Israel: Wie Netanjahu die Wahl mit Angstparolen gewonnen hat

Benjamin Netanjahu hat die Wahl in Israel mit Angstparolen gewonnen. Doch der Premier ist mehr als ein zynischer Populist, meint Tessa Szyszkowitz: Er ist das Produkt einer Gesellschaft, die an den extremen Bedingungen ihrer Existenz verrückt wird.

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Benjamin Netanjahu brauchte keine halbe Minute, um Angst und Schrecken zu verbreiten: „Die Araber strömen in Scharen zu den Urnen“, verkündete der rechte Likud-Chef am vergangenen Dienstag, dem Tag der israelischen Wahlen, in einem 28 Sekunden langen Video.

Die unverhohlen rassistische Drohung wirkte. Die Vorstellung, von den Palästinensern in Israel durch ein demokratisches Votum unterminiert zu werden, brachte dem amtierenden Premierminister die nötigen rechten Stimmen für den Wahlsieg. Seine Likud-Partei wurde mit 30 von 120 Sitzen die stärkste Kraft im Parlament. Alles deutet auf eine vierte Amtszeit des erfahrenen Volkstribuns hin.

In Israel betitelten Kolumnisten die Kampagne des Premierministers mit dem alten jiddischen Ausdruck „Gewalt!“, der gemeinhin im Moment des Erschreckens verwendet wird. Denn genau darum ging es bei Netanjahus Versuch, den rechtsradikalen Parteien HaBait HaJehudi („Das jüdische Haus“) und Israel Betainu („Unser Haus Israel“) in letzter Minute Stimmen zu klauen: den Wählern Angst und Schrecken einzujagen.

Israel stolpert weiter in eine düstere Zukunft. Dem moderaten, offeneren und sozialen Bündnis Zionistische Union unter der Führung der Arbeitspartei wurde eine Absage erteilt. In Netanjahus Weltsicht sitzen die Feinde nicht nur in den besetzten Gebieten und in arabischen Dörfern und Stadtteilen in Israel. Sie sitzen auch in Teheran – und sogar in Washington. „Amerikanisches Geld bringt die Araber zu den Urnen!“, lautete eine Botschaft, die kurz vor Beginn der Wahl an Likud-Wähler verschickt wurde. Zwischen dem demokratischen US-Präsidenten Barack Obama und Netanjahu herrscht Eiszeit. Sollte Hillary Clinton die nächste US-Administration anführen, wird sich das Verhältnis nicht erwärmen: Als Außenministerin trat Clinton explizit für eine Zwei-Staaten-Lösung ein, außerdem begann sie die Verhandlungen mit dem Iran. Beide Themen sind für Netanjahu inzwischen rote Tücher.

Bei denen, die gegen uns sind, müssen wir eine Axt nehmen und ihnen den Kopf abhacken. (Avigdor Lieberman, Partei ‘Unser Haus Israel‘)

Die großen Fragen in der Nachwahldiskussion sind: Hat Benjamin Netanjahu sich der Volkswut nur bedient, um die Wahlen zu gewinnen? Glaubt er, was er gesagt hat? Ist er zynisch genug, völlig anders zu regieren?

Die Rhetorik des Premierministers reflektiert das Denken der Mehrheit der Israelis und die Realitäten im Land. Einige der Geburtsfehler Israels haben sich zu lebensbedrohlichen Krankheiten entwickelt – zumindest stellt es sich so dar, wenn man Israel als demokratischen Staat mit einer jüdischen Identität erhalten will.

Die Palästinenser machen heute bereits 20 Prozent der Bevölkerung aus. Gründervater David Ben-Gurion versprach den Arabern in Israels Unabhängigkeitserklärung im Mai 1948 „volle und gleiche Staatsbürgerschaft sowie angemessene Vertretung in allen Institutionen“.

Die Realität sieht anders aus. Die muslimischen und christlichen Palästinenser sind nur eine geduldete Minderheit. „Im vergangenen Sommer während des Gaza-Krieges erreichte die Hetze gegen die arabische Öffentlichkeit einen neuen Höhepunkt. Palästinenser wurden aus ihren Jobs gefeuert, wurden auf der Straße angegriffen, nur weil sie Araber waren“, schreibt die israelische Aktivistin Yael Marom der Grassroots-Gruppe „Just Vision“.

Die vorige Regierung stürzte über das „Nationalitäten“-Gesetz, in dem Israels jüdischer Charakter verstärkt werden sollte. Die zentristischen Parteien Jesh Atid („Es gibt eine Zukunft“) und HaTnuah („Die Bewegung“) verließen Netanjahus Koalition unter anderem aus Protest dagegen, dass Arabisch als Amtssprache abgeschafft werden sollte. Nachdem der Likud-Chef gestärkt aus den Wahlen hervorgegangen ist, will er nun eine Koalition ohne die beiden Zentristen-Parteien zimmern.

