Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) in der österreichischen Botschaft in Moskau vor einem Treffen mit dem russischen Präsidenten

Karl Nehammer: Der Weg war das Ziel

Karl Nehammers vergebliche Friedensmission in Moskau zeigt das Amtsverständnis des Bundeskanzlers: Volle Kraft voraus, egal wohin – jetzt auch mit Piefke-Power.

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Österreichische Bundeskanzler reisten gern nach Russland, ohne sich von EU-Sanktionen gegen Moskau groß irritieren zu lassen. Im Juni 2017 nahm Christian Kern, SPÖ, am Sankt Petersburger Wirtschaftsforum teil – als einziger Regierungschef aus einem EU-Land. In einer Podiumsdiskussion mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin beklagte Kern, die nach der Krim-Annexion verhängten EU-Sanktionen würden der österreichischen Wirtschaft schaden. Schon zuvor hatte der Kanzler „eine kontraproduktive Russlandfeindlichkeit“ im Westen geortet.

Im Februar 2018 traf Kanzler Sebastian Kurz, ÖVP, mit Putin in Moskau zusammen. Danach erzählte Kurz im kleinen Kreis von „Putins Kälte“; und dass ein Menschenleben für den Präsidenten offenbar wenig zähle. Neben Putin traf Kurz den Wirtschaftsentwicklungsminister, den Energieminister und den Chef des Energiekonzerns Gazprom. Die Handelsbeziehungen blühten, trotz der EU-Sanktionen. Die österreichischen Exporte nach Russland waren im ersten Halbjahr 2017 um 16,5 Prozent gestiegen.

Und nun Karl Nehammer: Am Abend des Palmsonntags war der Bundeskanzler nach Istanbul geflogen, wo er übernachtete. Tags darauf ging es nach Moskau. Das Treffen mit dem russischen Staatspräsidenten fand nicht im Kreml, sondern in Putins Residenz in Nowo-Ogarjowo nahe der Hauptstadt statt.

Das Kanzleramt hatte um den Besuch ein Staatsgeheimnis gemacht, allerdings nicht mit der „Bild“-Zeitung gerechnet. Das Blatt machte den Besuch vorzeitig publik, offensichtlich gut informiert aus Berliner oder Kiewer Regierungskreisen. Mit dem „Bild“-Bericht begann das Rätselraten? Was bezweckt Nehammer mit seiner Reise? Fährt er aus Selbstüberschätzung, reiner Naivität oder aus PR-Gründen zu Putin? Überbringt er eine geheime Botschaft? Und war die EU-Spitze in Nehammers Plan eingebunden?

Für seinen Gast aus Österreich nahm sich Putin etwas mehr als eine Stunde Zeit. Berücksichtigt man die Übersetzungen und Putins Neigung zu langen Vorträgen, dürfte die Netto-Redezeit des Kanzlers beschränkt gewesen sein. Gemeinsames Foto gab es keines, auch keinen Handschlag. Einen russischen PCR-Test hatte Nehammer verweigert. Insgesamt sei die Begegnung „sehr direkt, offen und hart“ und „kein Freundschaftsbesuch“ gewesen, so Nehammer. Er habe „die schweren Kriegsverbrechen in Butscha und anderen Orten angesprochen“, und „dass all jene, die dafür verantwortlich sind, zur Rechenschaft zu ziehen“ seien. Putin habe die Kriegsverbrechen, sagt Nehammer, als westliche Inszenierung dargestellt und sei überhaupt „massiv in der Kriegslogik angekommen“. Generell, meinte der Bundeskanzler, habe er „keine positiven Eindrücke“ gewonnen.

Die österreichische Neutralität war bei dem Treffen kein Thema, die Gasimporte „am Rande“, wie das Kanzleramt gegenüber profil angibt. Zum einen habe Nehammer gegenüber Putin bestätigt, dass sich aus österreichischer Sicht an den Zahlungsmodalitäten für russisches Gas nichts ändere, die OMV also weiterhin in Euro bezahle; zum anderen habe der Kanzler festgehalten, dass Österreich die EU-Sanktionen gegen Russland nie umgehen werde.

Die „Süddeutsche Zeitung“ nannte Nehammers Initiative „sehr löblich und doch vor allem sehr naiv“. Die „Welt“ kommentierte launig: „Ein österreichisches Sprichwort lautet: ,Nutzt’s nix, schad’s nix.‘“

In den EU-Staaten übte man sich in Zurückhaltung. Aktiv wurden nur die Deutschen. Bundeskanzler Olaf Scholz sagte nach Nehammers Treffen, er unterstütze „jegliche diplomatischen Bemühungen“. Aus Brüssel war wenig zu hören. Nehammer betonte mehrfach, die Reise mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel „abgesprochen“ zu haben. Tatsächlich hatte der Kanzler die EU-Spitzen über seinen Plan lediglich informiert.
Die befürchtete propagandistische Ausschlachtung des Besuchs durch russische Medien blieb aus. Auf dem englischsprachigen Portal „pravda.ru“ war zu lesen, Nehammer sei nicht wegen der Ukraine in Moskau gewesen, sondern aus Sorge um die Versorgung Österreichs mit russischem Gas. Das offizielle Moskau nahm Nehammers Besuch nicht übermäßig ernst: „Das Treffen war nach Maßstäben der letzten Zeit nicht sonderlich lang“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow.

