„Erdogan steht im Zentrum der Vorwürfe“

Millionen Menschen verfolgen auf YouTube, wie der Mafiaboss Sedat Peker von seinem Exil in Dubai die türkische Regierung in Ankara angreift. Was steckt hinter den Enthüllungen? Und kann dieser Mann Präsident Recep Tayyip Erdoğan gefährlich werden?

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Dr. Sinem Adar forscht am Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) an der Stiftung für Wissenschaft und Politik.

profil: Frau Adar, verfolgen Sie die Videos, die Sedat Peker ins Netz stellt?
Sinem Adar: Ich habe bisher jedes Video gesehen und werde das auch weiterhin tun. In den letzten Wochen hat er sie immer am Sonntag in der Früh hochgeladen. Es ist zu einer Art Routine geworden.

profil: Pekers Videos wurden millionenfach angeklickt. Worum geht es in den Vorwürfen?
Adar: Peker hat sich bisher zu drei Arten von Vorwürfen geäußert. Er hat über ein korruptes System gesprochen, das die regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) von Präsident Erdogan aufgebaut hat, um öffentliche und zu einem gewissen Teil auch private Ressourcen an Günstlinge zu verteilen. Er spricht zudem über die mutmaßlichen Verstrickungen von Regierungsverantwortlichen in den Drogenhandel. Die Türkei war schon immer ein Transit-Land für den Rauschgifthandel, vor allem aus Afghanistan. Pekers Vorwürfen zufolge hat sich in den vergangenen Jahren eine neue Route nach Südamerika gebildet. Der Sohn des ehemaligen Premierministers Binali Yıldırım soll in das Geschäft verwickelt sein. Peker spricht außerdem über eine private Sicherheitsfirma, die Waffen an die dschihadistische Al-Nusra in Syrien abwickeln soll und der eine Nähe zu Erdogan nachgewiesen werden kann. Der Gründer Adnan Tanrıverdi war sein Militärberater.

profil: Die Beschuldigten weisen alle Vorwürfe von sich, bezeichnen Peker als Kriminellen und Agenten westlicher Geheimdienste. Wie glaubwürdig ist dieser Mann?
Adar: Über das korrupte System, das die regierende AKP etabliert hat, haben Journalisten schon vor Jahren berichtet. Dasselbe gilt für den Vorwurf, die Türkei würde Waffen an Dschihadisten in Syrien verkaufen. Sie haben vielleicht von Can Dündar gehört, dem ehemaligen Chefredakteur der Zeitung „Cumhuriyet“.

profil: Er lebt seit 2016 im Exil in Deutschland …
Adar: Dündar hat als einer der Ersten über dieses Thema berichtet. Pekers Vorwürfe überschneiden sich mit dem, was Journalisten schon vor Jahren ausgegraben haben. Aber am Ende gilt: Um herauszufinden, ob Pekers Worte wirklich wahr sind, braucht es Ermittlungen in der Türkei.

profil: In der Türkei ist die Gewaltenteilung de facto aufgehoben. Unabhängige Gerichte existieren ebenso wenig wie freie Medien.
Adar: Das stimmt. Ich denke nicht, dass irgendein Richter oder Staatsanwalt unabhängig an die Sache herangehen würde. Das Risiko ist zu groß.

profil: Zurück zu Dündar. Als der Journalist über Waffenlieferungen berichtete, wurde er der Spionage angeklagt und festgenommen. Jetzt, wo Peker auspackt, ist Erdogan auffallend ruhig, finden Sie nicht?
Adar: Das hat mit sinkenden Umfragewerten der Regierungskoalition aus seiner AKP und der ultra-nationalistischen MHP zu tun. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Erstens, die Wirtschaftskrise, die sich während der Pandemie noch verschlechtert hat. Zweitens die Wahl von Präsident Joe Biden in den USA, mit dem Erdogan bei weitem nicht so gute Beziehungen unterhält, wie mit Trump. Drittens, die steigenden, sozialen Unruhen in der Türkei, nicht zuletzt, weil weite Teile der Zivilbevölkerung unterdrückt werden. All diese Faktoren bringen die Regierungskoalition in eine schwierige Situation und das ist der Hauptgrund, warum Erdogan schweigt. Schauen wir uns einmal näher an, wann Erdogan in der Vergangenheit geschwiegen hat. Nach den Lokalwahlen von März 2019, bei der die AKP die zwei wichtigsten Großstädte, Istanbul und Ankara, an die Opposition verloren hat. Oder nach dem Rücktritt seines Schwiegersohns Berat Albayrak als Finanzminister. Wenn der Präsident schweigt, ist das ein Signal. Es sind die Momente, in denen er nicht weiß, was zu tun ist. In Bezug auf Peker hat er lange überlegt, wie er sich positionieren soll.

