Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer
Krieg in der Ukraine

Was gegen „Frieden“ spricht

Niemand will Krieg in der Ukraine. Warum also sind die Appelle für Verhandlungen so umstritten? Robert Treichler versucht eine Antwort.

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Europa im Jahr 2023, ein Jahr nach Kriegsbeginn. Die Zahl der getöteten Zivilisten in der Ukraine wird von ukrainischen Behörden mit 16.500 angegeben; rund 100.000 Soldaten der ukrainischen Armee und 200.000 der russischen Armee sind gefallen. Die natürliche Reaktion auf solche Schreckensmeldungen lautet: Das muss ein Ende haben. Sofort.

Mehr als 600.000 Menschen haben bereits das „Manifest für Frieden“, verfasst von der feministischen Publizistin Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht, der Bundestagsabgeordneten der Partei „Die Linke“, unterzeichnet. Der prominente deutsche Philosoph Jürgen Habermas veröffentlichte am 15. Februar in der „Süddeutschen Zeitung“ einen Text mit dem Titel „Ein Plädoyer für Verhandlungen“.

„Wir fordern den Bundeskanzler auf, die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen. Jetzt! Er sollte sich auf deutscher wie europäischer Ebene an die Spitze einer starken Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen setzen. Jetzt!“

Sahra Wagenknecht, Abgeordnete; Alice Schwarzer, Publizistin

Reinhard Merkel, bis 2020 Mitglied im Deutschen Ethikrat und emeritierter Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie, hatte bereits Ende Dezember in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ unter dem Titel „Verhandeln heißt nicht kapitulieren“ argumentiert, die Ukraine sei zur Aufnahme von Verhandlungen über ein Ende des Krieges moralisch verpflichtet.

Alle Genannten wurden für ihre Aufrufe zum Teil scharf kritisiert. Das mutet zunächst einigermaßen befremdlich an. Weshalb sollte man solche Initiativen ablehnen? Was spricht dagegen, alles zu versuchen, den Skandal des Krieges in Europa zu beenden, zum Beispiel mittels Verhandlungen, und nicht bloß darauf zu warten, dass auf dem Schlachtfeld eine Entscheidung fällt?

„Es sind vor allem moralische Gründe, die auf ein Ende des Krieges drängen.“

Jürgen Habermas, Philosoph

Aufforderungen zu Verhandlungen sind keine banale Angelegenheit. Beginnen wir mit dem Appell von Wagenknecht und Schwarzer. Er enthält folgenden, entscheidenden Satz: „Wir fordern den Bundeskanzler auf, die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen. Jetzt!“ Kanzler Olaf Scholz solle sich, so der Appell weiter, „an die Spitze einer starken Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen setzen“.

Es ist kein Wunder, dass die Vorstellung, Scholz und seine Amtskollegen könnten diesem Aufruf folgen, der ukrainischen Regierung kalte Schauer über den Rücken jagt. Wladimir Putin hat vergangenen Herbst eine Teilmobilmachung angeordnet, bei der rund 300.000 Reservisten zur Armee einberufen wurden. In den kommenden Wochen wird eine neue Offensive der russischen Streitkräfte erwartet. In dieser Situation auch nur Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass die NATO-Staaten ihre Waffenlieferungen fortsetzen, würde die Moral der ukrainischen Führung und der Bevölkerung brechen. Dem Vorschlag von Wagenknecht und Schwarzer nachzukommen, wäre grob fahrlässig.

Zudem verdrehen Wagenknecht und Schwarzer mit ihrer Darstellung die Realität des Krieges. Sie stellen suggestiv die Frage, ob der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj „Russland auf ganzer Linie besiegen“ wolle. Das klingt, als ob die Ukraine Russland angreifen würde. Fremde Streitkräfte aus dem eigenen Land zu vertreiben, ist jedoch etwas gänzlich anderes, als ein Land „auf ganzer Linie zu besiegen“.

„Auf die Fortsetzung der Gewalt zu dringen und jede Verhandlung über deren Ende abzulehnen, ist nicht tapfer, sondern verwerflich.“

Reinhard Merkel, Jurist

Was in dem Appell völlig fehlt, ist ein Ansatz, wie man Putin überhaupt an den Verhandlungstisch bringen könnte. Die Forderungen sind allesamt an Scholz, den Westen und die Ukraine gerichtet. Würden sie erfüllt, stünde die Ukraine strategisch geschwächt und mit einer miserablen Verhandlungsposition da. Das kann niemand wollen.

