Zweieinhalb Monate saß der Militärexperte Giorgi Kalandadze in Berlin fest. Daheim in der Ukraine wurde er schmerzlich vermisst.

Falsche Freunde: Warum hielt Deutschland einen Berater der Ukraine fest?

Wie Deutschland dabei geholfen hat, einen wichtigen Berater der ukrainischen Streitkräfte wochenlang aus dem Verkehr zu ziehen.

Drucken

Schriftgröße

Als Giorgi Kalandadze am 19. Dezember des vergangenen Jahres von Berlin zurück nach Kiew fliegen will, wartet am Flughafen eine unangenehme Überraschung auf ihn. Bei der Passkontrolle nimmt die Bundespolizei den militärischen Berater der ukrainischen Regierung fest, weil gegen ihn ein Haftbefehl vorliegt. Bereits im Jahr 2015 hatten die georgischen Behörden bei Interpol um internationale Fahndung („Red Notice“) nach Kalandadze, einem gebürtigen Georgier, ersucht, allerdings ohne Erfolg. Die internationale Polizeibehörde lehnte das Fahndungsersuchen ab, da es als „insgesamt von überwiegend politischer Natur“ einzustufen sei.
In Deutschland sah man das offenbar anders. Berlin gab dem Ersuchen aus Georgien statt und schrieb Kalandadze bundesweit zur Fahndung aus. Und so kam es, dass Giorgi Kalandadze mehr als zwei Monate, bis kurz nach dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine, in Berlin festsaß.

Für die Ukraine war es höchste Zeit, dass er zurückkommt: Als ehemals hochrangiger Offizier mit Kriegserfahrung und Experte für den Guerilla-Kampf ist Kalandadze ein wichtiger Berater des ukrainischen Innen- sowie des Verteidigungsministeriums.

Doch von Anfang an.

Die Verhaftung

Georgi Kalandadze, geboren 1980 in der georgischen Hauptstadt Tiflis, hat schon in zwei Kriegen gegen die russische Armee gekämpft. Als Putin seine Truppen 2008 in Georgien einmarschieren ließ, war er Kommandant einer Infanteriebrigade, später wurde er Generalstabschef seines Landes.

2014 kämpfte Kalandadze im Donbass aufseiten der ukrainischen Armee und half bei der Ausbildung von Soldaten. Seither berät er die ukrainische Regierung, auch beim Aufbau der Nationalgarde half er mit. Wegen „herausragender Verdienste um die Ukraine“ verlieh ihm Präsident Wolodymyr Selenskyj 2019 die Staatsbürgerschaft. Kalandadze zog mit seiner Familie nach Kiew. In seiner alten Heimat war er nicht mehr gern gesehen.

Für Kalandadze wird es in Georgien ab 2012 ungemütlich. Im Oktober desselben Jahres kommt es in Tiflis zu einem Machtwechsel, Präsident Michail Saakaschwili und seine Partei „Vereinte Nationale Bewegung“ müssen der bisherigen Oppositionspartei „Georgischer Traum“ weichen. Die neue Regierung gilt als russlandfreundlich – immerhin ist sie mit dem Ziel angetreten, die schwierigen Beziehungen mit Moskau zu normalisieren.

Als eine seiner letzten Amtshandlungen macht Saakaschwili Kalandadze zum Generalstabschef Georgiens, doch das hält nicht lange. Wenige Wochen später wird Kalandadze wegen Amtsmissbrauchs sowie der Misshandlung mehrerer Soldaten festgenommen.

Warnungen aus dem Westen kommen schon damals. Die Verfahren gegen Kalandadze und andere Vertraute Saakaschwilis könnten „politisch motiviert“ sein, sagt der damalige NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen. Kalandadze kommt mit dem Schrecken davon – vorerst. Ein Gericht in Tiflis glaubt den Belastungszeugen nicht, Kalandadze kommt frei.

Doch schon 2015 – Kalandadze lebt bereits in der Ukraine – erhebt Georgien weitere schwere Vorwürfe. Jetzt wird er beschuldigt, im Sommer 2012 in Tiflis gemeinsam mit dem damaligen Verteidigungsminister und zwei weiteren hochrangigen Militärs einen Terrorverdächtigen gefoltert zu haben. Die georgischen Behörden wollen, dass Interpol Kalandadze zur weltweiten Fahndung ausschreibt. Weil die internationale Polizeibehörde das aus Sorge wegen vermuteter politischer Motive ablehnt, versucht es Tiflis offenbar bilateral – mit Erfolg, zumindest in Deutschland. Im Jahr 2017 schreibt das Bundeskriminalamt in Berlin Kalandadze, mittlerweile ukrainischer Staatsbürger, zur Fahndung aus.

