Interview

Fall Raif Badawi: „Freiheit bedeutet, dass man sagen kann, was man will.“

Vor einem Jahr ist der saudische Blogger Raif Badawi nach zehn Jahren aus der Haft entlassen worden. Aber er darf das Land weiterhin nicht verlassen. Seine Frau Ensaf Haidar hoffte, dass die Familie im Exil in Kanada zusammenkäme. profil hat die Ehefrau des Aktivisten getroffen.

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Raif Badawi ist der bekannteste liberale Internet-Aktivist Saudi-Arabiens. Er ist noch keine 40 Jahre alt und hat die letzten 10 Jahre im Gefängnis verbracht. Am 11. März 2022 wurde Raif Badawi aus dem Gefängnis entlassen. Doch auch jetzt nach seiner Haftentlassung ist Badawi keinesfalls frei oder sicher: das Reisen ins Ausland, die Kontaktaufnahme nach außen oder ein Treffen mit seiner Familie im kanadischen Exil bleiben ihm untersagt.

 

Ihr Mann kämpft für das Recht auf freie Meinungsäußerung, setzte sich lange und vehement für Frauenrechte ein – nachdem was ihm widerfahren ist, wünschen Sie sich manchmal, er hätte das nicht gemacht?

Haidar 

Reue kann ich es nicht nennen, aber manchmal frage ich mich: Hätte er vielleicht nicht ein bisschen damit warten können? Jetzt gerade passiert in Saudi-Arabien genau das, was mein Mann früher gefordert hat. Ich kann ihn nicht sehen, er kann seine Kinder nicht sehen. Aber ich bin trotzdem stolz auf ihn.

 Sie haben Ihren drei Kindern lange nicht erzählt, dass ihr Vater im Gefängnis sitzt. Warum?
Haidar 
Ich habe es sehr lange vor meinen Kindern geheim gehalten. Wir haben zunächst in Ägypten und dann im Libanon gelebt, bevor wir nach Kanada gingen. Meine Kinder waren damals noch sehr klein. Sie dachten, nur schlechte Menschen kommen ins Gefängnis. Sie hätten auch nicht verstanden, dass ihr Vater für Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung kämpft. Ich habe es so lange vor meinen Kindern geheim gehalten, bis mein Mann 2015 die Peitschenhiebe als weitere Strafe bekommen hatte. Die mediale Aufmerksamkeit war enorm, viele Journalisten besuchten uns in Kanada. Deshalb habe ich es meinen Kindern schlussendlich gesagt; ich wollte, dass sie es von mir erfahren.
Mittlerweile sind Ihre Kinder 19, 18 und 15. Sie verstehen also sehr gut, was vorgeht und wofür ihr Vater kämpft. Wie gehen sie damit um?
Haidar 
Meine Kinder sind durch diese Situation schneller erwachsen geworden. Sie haben sehr früh von den Begriffen Freiheit, Menschenrechte und Gleichberechtigung gehört und gelernt, was das bedeutet. Unsere Kinder können einfach nicht nachvollziehen, weshalb man wegen eines Tweets oder eines Blogeintrags ins Gefängnis kommt. Für sie ist das ein Grundrecht, so wie es sein soll. 

Saudi-Arabien hat gegen Ihren Mann nach seiner Freilassung ein zehnjähriges Ausreiseverbot verhängt. Sie dürfen nicht nach Saudi-Arabien reisen. Wie halten Sie den Kontakt aufrecht?

Haidar 
 Wir kommunizieren ganz normal übers Telefon. Aber Facebook, Twitter oder andere soziale Medien, in denen er seine Meinung öffentlich äußern könnte, darf er weiterhin nicht verwenden. Er darf es auch nicht auf der Straße.
 