profil: Und wie hat sich Erdogan positioniert?
Adar: Er hat sich hinter den Innenminister Süleyman Soylu gestellt, der im Zentrum von Pekers Korruptionsvorwürfen steht. Soylu weist alle Vorwürfe von sich und inszeniert Peker als Teil einer Verschwörung. Auch der Koalitionspartner MHP folgt diesem Narrativ.

profil: Wie kam es zu diesem Bündnis zwischen Erdogan und einer ultra-nationalistischen Partei?
Adar: Mit der Einführung des Präsidialsystems 2018 hat sich das Wahlsystem in der Türkei verändert. Wer regieren will, braucht mindestens 51 Prozent der Stimmen. Keiner Partei gelingt das allein, es braucht Koalitionen.  Seit den Parlamentswahlen von Juni 2015 ist Erdogan eine formale Koalition mit dem MHP-Führer Devlet Bahçeli eingegangen. Bei den vorgezogenen Wahlen im November desselben Jahres bekamen sie nur deshalb die nötigen Stimmen, weil die MHP sie informell unterstützte. 2016 wurde die Türkei von einem gescheiterten Putschversuch erschüttert. 2017 folgte das Verfassungsreferendum. Die MHP hat das Präsidialsystem mitgetragen und damit auch das Fundament dieser Allianz.

profil: Wer gewinnt was in dieser Allianz?
Adar: Dafür muss man einige Jahre zurückblicken, als die AKP noch eine Koalition mit der Gülen-Bewegung bildete. Diese Koalition kam 2013 zu einem Ende. Um seine Macht aufrechtzuerhalten, ist Erdogan ein Bündnis mit einer ultra-nationalistischen Partei eingegangen. Die MHP gewinnt dadurch vor allem Posten in der Bürokratie, aber auch Einfluss im Sicherheitsapparat. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass die MHP das Sagen in der Koalition hat. Sie wird von sechs bis sieben Prozent gewählt. Ohne Erdogan hätten sie keine Chance, zu regieren.

profil: Peker hat über eine Reihe von hochrangigen Politikern ausgepackt – außer über Erdogan selbst. Wie gefährlich kann dieser Mann in Dubai dem Präsidenten noch werden?
Adar: Ich sehe das anders. Erdogan steht im Zentrum der Vorwürfe – und das von Anfang an. Dazu muss man wissen, dass das politische System in der Türkei stark auf seine Person zugespitzt ist. Das korrupte System, das die AKP etabliert hat, kann nicht ohne Mitwissen Erdogans aufrechterhalten werden. Peker verhält sich dem Präsidenten gegenüber zurückhaltend. Gleichzeitig hat er angekündigt, dass es zu einer Art Vier-Augen-Gespräch kommen wird.

profil: Was will Peker? Rache?
Adar: Wenn wir seinem Narrativ folgen, dann Ja. In den Videos erzählt er, dass er darüber verärgert ist, wie die türkische Polizei seine Familie behandelt hat. Aufgrund der Ermittlungen gegen Ihn gab es eine Razzia auf seinem Anwesen in Istanbul. Für Pekers Vorgehen gibt es aber noch einen weiteren Grund: Offenbar wurde er aus dem korrupten System, das er in seinen Videos beschreibt, ausgeschlossen.

profil: Peker hat also Privilegien verloren. Können die türkischen Behörden jemanden wie Peker zum Schweigen bringen? Wie viele YouTube-Videos wird er noch ins Internet stellen?
Adar: All diese Vorwürfe kommen von einem Insider. Das macht sie am Ende auch so interessant. Bisher haben die türkischen Behörden nicht versucht, die Videos auf YouTube zu löschen. Die Strategie der Regierung ist es, Peker zu ignorieren oder ihn als Agent der US-amerikanischen und israelischen Geheimdiensten darzustellen. Ich weiß nicht, wie viele Videos noch kommen werden. Aber Peker scheint entschlossen zu sein.

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Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.