Wir sind sehr realistisch. Auch bei dem Gerede über Frieden und einen ‚Palästinensischen Staat in Israel‘. Für uns wäre das Selbstmord. (Naftali Bennett, Partei ‘Das jüdische Haus‘)

Als Partner steht ihm dabei Avigdor Lieberman von „Unser Haus Israel“ zur Verfügung. Lieberman verfolgt den Plan eines Bevölkerungsaustauschs mit territorialer Integrität. Die arabischen Dörfer im israelischen Galiläa sollen bei einer Zwei-Staaten-Lösung Palästina, die israelischen Siedlungsblöcke im Westjordanland Israel zugeschlagen werden: „Alle, die sich mit palästinensischen Ideen identifizieren, werden eingeladen, in ein palästinensisches Land zu ziehen“, erklärte Lieberman in einem Interview.

Gleichzeitig wurde die „Vereinte Liste“ der arabischen Parteien mit zehn Prozent der Stimmen drittstärkste Partei im israelischen Parlament. Die israelischen Araber sind somit ein Faktor, den man kaum mehr ignorieren kann. Dennoch denkt keine der zionistischen Parteien daran, mit ihnen zu koalieren.

Neben den Spannungen zwischen Zionisten und Nicht-Zionisten wächst auch die Problematik zwischen religiösen und nicht-religiösen jüdischen Israelis. Die Geburtsrate der Ultraorthodoxen liegt durchschnittlich bei sechs Kindern. Als Ben-Gurion zustimmte, den hyperreligiösen Haredim als Trägern der jüdischen Tradition spezielle Rechte – etwa die Befreiung vom Armeedienst – zuzugestehen, gab es lediglich 400 solche Familien im Land. Heute zählen die ultraorthodoxen Juden bereits eine Million und damit mehr als 12 Prozent der insgesamt acht Millionen Israelis.

Erst 2014 wurde nach langer Diskussion ein Gesetz verabschiedet, das die verstärkte Verpflichtung junger ultraorthodoxer Männer für die israelische Armee vorsah. Nun will Netanjahu wieder zwei religiöse Parteien in seine neue Koalition einladen: die Schas-Partei der orientalischen Orthodoxen und das ultraorthodoxe Vereinigte-Thora-Judentum – beides Fraktionen, die Interesse daran haben, das Gesetz zu revidieren und ihre jungen Männer aus der Armee in die Talmud-Schulen zurückzuholen. Schas-Abgeordneter Jitzhak Vaknin: „Es ist schließlich eine wichtige Aufgabe für das Volk Israel, die Thora zu studieren.“

Die Herrschaft des Likud ist in Gefahr. Arabische Wähler strömen in Scharen in die Wahllokale. (Benjamin Netanjahu, Likud-Partei)

Eine dritte Gruppe sorgt in Israel für extreme Spannungen: die Siedler. Seit 1967 sind rund 400.000 Israelis in neu gebaute Siedlungen im besetzten Westjordanland gezogen, 300.000 weitere in das von Israel annektierte Ost-Jerusalem. Siedler-Führer Naftali Bennett von „Das jüdische Haus“ hat bei der Wahl zwar Sitze eingebüßt, gilt mit seinen verbleibenden acht Mandaten aber als Fixstarter in der nächsten Koalition. Sein Credo: Ein Palästinenser-Staat käme einem „Selbstmord Israels“ gleich.

Bennets Wähler dürften deshalb zu Netanjahu übergelaufen sein, weil dieser öffentlich die gleiche radikale Position einnahm: „Wenn ich Premierminister bin, wird es keinen unabhängigen Staat für die Palästinenser geben“, versprach Netanjahu in der letzten Phase seiner „Gewalt“-Kampagne.

Die Haltung des Likud-Chefs gegenüber den Palästinensern und dem Friedensprozess war schon zuvor bekannt. Den Oslo-Abkommen, die der linke Regierungschef Jitzhak Rabin Anfang der 1990er-Jahre mit den Palästinensern ausgehandelt hatte, musste Netanjahu zähneknirschend zustimmen. Eine Teilung des Landes war in seinem Weltbild aber nie vorgesehen. Sein Vater Benzion war ein angesehener Historiker des rechten Lagers, in dem die Idee von Großisrael zentrale Bedeutung hatte.

Netanjahu ist nicht einfach ein zynischer Populist, der seine Seele für Stimmen verkauft. Er ist eher das Produkt einer Gesellschaft, die an den extremen Bedingungen ihrer Existenz verrückt wird. Mehr als ein paar Versuche, moderierend auf das entfesselte rechtsradikale Lager einzuwirken, sind von ihm nicht zu erwarten.

Worum bat Netanjahu Gott wohl, als er am Tag nach den Wahlen zur Westmauer in Jerusalems Altstadt beten ging? Um die Kraft, die rassistischen und radikalen Geister, die er gerufen hat, zu bändigen?

Oder um die Kraft, die Suppe, die er seinem Land eingebrockt hat, selbst auszulöffeln?

Tessa   Szyszkowitz

Tessa Szyszkowitz