Raif Badawi

40, gründete im Jahr 2008 das im Juni 2012 zwangsgeschlossene Online-Forum „Freie saudische Liberale“ mit, das für liberale Saudis die wichtigste Diskussions-Plattform darstellte. Badawi sehnte sich nach Reformen. Bereits 2009 erließen die Behörden ein Ausreiseverbot für ihn. Zeitgleich wurden seine Bankkonten eingefroren. 2011 kam es zur Anklage wegen Verletzung von religiösen Werten. Am 17. Juni 2012 wurde Badawi festgenommen und die Online-Plattform „Freie saudische Liberale“ zerschlagen.

Ihr Mann darf sich innerhalb Saudi-Arabiens frei bewegen. Wird er dabei überwacht?

Haidar 
 Ich bin mir nicht sicher. Und selbst, wenn es so wäre, würden wir es nicht erfahren. Fakt ist: Er macht nichts Falsches und hat deshalb nichts zu befürchten. Er fühlt sich jetzt nach zehn Jahren wieder wie ein freier Mensch.
 Glauben Sie, dass das zehnjährige Ausreiseverbot verkürzt wird?
Haidar 
Ich hoffe es. Das, was Raif lange gefordert hatte, nämlich die Möglichkeit, seine Meinung frei zu äußern und die Rechte der Frauen zu stärken, wird jetzt langsam auch in Saudi-Arabien umgesetzt. Ich hoffe, dass sich unter diesen Veränderungen in Saudi-Arabien auch etwas in Bezug auf die Strafe meines Mannes ändert und er vielleicht früher ausreisen kann.
 
 Würden Sie Saudi-Arabien überhaupt noch als Ihre Heimat bezeichnen?
Haidar 

Ich identifiziere mich mittlerweile mehr mit Kanada. In Québec fühle ich mich als verantwortungsbewusste, eigenständige Frau.

 Was muss sich in Saudi-Arabien ändern, damit das, was Ihrem Mann widerfahren ist, nicht mehr passiert?
Haidar 
 Als ich noch in Saudi-Arabien gelebt habe, dachte ich, dass die Freiheit darin besteht, dass ich mich nicht mehr voll verschleiern muss, dass ich Autofahren darf oder dass ich mich frei bewegen kann. Aber nachdem ich nach Kanada gezogen bin, wurde mir bewusst, dass das nicht Freiheit bedeutet. Freiheit bedeutet, dass man sagen kann, was man will.

Die saudische Führung behauptet auch, Menschenrechte seien westliche Werte, die in der arabischen Kultur keinen Platz finden… 

Haidar 
 Ich respektiere die Traditionen in Saudi-Arabien. Aber wenn es um meine Rechte als Mensch und Frau geht, will ich sie auch genießen – und dafür kämpfen. Es ist die Pflicht eines jeden Menschen, dafür zu kämpfen.
 Was können und müssen westliche Länder unternehmen, damit sich die Menschenrechtslage in Saudi-Arabien bessert?
Haidar 
 Ich schätze das Engagement vieler Staaten sehr. Einige Länder sind immer noch stark dahinter, um Raif zu helfen. Er wurde auch durch westliche Länder vielfach ausgezeichnet. Ich hoffe einfach, dass wir damit weitermachen, bis Raif bei uns in Kanada ist. Das ist ein Unrecht, was Saudi-Arabien hier macht – nicht nur meinem Mann gegenüber, sondern auch seinen Kindern.
 Wie kämpfen Sie für Ihren Mann weiter?
Haidar 
 Es ist meine Pflicht für meinen Mann zu kämpfen – und damit muss ich weitermachen. Wenn man nichts tut, dann ändert sich auch nichts. Deshalb fordere ich jeden auf, dem Unrecht widerfährt, den Mund aufzumachen uns sich zu wehren. Wenn ich den Fall meines Mannes nicht publik gemacht hätte, dann würde jetzt niemand von Raifs Schicksal wissen.
Maximilian Mayerhofer

Maximilian Mayerhofer

war bis Mai 2023 Online-Redakteur bei profil. Davor war er beim TV-Sender PULS 4 tätig.