Brexit: "Feuert diese Frau!"

Gezückte Dolche, die dann doch nicht zum Einsatz kommen, die Brexit-Varianten in Form von Cupcakes, und jede Menge Hinterlist: Der Parteitag der regierenden Konservativen – ein Sittenbild.

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Am Ende stand sie wieder alleine da. Tanzte selbstbewusst-unbeholfen ein Solo zum ABBA-Hit "Dancing Queen" und rief dazu auf, "galligen Zorn und Bitterkeit hinter uns zu lassen". Was Theresa May, Parteichefin der Tories und britische Premierministerin sagte, klang wie eine Beschwörung. Knapp vor ihrem Auftritt beim Parteitag am Mittwoch in Birmingham hatten die "Brexit Bullies", wie die harten Brexitiere genannt werden, ein Misstrauensvotum gegen sie angekündigt. "Daggers drawn", titelte "The Sun" – "Die Dolche sind gezogen."

Parteitage sind Sittenbilder. Die Konservativen sind derzeit ein zerstrittener Haufen, in dem die exzentrischen Kräfte den Ton angeben. Die Tories wollen partout nicht so sein wie ihre Parteichefin: also nicht sozial konservativ, pragmatisch und wirtschaftlich moderat.

Das Chaos bei den Verhandlungen über den EU-Austritt spiegelte sich in den Hallen und auf den Gängen des internationalen Konferenzzentrums in Birmingham wider. Vor den Absperrungen wurden Aufkleber verteilt, auf denen stand: "Bollocks to Brexit", ein wenig entschärft übersetzt: "Sch… auf den Brexit!" Drinnen aber gab es kaum Stimmen gegen den EU-Austritt.

Den größten Zulauf erhielten die harten Brexitiere. Eine Warteschlange von gut 1500 Fans bildete sich vor jener Halle, in der Boris Johnson seinen Auftritt hatte. Ein Ehepaar mit farblich abgestimmten Halstüchern war extra aus Cornwall angereist, um sicherzustellen, dass "der Brexit, für den wir gestimmt haben, nicht von Theresa May verwässert wird." Es störte die beiden gar nicht, dass sie zwei Stunden anstehen mussten: "Wir Engländer stellen uns doch gerne an!"

Ihr Liebling Boris durfte diesmal nicht auf der großen Bühne sprechen, schließlich ist er im Juli aus Protest gegen den moderaten Brexit-Plan (genannt "Chequers"-Plan) der Regierungschefin als Außenminister zurückgetreten. Doch für jene, die gerade nicht im Zentrum der Macht stehen, gibt es traditionell die "Fringe Events". "Weg mit dem Chequers-Plan!", rief er erwartungsgemäß und machte Theresa Mays sanften Brexit-Vorschlag lächerlich. Zum Showdown kam es jedoch nicht. Johnson fürchtet wohl, dass er den Brexit-Stall selber ausmisten muss, sollte er Theresa May zu früh stürzen.

Wir wollen kein Vasallenstaat sein.

Seine Fans fühlten sich trotz seiner schaumgebremsten Attacken gut bedient: "Seine Rede war punktgenau richtig", sagte eine junge Frau danach hochzufrieden: "Wir müssen Theresa May jetzt unterstützen und dazu bringen, in Brüssel um unsere Unabhängigkeit zu kämpfen. Wir wollen kein Vasallenstaat sein." Für die junge Unternehmerin ist der friktionsfreie Handel mit Europa wichtig, aber die Einwanderung aus der EU müsse eingeschränkt werden: "Wir wollen die Kontrolle über unsere Grenzen zurück."

Kann Großbritannien aber die EU verlassen und trotzdem die Vorteile der Mitgliedschaft behalten? Diese Kernfrage der Brexit-Verhandlungen hat Boris Johnson schon vor zwei Jahren ebenso kühn wie realitätsfern mit Ja beantwortet: "Behalte den Kuchen und iss ihn, das ist doch ein großartiges Konzept, isn’t it?"

In einem angestrengten Versuch, die immer bitterere Brexit-Debatte zu versüßen, hatte die BBC eine Reporterin mit einem Tablett Cupcakes in die Konferenzlobby entsandt: "Welchen Brexit möchten Sie?", fragte die Journalistin und bot Törtchen mit den verschiedenen Optionen an. Die Mehrheit entschied sich für ein Freihandelsabkommen-Cupcake, das mit der kanadischen Flagge dekoriert war. Ein Verbleib im Binnenmarkt – geschmückt mit der Fahne Norwegens war auch recht populär. Ein echter Ladenhüter dagegen war Theresa Mays Chequers-Kreation. Und das "No Deal"-Törtchen.

Ein derart in Versuchung gebrachter Delegierter wies alle Kuchen empört von sich. Daniel Poser will nur eines: "Keinen Brexit." Diese Option jedoch hatte nicht einmal die BBC-Konditorei im Angebot.

