EU-Sonderbeauftragter: „Der Westbalkan ist nicht unser Hinterhof“

Miroslav Lajčák ist seit 15 Monaten EU-Sonderbeauftragter für den Westbalkan. Der slowakische Diplomat über die europäische Erweiterungsmüdigkeit, chinesische Konkurrenz und verfeindete Nachbarstaaten.

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profil: Dieser Tage erinnern wir uns an 30 Jahre Staatszerfall Jugoslawiens. Die Folgen auf dem Balkan waren verheerend: der schlimmste Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg. Welche Lektionen ziehen Sie für sich und ihren Berufsstand – die Diplomatie – daraus?

Lajčák: Die wichtigste Lektion ist, die Situation frühzeitig zu erkennen und schnell zu reagieren. Wir dürfen Situationen nicht schönmalen. Ich hoffe, dass uns die tragische Situation der Neunzigerjahre und die vielen Toten daran erinnern, was Diplomatie leisten kann. Wir sind hier, um Konflikte vorzubeugen und politische Lösungen zu finden.

profil: In Bosnien und im Kosovo haben Diplomaten genau das nicht geschafft. Ein Genozid in Srebrenica, ethnische Säuberungen, Hunderttausende Flüchtlinge erinnern uns heute daran.

Lajčák: Es gab Versuche, diplomatisch zu vermitteln. Aber diese Verhandlungen haben militärische Konflikte nicht verhindern können. Wenn Soldaten anstatt der Diplomaten anrücken, dann waren die Worte nicht genug. Ich selbst war mein Leben lang Diplomat und glaube an die Kraft des Dialogs. Aber dafür müssen wir als internationale Gemeinschaft geeint sein.

profil: Sie haben in zahlreichen Konflikten vermittelt. Ihre neue Aufgabe ist es, im Kosovo-Serbien-Konflikt eine Einigung herbeizuführen. Serbien sieht den Kosovo als Teil des eigenen Staatsgebietes. Welche Kompromisse müssen beide Seiten machen, um sich auszusöhnen?

Lajčák: Der Dialog ist nur ein Teil meines Mandats in der Region. Auch regionale Kooperationen und die Sichtbarkeit der Europäischen Union auf dem Westbalkan gehören dazu. Den Dialog gibt es seit 2011. Die Vereinten Nationen haben diesen Prozess der Europäischen Union anvertraut und klargemacht warum: Er ist eng mit der europäischen Zukunft des Westbalkan verbunden. Über die Jahre haben wir sehr konkrete Ergebnisse erreicht. Aber mittlerweile ist der Prozess zehn Jahre alt. Jetzt wollen wir unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, ein Ende zu finden.

profil: Und wie könnte dieses Ende aussehen?

Lajčák: Ein rechtlich bindendes Abkommen zur Normalisierung der Beziehungen zwischen dem Kosovo und Serbien. Um das zu erreichen bin ich theoretisch 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche im Einsatz. Aber der Dialog gehört nicht uns, sondern den Verhandlungspartnern. Sie entscheiden über Geschwindigkeit und Resultat. Unsere Rolle ist es, dass der Prozess mit dem internationalen Recht vereinbar ist und europäische Werte widerspiegelt. Die Verhandlungspartner müssen wissen, was sie erreichen wollen und wie wir am besten dorthin kommen.

profil: Das kann auch zu gefährlichen Abenteuern führen. 2018 haben die Präsidenten beider Länder vorgeschlagen, die Grenzen zwischen den Ländern neu zu ziehen. Ist diese Idee noch auf dem Tisch?

Lajčák: Nein. Die EU hat klargemacht, dass die Idee der Neuziehung von Grenzen nach ethnischen Linien vom Tisch ist. Ich persönlich glaube, dass das ein gefährliches Projekt ist, das eine Box der Pandora öffnen könnte. Innerhalb der EU ziehen wir unsere Grenzen ja auch nicht neu. Warum sollte es auf dem Westbalkan eine gute Idee sein? Wenn wir daran glauben, dass die Zukunft der Region in der EU liegt, dann sollten wir europäische Lösungen für das 21. Jahrhundert anstreben.

profil: Wenn der serbische Präsident Aleksandar Vučić nach dem ersten Treffen in Brüssel am 15. Juni sagt, dass er den Kosovo niemals anerkennen wolle – ist das dann frustrierend für Sie? Genau das ist ja das Ziel des Dialogs.

Lajčák: Es war das erste Treffen zwischen Vučić und Albin Kurti (kosovarischer Premierminister, Anm.). Es wäre naiv zu glauben, dass es einfach werden würde. Das Treffen war hilfreich. Beide haben klargemacht, dass sie an die Notwendigkeit, ihre Beziehungen zu normalisieren sowie eine Zukunft in der Europäischen Union, glauben. Konkret haben Sie zugestimmt, sich bald wieder treffen zu wollen. Beide erkennen, dass der Dialog wichtig ist und dass sie politische Verantwortung dafür tragen.

profil: 2003 hat die Europäische Union ein Versprechen gegeben: Die Länder des Westbalkan können in naher Zukunft beitreten. 18 Jahre später hat es nur Kroatien geschafft. Was ist da passiert?