Die Initiative zum Moskau-Besuch war vom Kanzlerbüro ausgegangen. Erste Pläne gab es wohl schon Ende März. Laut „Kurier“ soll Nehammer Kanzler Scholz bei seinem Berlin-Besuch am 31. März in den Plan eingeweiht haben. Und auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj soll bereits vor Nehammers Besuch in Kiew informiert gewesen sein. Allerdings dürfte die Begeisterung begrenzt gewesen sein. In Kiew hält man Besuche in Moskau angesichts der brutalen Eskalation der russischen Angriffe im Osten der Ukraine für sinnlos.

Das Schicksal der Ukrainerinnen und Ukrainer geht Nehammer sichtlich nahe. „Der Mensch“ sei „dem Menschen ein Wolf“, sagte er in Kiew. Trotz der Ergebnislosigkeit des Besuchs war Nehammer keineswegs frustriert. Gewissermaßen war schon der Weg nach Moskau sein Ziel. Ein bloßes Telefonat könne ein persönliches Treffen nicht ersetzen, so der Kanzler. „Trotz des Irrsinns“ müsse es einen Raum für Gespräche geben. Er wollte Putin „in die Augen sehen“, wenn er ihn mit dem Vorwurf der Kriegsverbrechen konfrontiere.

Den Vorwurf, sein Moskau-Besuch habe auch eine Marketing-Facette, muss sich Nehammer dennoch gefallen lassen. Denn einer seiner wenigen Begleiter war Kai Diekmann, 57, Ex-Chefredakteur der „Bild“-Zeitung, nunmehr PR-Berater und Miteigentümer der Berliner Kommunikationsagentur „StoryMachine“ (Slogan: „We power your Message“). Schon in Kiew war er dabei gewesen.

Aus dem Kanzleramt heißt es, Diekmanns Unternehmen habe ein „Vertragsverhältnis“ mit der ÖVP und dem Parlamentsklub, allerdings nicht mit dem Kanzleramt. Er verfüge über viel „Erfahrung und Expertise“ in Russland und der Ukraine und habe Wladimir Putin schon mehrfach getroffen. Daher sei er „in der Vorbereitung für diesen Termin eine große Unterstützung“ gewesen.

Von den Grundprinzipien der PR-Branche hält Diekmann offenbar wenig. Berater sollten sich eher nicht in den Vordergrund drängen und nicht selbst zum Gegenstand der Berichterstattung werden. Doch Diekmann postete Fotos aus der Ukraine, die ihn mit Nehammer und Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko zeigten.

Nehammers emotionale Seite mag sympathisch wirken – für einen Kanzler empfiehlt sich allerdings mehr Distanz, will er sich nicht mittelfristig aufreiben.

Sebastian Kurz war bei seinem Moskau-Besuch 2018 zwar auch erst wenige Monate Bundeskanzler, hatte aber seit 2013 diplomatische Erfahrungen als Außenminister gesammelt. Karl Nehammer, zuvor Innenminister, ist in außenpolitischen Angelegenheiten ein Novize. Fehlendes diplomatisches Know-how will er mit militärischen Kenntnissen als Milizoffizier beim Bundesheer wettmachen. So sprach Nehammer in Moskau vor Medienvertretern über die russischen Verluste in der Ukraine und referierte über die Anzahl getöteter Soldaten in Kampfpanzern und Schützenpanzern.

Im Gegensatz zu Kurz macht Nehammer den Eindruck, die Dinge näher – zu nah – an sich herankommen zu lassen. Nachdem Berichte über den Umtrunk von Cobra-Personenschützern in der Kanzler-Wohnung bekannt geworden waren, berief er hastig eine Pressekonferenz ein und beklagte empört, die Opposition würde seine Frau und seine Kinder in eine politische Auseinandersetzung ziehen und deren Sicherheit gefährden. Damit sei „eine rote Linie“ überschritten worden.  

Nehammers emotionale Seite mag sympathisch wirken – für einen Kanzler empfiehlt sich allerdings mehr Distanz, will er sich nicht mittelfristig aufreiben.

Am 6. Dezember des Vorjahres hatte Nehammer das Amt übernommen. Er war keine geborene Nummer 1. Der Kanzlerposten sei noch eine Etage höher als ein Ministeramt, man müsse alles überblicken, sagte er damals.

Ganz angekommen scheint Nehammer noch nicht zu sein. Er geht Probleme zwar stürmisch an, brachte bisher aber kaum Ergebnisse. Nehammer ist ein Regierungschef im dauernden Krisenmodus: Krieg und Pandemie – und die Aufarbeitung der Ära Kurz und der Korruptionsvorwürfe gegen die ÖVP – lassen kaum Zeit für Reflexion. Eine große Rede über das große Ganze und seine politische Philosophie hat er noch nicht gehalten.

Vielleicht liefert er sie am 14. Mai in Graz, wenn er formal zum neuen Bundesparteiobmann der ÖVP gewählt wird. Gemessen wird Nehammer am letzten Ergebnis von Sebastian Kurz. Dieser hatte beim Parteitag in St. Pölten im August 2021 99,4 Prozent erreicht – vier Monate später folgte sein Rücktritt. Traditionsgemäß werden zu einem Parteitag alle früheren Obleute eingeladen. Ob Sebastian Kurz in Graz dabei sein wird, ist noch offen.

 

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.