsichtlich der kulturellen Veränderungen verstehen und ernstnehmen. Wir brauchen Regeln. Wenn es keine Regeln gibt, dann bekommen wir Vorurteile. Doch das heißt nicht, dass man mit Ressentiments spielen darf.

profil: Hat Theresa May deshalb vorgezogene Wahlen für den 8. Juni ausgerufen, damit sie danach freie Hand für die Brexit-Verhandlungen hat? Blair: Sie lässt deshalb schon jetzt wählen, weil meine Partei in dem Zustand ist, in dem sie ist. Und zweitens ist es der optimale Moment für die Premierministerin, ein starkes Mandat zu verlangen, bevor die Leute wissen, was auf sie zukommt. Die Tories wollen sich die Stimmen von UKIP (der Anti-EU-Partei United Kingdom Independence Party, Anm.) holen, und sie arbeiten auch an jenen Labour-Wählern, die für den Austritt aus der EU gestimmt haben. Wenn sie die bekommen, dann ist das ein Mandat für einen harten Brexit.

profil: Rufen Sie dazu auf, Labour zu wählen, obwohl die Partei keine klare Position gegen den Brexit einnimmt? Blair: Ich selbst wähle selbstverständlich Labour, das ist meine Heimat. Außerdem muss ich Sie korrigieren: Die Labour-Partei hat jetzt eine Position. Die besteht darin, dass wir alle Optionen auf dem Tisch lassen sollten. Auch jene, doch im Binnenmarkt zu bleiben. Die Partei kann jetzt nicht sagen, dass sie gegen den Brexit ist, sie muss den Willen des Volkes und das Ergebnis des EU-Referendums akzeptieren. Doch das Volk kann seine Meinung ändern. Deshalb sage ich, diese Diskussion ist noch nicht beendet.

Ich will das Vereinigte Königreich nicht zerbrechen sehen.

profil: Glauben Sie denn, dass es eine realistische Chance gibt, dass ihre Landsleute den Brexit doch noch absagen? Blair: Ich werde die Hoffnung nicht aufgeben. Ich muss allerdings zugeben, dass die meisten meinen, ich träume. Ich persönlich aber glaube, dass die Leute am Ende der Verhandlungen die Details des Deals sehen und dann zögern werden, den Brexit durchzuziehen.

profil: In so einer Situation wäre eine richtige Opposition hilfreich. Labour aber ist zerstritten und kaum präsent. Blair: Bei einer Wahl zwischen einer harten Brexit-Partei und einer harten Linkspartei werden viele Millionen Wähler heimatlos.

profil: Ist es Zeit, eine neue Partei zu gründen? Blair: Ein Wahlkampf ist für diese Diskussion der schlechteste Zeitpunkt. Wenn die Umfragen stimmen, wird Theresa May nach den Wahlen am 8. Juni weiter regieren. Die Leute werden dann nach einer fähigen Opposition verlangen. Wenn wir mit den wahren Auswirkungen eines EU-Austritts konfrontiert werden, geht es erst richtig los.

profil: Der Brexit bedroht auch den Bestand Großbritanniens. Die EU hat schon verlautbart, sie könnte ein Vereinigtes Irland - also auch Nordirland - in die EU aufnehmen. Die Schotten möchten unter Umständen auch lieber aus dem Vereinigten Königreich austreten als aus der EU. Fürchten Sie um die Einheit Ihres Landes? Blair: Bis jetzt waren Irland und Großbritannien immer entweder beide nicht in der EU oder beide in der EU. Die neue Grenze (zwischen Irland als EU-Mitglied und Nordirland als Teil des Vereinigten Königreichs, das nicht mehr Mitglied wäre, Anm.) stellt ein echtes Problem dar. Ich nehme aber an, dass Theresa May alles in ihrer Macht Stehende tun wird, um eine Lösung zu finden. Ich will das Vereinigte Königreich nicht zerbrechen sehen. Der Brexit erhöht natürlich auch den Druck in Schottland. Heute kann man Schotte, Brite und EU-Bürger sein. Morgen werden nur noch zwei von drei Identitäten möglich sein.

profil: Was raten Sie den Verhandlern der EU im Umgang mit der britischen Regierung? Blair: Mein Rat an Europa ist, nicht aus einer feindlichen Position heraus mit uns zu verhandeln. Denn die Brexit-Debatte in Großbritannien ist nicht abgeschlossen.

Nur gemeinsam können wir unsere Interessen und unsere Werte verteidigen.

profil: Sehen Sie den französischen Präsidentschaftskandidaten Emmanuel Macron in Ihrer Tradition als Vertreter des so genannten Dritten Weges? Blair: Macron steht für sich selbst, er ist nicht mein politischer Erbe. Sein Erfolg ist aber sicher ein Sieg für eine weltoffene Politik. Er ist gut für die EU, weil er Stabilität und Reform signalisiert. Das ist die Richtung, die ich auch der Labour-Partei wünschen würde.

profil: Emmanuel Macron hat aber auch angekündigt, dass er hart mit Großbritannien verhandeln würde. Blair: Die Verhandlungen werden sicher nicht einfach. Wir müssen uns einfach an die Fakten halten. Was ist die Alternative zu Macron? Marine Le Pen will Frankreich aus dem Euro holen. Können Sie sich vorstellen, was das für die Weltwirtschaft bedeuten würde?

profil: Glauben Sie an die Zukunft der Europäischen Union? Blair: Es ist doch eine traurige Illusion der Anti-Europäer zu glauben, dass die EU zerfallen wird und die Europäer aufgeben. Ein vereintes Europa ist heute sinnvoller als jemals zuvor. Nicht, dass es bisher keine Fehler gegeben hätte oder dass die EU keine Reformen benötigen würde. Doch die geopolitische Lage des 21. Jahrhunderts zwingt Europa zur Einheit, denn in Zukunft werden wir von der Größe unserer Wirtschaften bestimmt. Das war schon vor der Industriellen Revolution so. Deshalb war China im 16. Jahrhundert die größte Wirtschaft der Welt. Jetzt ist China wieder da. Indien wird ebenfalls immer wichtiger. Und die Europäer? Selbst Deutschland, Frankreich und Großbritannien werden nur mittelgroße Mächte sein. Nur gemeinsam können wir unsere Interessen und unsere Werte verteidigen. Heute geht es für Europa nicht mehr um Frieden. Es geht um Macht.

profil: Sie sagten eingangs, Sie sähen jetzt älter aus als 1997, aber eigentlich ist Ihre Altersgruppe jetzt gerade en vogue: Premierministerin May ist nur drei Jahre jünger als Sie und Labour-Chef Jeremy Corbyn drei Jahre älter. Könnten Sie sich vorstellen, doch noch einmal auf die politische Bühne zurückzukehren, etwa um Ihr Land vor einem harten Brexit zu retten? Blair: Ich werde nicht ins aktive politische Leben zurückkehren. In meinem "Institut für globalen Wandel“ aber wollen wir über die Erneuerung des politischen Zentrums nachdenken. Dabei sollten wir es jetzt belassen.

Tessa   Szyszkowitz

Tessa Szyszkowitz