Unsere Partei wurde von Verrückten übernommen!

Poser fand das zum Verzweifeln. Er war zum ersten Mal zu einem Parteitag der Konservativen gekommen. Der 50-jährige Londoner empfand dies als seine Pflicht: "Ich war immer ein "Armchair-Tory", also einer, der das Geschehen bloß vom Lehnstuhl aus verfolgte. Der Brexit aber habe ihn zum Aktivisten gemacht: "Unsere Partei wurde von Verrückten übernommen! Ich bin hier, um unsere gewählten Vertreter darin zu unterstützen, den Brexit-Wahnsinn zu stoppen."

Poser hat sich den "Konservativen für eine Volkswahl" angeschlossen. Für ein zweites Referendum aber sprechen sich nur ganz wenige Abgeordnete aus. Theresa May hat es bereits abgelehnt, das Volk noch einmal über den Brexit abstimmen zu lassen. Sie hat sich wie die Mehrheit der Partei mit dem Austritt abgefunden.

Womit sie aber bei ihrem Amtsantritt im Juli 2016 kaum gerechnet haben kann: Wie sehr der Brexit alle Reformprojekte auf Jahre hinaus blockieren würde. Theresa May selbst sieht sich als die Vertreterin des kleinen Mannes und der kleinen Frau. Doch ein EU-Austritt erhöht den Druck, London als Finanzstandort für den wildesten Kapitalismus zu vermarkten: als Steueroase. Irgendwie wird das Vereinigte Königreich die Einbußen aus dem Brexit schließlich wettmachen müssen. May möchte wirtschaftlich möglichst nahe an der EU bleiben.

Die harten Brexitiere wollen dies um jeden Preis verhindern. Manche sind sogar bereit, der eigenen Parteichefin in den Rücken zu fallen und gegen den von ihr angestrebten sanften Scheidungsvertrag mit der EU zu stimmen. Neben Boris Johnson gehört Jacob Rees-Mogg zu den Meuterern. Dass sich der 49-jährige Ultrakonservative aus Somerset, der an seinem altmodischen Doppelreiher ebenso festhält wie an seinem Glauben an ein totales Abtreibungsverbot, derartiger Beliebtheit erfreut, ist ein weiteres Zeichen des Brexit-Chaos, bei dem im Tory-Haus kein Stein auf dem anderen bleibt. Wenn Rees-Mogg in einen Saal kam, sprangen seine Anhänger begeistert von den Sitzen, manche konnten sich kaum halten. "Sack the Woman!" ( "Feuert diese Frau!"), schrie einer von den Stehplätzen. Das steht zwar gar nicht in der Macht des Hinterbänklers Rees-Mogg, aber Logik hat die entfesselten EU-Feinde schon länger nicht mehr belastet. "Entschuldigen Sie, das entspricht nicht meiner Diktion", maßregelte Rees-Mogg den Zwischenrufer wohlerzogen, fügte aber mit einem verschmitzten Lächeln hinzu: "Obwohl es natürlich sehr britisch ist, einen Redner mit Zwischenrufen zu stören."

Wenn wir ohne Deal aus der EU ausscheiden, dann ist das überhaupt kein Problem.

Das Publikum amüsierte sich sehr. "Wenn wir ohne Deal aus der EU ausscheiden", meinte er später, "dann ist das überhaupt kein Problem." Das freute die Leute noch mehr. Dass für diesen Fall von Experten vorausgesagt wird, dass Großbritannien acht Prozent des BIP einbüßen wird, hält man in Rees-Moggs Kreisen für pure Angstpropaganda.

Parteitage sind nicht nur Sittenbilder, sie dienen auch als Stimmungsbarometer. Je länger das Brexit-Chaos dauert, umso bitterer und tiefer wird die Debatte – wobei es nur noch darum geht, wie hart der angestrebte Austritt werden soll. Theresa May hat es nur mit Mühe geschafft, ihren eigenen Parteitag unter Kontrolle zu halten. Doch die nächsten Wochen werden für sie in London wie Brüssel ein Kampf ums politische Überleben. Bei den Hardlinern sind grobe Scherze über die EU-Chefs unterdessen gang und gäbe. In einem Zeichentrickfilm der Gruppe "Leave means Leave" wird Jean-Claude Juncker mit Rotweinglas dargestellt. Als der EU-Kommissionspräsident unter den Tisch kippt, wiehern die Leute. Jacob Rees-Mogg kichert mit.

Lisa Parker sieht ihm dabei zu und seufzt hingerissen. Sie ist Gemeinderätin im Städtchen Rugby und fordert wie Rees-Mogg einen harten Schnitt von der EU. Deshalb hofft sie, dass der exzentrische Tory Theresa May bald beerbt. Bei Jacob stimme für sie eben alles, meint sie: "Ich mag die Männer so wie meinen Brexit."

Tessa   Szyszkowitz

Tessa Szyszkowitz