Lajčák: Damals, als die EU-Regierungschefs dieses Versprechen gegeben haben, hätten Sie wohl selbst nicht gedacht, dass von sechs erst zwei Verhandlungen führen, zwei auf grünes Licht warten und zwei noch nicht einmal einen Status als Beitrittskandidat haben. Es ist klar, dass der Prozess nachgelassen hat. Und warum? Auf Seiten der EU waren wir mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert, die niemand erwartet hätte: Finanzkrise, Migrationskrise, jetzt Covid. Wir haben mehr nach innen als nach außen geschaut. Aber die EU will die Erweiterung immer noch. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat im September 2020 klargemacht, dass die Zukunft der Region in der Union liegt. Jetzt kann es keine Abkürzungen und keine Alternativen zu Reformen geben. Nur durch Reformen kann der Westbalkan einen Beitrag zur EU leisten und sie am Ende stärker machen.

profil: Ein Gedankenspiel. Wo wird die Region in 10 Jahren stehen, wenn die EU weiter auf der Bremse steht und mit sich selbst beschäftigt ist?

Lajčák: Letztes Jahr hat keiner der sechs Partner auf dem Westbalkan die verdiente Anerkennung von Seiten der Mitgliedsstaaten der EU für Fortschritte auf dem Weg in die Union erhalten. Das ist nicht gut. So verlieren wir Zeit. Ich wünsche mir, dass die Region in 10 Jahren bereits in der Union ist, oder zumindest kurz davor ist und bereits an die Türe klopft. Ich wünsche mir signifikanten Fortschritt. Es gibt keinen Umweg, um dorthin zu gelangen. Die Reformen zählen. Aber auch, dass Kosovo und Serbien ihre Beziehungen normalisieren. Denn der Konflikt hat das Potenzial, die gesamte Region zu blockieren.

profil: Der Westbalkan wird oft als geopolitische Bühne bezeichnet, auf der die Türkei, Russland und China mehr und mehr Einfluss gewinnen. Beispiele, was da konkret passiert, werden meist ausgelassen. Haben Sie welche?

Lajčák: Der Westbalkan ist eine Region, die sowohl wirtschaftlich als auch geopolitisch interessant ist. Es ist normal, dass andere Player interessiert sind, dort Präsenz zu zeigen. Wir als EU besitzen den Westbalkan ja nicht. Aber unser Angebot ist einzigartig. Wir sind der größte Investor und Handlungspartner. Wir verleihen die höchsten Darlehen und Förderungen. Wir investieren Millionen Euro in Infrastrukturprojekte – von Schnellstraßen und Zugstrecken bis zu digitalen und grünen Zukunftsprojekten, sowie die Stärkung der öffentlichen Administration. Kein anderer Partner macht das.

profil: Dem wird nicht immer Dankbarkeit gezollt. Während der Corona-Pandemie tauchten in Belgrad Plakate mit der chinesischen Flagge und dem Konterfei von Präsidenten Xi Jinping auf. Da hätte auch das Gesicht von Von der Leyen abgebildet sein können.

Lajčák: Unsere Partner müssen dem Angebot, das wir leisten, auch Raum geben. Die EU ist sicherlich nicht der schnellste Akteur. Das hat sich in der Pandemie gezeigt, wo Russland und China bei der Impfstoffbeschaffung schneller und vor allem sichtbarer waren. Wir müssen sicherstellen, dass das, was wir tun, gesehen wird. Am Ende gibt es kein besseres Angebot als eine Mitgliedschaft in der EU. Ich glaube nicht, dass wir in einem Wettbewerb stehen. Aber wir müssen sicherstellen, dass unser Angebot nicht an Farbe verliert, wie es in den letzten Jahren passiert ist. Der Westbalkan ist nicht unser Hinterhof. Es ist unser Garten. Und es liegt im Interesse aller, dass die Länder beitreten.

profil: Der EU wird nachgesagt, nicht glaubwürdig zu sein. Wenn fünf EU-Mitgliedsländer, darunter auch ihr Heimatland, die Slowakei, den Kosovo nicht als Staat anerkennen: Warum sollte Vučić das tun?

Lajčák: Ich würde die fünf Mitgliedsländer nicht so hervorheben. Vergessen wir nicht, dass Kosovo ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der EU abgeschlossen hat. Alle 27 Mitgliedsländer haben zugestimmt. Alle Mitgliedsländer sind sich einig, dass der Kosovo eine europäische Zukunft hat. Mein Mandat, im Dialog zu vermitteln, ist von allen 27 Ländern abgesegnet.

profil: Kosovo ist das einzige Land der Region, dessen Menschen nicht visafrei in die EU reisen können. Der Grund: Einzelne Mitgliedsländer stehen auf der Bremse. Warum?

Lajčák: Ich bin auf der Seite des Kosovo in dieser Frage. Ich weiß, dass Reisefreiheit einer der sichtbarsten Vorteil der EU-Integration ist. Es ist ein Zeichen von Vertrauen. Die EU-Kommission hat bereits 2018 klargemacht, dass Kosovo alle Kriterien erfüllt hat. Auch das EU-Parlament unterstützt die Visa-Liberalisierung. Aber wer am Ende entscheidet, ist der Rat der EU, also die EU-Regierungschefs. Und der Konsens ist leider nicht da. Die Sorgen müssen ausgeräumt und offene Fragen beantwortet werden. Ich hoffe, dass der Kosovo bald die Reisefreiheit bekommt, weil die Menschen das verdient haben. Für die Glaubwürdigkeit der EU und die Sichtbarkeit wäre es eine gute Sache.

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.