Ich will dieses Gespräch nicht auf den 7. Oktober fokussieren, denn Israel will den 7. Oktober als Nullpunkt setzen. Nein, ich würde mit dem Jahr 1948 beginnen, mit dem Sechstagekrieg von 1967. Warum bestehen Sie darauf, über den 7. Oktober zu reden? Wir erleben tagtäglich, dass Palästinenser getötet werden, und niemand will hinsehen.
Wenn Sie verurteilen, was palästinensischen Zivilisten angetan wird, verurteilen Sie sicher auch, was israelischen Zivilisten am 7. Oktober angetan wurde?
Ashrawi
Ja, aber nicht isoliert. Ich habe niemals gebilligt, dass Zivilisten Opfer werden. Deshalb weigere ich mich, Reportern eine Antwort zu geben, die mich fragen, ob ich verurteile, was am 7. Oktober geschehen ist. Stellen Sie Israelis die Frage, ob sie verurteilen, was 1948 oder 1967 geschehen ist? Wir leben unter einer Besatzung. Ich verstehe nicht, weshalb die Leute diesen Begriff plötzlich weglassen wollen. Als ob wir gleich an Rechten und freie Akteure wären! Wir haben keinerlei Rechte und keinerlei Schutz! Die wahre Wurzel ist die anhaltende Besatzung! Es ist eine abnormale Situation und bringt abnormales Verhalten hervor.
Die Hamas kümmert sich nicht darum, was der Bevölkerung von Gaza passieren wird, wenn sie Israel überfällt. Sie hat diesen Krieg erwartet, meinen Sie nicht?
Ashrawi
Niemand hat diesen Krieg erwartet.
Sie hätten angenommen, Israel würde nicht zurückschlagen?
Ashrawi
Niemand, der bei Verstand ist, hätte einen Genozid dieser Dimension erwartet. Niemand würde jemals diesen Massenmord, dieses Abschlachten ganzer Familien und unschuldiger Menschen billigen oder akzeptieren. Bald sind es 30.000 tote Palästinenser, die Mehrzahl Frauen und Kinder, dazu 64.000 Verwundete, die meisten mit Verletzungen für ihr ganzes Leben. Das Ausmaß an Schmerz in Gaza ist inakzeptabel.
Israel bestreitet den Vorwurf des Genozids. Der Internationale Gerichtshof wird darüber entscheiden. Sie waren im Jahr 1991 Teil der palästinensischen Delegation bei der Friedenskonferenz von Madrid, die das Fundament des Friedensprozesses und des Abkommens von Oslo 1992 legte. Damals gelang es, dass die Delegationen Palästinas, Israels, Syriens, Jordaniens und des Libanon an einem Verhandlungstisch Platz nahmen. Ist eine neuerliche Friedenskonferenz denkbar, wenn der Krieg in Gaza zu Ende ist?
Ashrawi
Man kann die Geschichte nicht wiederholen, zumal das Ergebnis letztlich ein Scheitern war. Bevor wir überhaupt über eine Friedenskonferenz sprechen, muss die Gewalt gänzlich beendet sein. Während wir hier sprechen, sagt Netanjahu (Israels Ministerpräsident, Anm.), der Krieg wird weitergehen. Seine Minister sagen, die Palästinenser sollen vertrieben werden. Diese Sprache des Hasses wird fortgesetzt. Denken Sie, man kann da vernünftige Verhandlungen führen? Nein. Ich glaube, es ist Aufgabe der internationalen Gemeinschaft, ihre Resolutionen durchzusetzen, das Recht zu beachten und Israel dazu zu bringen, sich daran zu halten.
Viele sprechen wieder von der Zweistaatenlösung, also der Gründung eines Staates Palästina neben dem Staat Israel.
Ashrawi
Alle reden darüber, und Israel sagt immer nein. Aber man kann nicht nein sagen, das ganze Land beanspruchen, die Palästinenser unterdrücken und Frieden erwarten. Und wenn der Westen von einer Zweistaatenlösung spricht, hätte ich gern, dass er über Grenzen spricht, über eine souveräne Hauptstadt und über Freiheiten, nicht bloß über eine ferne Aussicht, irgendwann einen Staat zu haben.
Die US-Regierung von Joe Biden steht in diesem Krieg hinter Israel, spricht sich aber zugleich eindeutig für eine Zweistaatenlösung aus. Anerkennen Sie die Haltung des Weißen Hauses?
Ashrawi
Ganz ehrlich
Wer soll denn nach dem Krieg für das palästinensische Volk sprechen?
Ashrawi
Wer immer vom palästinensischen Volk gewählt wird. Es ist nicht zulässig, dass Israel oder Europa oder die USA bestimmen, wer akzeptable Kandidaten sind. Wir haben ein pluralistisches System, viele verschiedene Fraktionen, und wir brauchen faire und freie Wahlen.
Welche Leute werden da an die Macht kommen?
Ashrawi
Wir haben ausgezeichnete Kandidaten. Junge, Frauen, Leute mit guter Ausbildung, es herrscht kein Mangel an Führungskräften. Manche sitzen auch in israelischen Gefängnissen, weil Israel politische Aktivisten verhaftet. Es braucht einen Wechsel der Führung in Israel und in Palästina. Das israelische politische System ist in Extremismus abgedriftet. Das Problem der palästinensischen Führung (die Palästinensische Autonomiebehörde unter Präsident Mahmud Abbas, Anm.) ist, dass sie sich die allergrößte Mühe gegeben hat, um die Forderungen Israels und der USA zu erfüllen und dabei beim eigenen Volk an Glaubwürdigkeit und Unterstützung verloren hat.
Welche Rolle werden Sie spielen?
Ashrawi
Ich habe in der Vergangenheit schon viele Rollen übernommen. Jetzt will ich nur noch dabei helfen, die Palästinenser zu vertreten und die Kandidatur von Leuten zu unterstützen, die ich für fähig halte. Ich werde mitarbeiten, um die politischen Leitlinien auszuformulieren. Aber ich werde keine Funktion mehr übernehmen.
Der Krieg zwischen der Hamas und Israel wirft unendlich viele Fragen auf, und die allermeisten münden in heftigen Debatten. Verliert Israel den Krieg in Gaza? War das Massaker der Hamas am 7. Oktober ein Ereignis von einzigartiger Schrecklichkeit oder eines in einer langen Serie von Gewalttaten? Kann die Hamas mit militärischen Mitteln zerschlagen werden? Ist die palästinensische Bevölkerung von einem Genozid bedroht? Hat Israels Regierung eine Vision für den Tag danach? Wer soll die Palästinenser dann repräsentieren? profil hat drei Gesprächspartner mit ganz unterschiedlichen Sichtweisen zu Interviews gebeten: Außenminister Alexander Schallenberg war bisher für seine dezidiert proisraelische Haltung bekannt; Hanan Ashrawi, eine der bestimmenden palästinensischen Persönlichkeiten aus der Ära des Nahost-Friedensprozesses, hält mit ihrer Wut über die israelische Kriegsführung und Besatzung nicht hinterm Berg; Doron Rabinovici, jüdischer Intellektueller und Buchautor, will die Hoffnung auf eine friedliche Teilung des Landes nicht aufgeben.