Dafür musste die Bundesregierung (damals unter Bundeskanzlerin Angela Merkel) grünes Licht geben, auch das Bundesamt für Justiz und das Auswärtige Amt waren in den Fall involviert. profil liegt ein E-Mail von Anfang März 2017 vor. Darin schreibt das Bundesjustizamt an das Bundeskriminalamt, dass „gegen eine Ausschreibung zur Festnahme im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt KEINE Bedenken“ vorlägen (Hervorhebung im Original).

Die Frage ist: Wieso riskiert Deutschland, sich zum Handlanger der georgischen Regierung und indirekt auch Moskaus zu machen? Immerhin hat auch Russland versucht, den ehemaligen Generalstabschef weltweit zur Fahndung ausschreiben zu lassen – auch das lehnte Interpol als politisch motiviert ab.

Wieso kam Berlin zu einer ganz anderen Einschätzung als Interpol? Und wie kam diese Entscheidung zustande? profil hat diese Fragen an das Justizministerium und an das Auswärtige Amt in Berlin gestellt. Aus dem Bundesministerium heißt es, dass man sich „zu konkreten Einzelfällen nicht äußert“. Allgemein gelte, dass „der Auslieferungsverkehr zwischen Deutschland und Georgien auf der Grundlage des Europäischen Auslieferungsabkommens erfolgt“. Eine Auslieferung wegen politischer Verfolgung sei unzulässig. Allerdings sei der Begriff der politischen Verfolgung im Europäischen Auslieferungsabkommen nicht deckungsgleich mit der Regelung bei Interpol.

Auch das Auswärtige Amt will Einzelfälle nicht kommentieren. „Die Gründe hierfür sind der Schutz der Persönlichkeitsrechte Betroffener sowie die für den Rechtshilfeverkehr erforderliche Vertraulichkeit“, heißt es in einem E-Mail.

Der deutsche Botschafter in Tiflis schreibt, dass er in der Frage nicht weiterhelfen könne. „Eine Botschaft ist an solchen Entscheidungen wie Ausschreibung von Personen zur Fahndung nicht beteiligt“, so Botschafter Hubert Knirsch in einem E-Mail.

Die Fragen bleiben also weitgehend unbeantwortet.

Auch die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg scheiterte in dem Versuch, die offenen Fragen zu klären. Insgesamt viermal haben die zuständigen Juristen die Bundesregierung – das Auswärtige Amt und das Justizministerium – gebeten, zu erklären, wieso sie zu einer anderen Einschätzung kam als Interpol. Eine Antwort bekommen auch die Staatsanwälte nicht. Das geht aus einem Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft an das Brandenburgische Oberlandesgericht hervor, das profil vorliegt.

Warten auf mögliche Auslieferung

Als Kalandadze schließlich am Flughafen in Berlin verhaftet wird, sei die Welt für ihn stehen geblieben, sagt er im Gespräch mit profil. Die Polizisten sprachen Deutsch, er verstand nicht, was sie sagten. Nur ein Wort wiederholten sie immer wieder auf Englisch: „Torture“, „Folter“. Als er den Vorwurf als erfunden zurückweist, seien die Beamten aggressiv geworden, erinnert sich Kalandadze.

Als Nathalie Vogel von der Verhaftung erfährt, sitzt sie im Büro des European Values Center for Security Policy (EVC) in Prag und liest den Pressespiegel. Vogel leitet das Monitoring des Thinktanks über Desinformation und feindliche Einflussoperationen im deutschsprachigen Raum. „Es war sehr schnell klar, dass das eine Aktion war, um ihn widerrechtlich festzuhalten“, sagt sie. Nun gilt es, Beweise zu sammeln. Vogel und ihre Kollegen suchen das Gespräch mit Menschen, die Kalandadze kennen.

Vogel ist eigentlich Politikwissenschafterin und Expertin für psychologische Kriegsführung und Nachrichtendienste. Die gebürtige Französin mit kosakischen Wurzeln, deutsche Staatsbürgerin und Reservistin der Deutschen Luftwaffe, ist am Institute of World Politics ausgebildet worden. Sie hat Internationale Beziehungen in Bonn gelehrt und auch für die NATO gearbeitet. Nun nutzt sie ihre Kontakte, um Kalandadze zu helfen.

Der ehemalige Generalstabschef kommt in die Justizvollzugsanstalt Cottbus. Dort sei es wie in einem mittelmäßigen Hotel gewesen. Durch das Fenster seiner Zelle kann er den Wald sehen. Das Essen ist in Ordnung.

Mit der Zeit wird Kalandadze zunehmend nervös. An den Grenzen der Ukraine sammeln sich russische Truppen, die Spannung steigt. Kalandadze vertreibt sich die Zeit, liest Bücher und trainiert, um körperlich fit zu bleiben.

Vor dem Amtsgericht Königs Wusterhausen gibt er an, Opfer politischer Verfolgung zu sein. Die georgischen Behörden würden „Amtshilfe“ für Russland leisten. Moskau sei es ein Dorn im Auge, dass er gegen die russische Armee gekämpft habe. Mit Blick auf den bevorstehenden Angriff Russlands auf die Ukraine solle er nun „aus dem Spiel genommen werden“.

Tatsächlich weist einiges darauf hin, dass Kalandadze damit recht haben könnte. Obwohl er in Deutschland bereits seit 2017 zur Fahndung ausgeschrieben und seither mehrmals ein- und ausgereist war, wurde er erst Jahre später verhaftet – zwei Monate vor dem Einmarsch der russischen Truppen in der Ukraine.

In Georgien, das Kalandadze „Folter durch eine organisierte Gruppe“ vorwirft, drohen ihm zwischen 12 und 17 Jahren Freiheitsstrafe. Anfang des Jahres sucht Tiflis um Auslieferung an.

Doch so weit kommt es nicht. Im Jänner kommt Kalandadze auf Kaution frei, in Berlin wartet er auf eine Entscheidung im Auslieferungsverfahren. Wochenlang befassen sich die Staatsanwälte in Brandenburg mit dem Fall, der über Deutschland hinaus für Aufsehen sorgt. Saakaschwili, seit seiner überraschenden Rückkehr nach Georgien im vergangenen Oktober selbst in Haft, meldet sich aus dem Gefängnis heraus zu Wort und bezeichnet Kalandadze als „Helden“. Es sei „eine Schande“, dass die georgische Regierung einem Gegner Russlands „Schwierigkeiten machen“ wolle.

Auch Georgier in Deutschland protestieren gegen die Verhaftung. Bei der Berliner Polizei und der Generalstaatsanwaltschaft Berlin äußern sie ihre Sorge, dass Kalandadze im Fall einer Auslieferung nach Georgien weiter nach Russland überstellt und dort getötet werden könnte.

Auch Vogel ist sich sicher: Russland habe Georgien beauftragt, Kalandadze aus dem Verkehr zu ziehen. „Der Fall“, sagt sie, „ist völlig konstruiert“. Während der ehemalige Generalstabschef in Berlin in Haft sitzt, kontaktiert Vogel hochrangige Persönlichkeiten, die bereit sind, ihm Leumundszeugnisse auszustellen.

Darunter sind die ehemaligen Präsidenten Estlands und der Ukraine, Toomas Hendrik Ilves und Viktor Juschtschenko. Letzterer schickt ein Schreiben an den Justizminister in Berlin, in dem er Kalandadze einen guten Leumund bescheinigt und bittet, sicherzustellen, dass der Prozess gegen ihn „den höchsten demokratischen Standards entspricht, die eine rechtswidrige strafrechtliche Verfolgung von Personen aus politischen Gründen nicht zulassen“. Ein ähnliches Schreiben kommt von einem Abgeordneten des ukrainischen Parlaments.

Entscheidung und offene Fragen

Auch bei den Staatsanwälten wächst offenbar der Zweifel an der Sache. Ein Zeuge aus Wien, der ukrainische Staatsbürger Aleksandre I., ehemals „Brigadejurist“ der georgischen Streitkräfte, erklärt, im Jahr 2013 in Georgien verhaftet und von Militärpolizei und Staatsanwaltschaft vernommen worden zu sein. Man habe ihn gefoltert, um eine belastende Falschaussage gegen Kalandadze zu erzwingen. 2014 sei ihm die Flucht gelungen, in Österreich erhielt er politisches Asyl.

I. gibt an, als Zeuge bereitzustehen, um die „schmutzige Kampagne gegen General Kalandadze“ zu belegen.

Schließlich kommt auch Oberstaatsanwalt Alexander Roth zu dem Urteil, dass eine Auslieferung nicht zulässig sei. Es bestehen Zweifel am Tatverdacht. Es sei „unwahrscheinlich“, dass Folterungen von Terrorverdächtigen durch den zweithöchsten Offizier des Staates vorgenommen werden. Auch die Aussage des in Wien lebenden I. tragen zum Urteil bei. Dessen Aussagen erhielten „zusätzliches Gewicht dadurch, dass dieser Zeuge in Österreich politisches Asyl erhalten hat, wobei die österreichischen Behörden ausdrücklich anerkannt haben, dass er berechtigte Furcht vor politischer Verfolgung in Georgien habe“.

„Bemerkenswert“ erscheint dem Oberstaatsanwalt, dass das georgische Ersuchen durch Interpol als „politisch motiviert“ eingestuft wurde, das Bundesamt für Justiz aber trotz mehrfacher Aufforderung durch den Generalstaatsanwalt nicht erklären konnte, wieso es von dieser Einschätzung abwich.

Rückkehr in die Ukraine

Anfang März ist es schließlich so weit. Die Generalstaatsanwaltschaft Brandenburg beantragt, die Auslieferung Kalandadzes nach Georgien für unzulässig zu erklären. Das Oberlandesgericht hebt den Haftbefehl auf, Kalandadze bekommt seinen Pass zurück. Später, aber doch wird auch die Bundesregierung aktiv. Das Justizministerium informiert die georgische Regierung darüber, dass sie die Auslieferung nicht bewilligt.

Der Fall nimmt ein Ende, noch bevor das Gericht über die Auslieferung entschieden hat. Kalandadze kehrt zurück nach Kiew und hilft dem Land im Kampf gegen Russlands Truppen. Wie steht Kalandadze zu Deutschland? Ist er wütend, weil er wochenlang in Berlin festsaß?

„Wissen Sie“, sagt er Anfang dieser Woche im Gespräch mit profil, „ich habe eine lange Geschichte mit Deutschland. Meine Mutter lebte dort, ich liebe dieses Land.“ Kalandadzes Frau ist in Deutschland, die Tochter geht dort zur Schule. „Wenn der Krieg vorbei ist, werde ich zurückkommen und ein paar Leute fragen, wie sie ihre Entscheidungen getroffen haben.“ Er wolle herausfinden, wie es zu all dem kommen konnte. „Wütend“, sagt er, „bin ich aber nicht.“

Über Vogel kann man das nicht behaupten. Sie erhebt schwere Vorwürfe gegen die deutsche Botschaft in Tiflis, das Auswärtige Amt und die Regierung in Berlin.

Der Fall Kalandadze mag abgeschlossen sein. Doch er zeigt beispielhaft, wie Deutschland viele Jahre lang mit Russland umgegangen ist. „Solche Fälle des Umgangs der Bundesrepublik mit autoritären Staaten gibt es zuhauf“, sagt Vogel. Man habe Diplomaten zu Handelsreisenden gemacht. „Der diplomatische Dienst in Deutschland ist kaputt“, sagt Vogel, „Berlin hat jahrelang wirtschaftliche Interessen vor alle anderen gestellt.“ Den Zustand des Auswärtigen Amts in Deutschland vergleicht sie mit jenem des BVT in Österreich: „Das ist ein Sicherheitsrisiko. Zahlreiche deutsche Diplomaten arbeiten nach ihrer Karriere beim Staat für Konzerne, die autoritären und diktatorischen Regimen gehören.“

Es liege nun an Außenministerin Annalena Baerbock, die Versäumnisse der letzten Jahre aufzuholen. Das Prinzip „Rent a Diplomat“ müsse endlich abgeschafft werden.

Gut möglich, dass die Regierung in Berlin ihren Fehler schlussendlich auch eingesehen hat. Und Kalandadze deshalb freigelassen wurde, noch bevor das Urteil da war.

Bis vor Kurzem war Kalandadze im Norden der Ukraine, um bei der Abwehr der russischen Truppen zu helfen. Jetzt, vor der angekündigten Großoffensive im Osten des Landes, wird er sich auf den Weg an die Front machen. Wenn der Krieg vorbei ist, will er seine Familie zurück in die Ukraine holen.

Kalandadze kann sich vorstellen, im Alter nach Deutschland zurückzukehren. „Für die Pension“, sagt er, „ist es bestimmt ein gutes Land“.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.