Jürgen Habermas lehnt weitere Waffenlieferungen in seinem Beitrag nicht explizit ab. Er findet, die militärische Hilfe werde „aus guten Gründen“ geleistet, doch der Philosoph warnt davor, sie weiter „schwellenlos anwachsen“ zu lassen und „über die Schwelle zu einem dritten Weltkrieg“ hinauszutreiben. Die Ukraine und auch der Westen seien nach Meinung von Habermas moralisch verpflichtet, die „Verhältnismäßigkeit“ des Kampfes gegen den Aggressor abzuwägen.

Das ist eine beklemmende Darstellung der Dilemmata, in denen sich die westliche Allianz befindet. Bloß: Was folgt daraus? Habermas räumt ein, dass es „kein Anzeichen“ dafür gebe, dass Putin sich auf Verhandlungen einlassen würde.

Vom Westen verlangt Habermas eine klare Entscheidung, welches Kriegsziel er verfolgt: dass die Ukraine „nicht verlieren“ dürfe – wie Kanzler Scholz dies formuliert; oder dass sie einen „Sieg“ erringen werde – wie die ukrainische Führung es verlangt. Habermas definiert den Unterschied anhand der – völkerrechtlich nicht anerkannten – De-facto-Grenzen vor der russischen Invasion. Damals hielt Russland bereits die ukrainische Halbinsel Krim und Gebiete im Donbas besetzt, die es 2014 mithilfe paramilitärischer Truppen und ohne Hoheitsabzeichen agierender russischer Soldaten eingenommen hatte.

Warum aber sollte der Westen öffentlich kundtun, ob die Ukraine ihr gesamtes Territorium einschließlich der Krim befreien wolle oder lediglich die Gebiete, die seit dem 24. Februar 2022 von den Russen erobert wurden? Dagegen spricht, dass die Ukraine mit einer Absichtserklärung, die sich auf Letzteres beschränkt, bereits auf einen Teil ihres Staatsgebietes verzichten würde. Und das, während Putin vermuten lässt, dass er die gesamte Ukraine unterwerfen und zu einem Vasallenstaat machen möchte.

Auch der Jurist und Ethiker Reinhard Merkel sieht eine moralische Grenze des Rechts der Ukraine auf Selbstverteidigung: erstens angesichts des Risikos eines Nuklearkrieges und zweitens im Falle eines „unerträglichen Missverhältnisses zwischen den Zielen der Selbstverteidigung und deren Kosten an menschlichem Leben und Leid“. Daraus leitet Merkel eine Pflicht der ukrainischen Regierung ab, Verhandlungen zu akzeptieren und Zugeständnisse zu erwägen, auch wenn die Schuld für den Krieg beim russischen Aggressor liege. Jegliche Verhandlung abzulehnen, sei „verwerflich“, argumentiert der Ethiker.

All das klingt, als wehrte sich die Ukraine mit Händen und Füßen gegen Verhandlungsangebote. Tatsächlich gibt es keines. Die Frage, wie weit ein angegriffener Staat dafür mitverantwortlich ist, dass ein Krieg beendet wird, ist komplex und sinnvoll. Aber auch unbestrittene Geistesgrößen müssen anerkennen, dass ihre Gedankenwelt der Realität auf dem Schlachtfeld nachgereiht ist. Putins Offensivgelüste sind noch nicht befriedigt, und das lässt alle Fragen nach Verhandlungen, Zugeständnissen und Kompromissen, soweit sie die Ukraine betreffen, unzeitgemäß erscheinen. Oder auch: zynisch. Vorrückende russische Streitkräfte, eine Teilmobilmachung mit der Option auf Erweiterung, Putins Rede zur Lage der Nation, in der er erneut „Nazis“ an der ukrainischen Staatsspitze wähnte – all das steht der Beantwortung der Habermas’schen Frage nach einer Kompromisslösung im Weg, „die der russischen Seite keinen über die Zeit vor dem Kriegsbeginn hinausreichenden territorialen Gewinn beschert und doch ihr Gesicht zu wahren erlaubt“.

Nicht, dass die Frage falsch wäre, sie wird irgendwann vielleicht die ganze Welt beschäftigen. Aber erst muss Putin klar gemacht werden, dass die Fortsetzung seines Angriffskrieges vergeblich ist, und das kann nur dadurch erreicht werden, dass die Ukraine militärisch gestärkt wird. Das klingt nicht nach Frieden. Und doch ist es derzeit wahrscheinlich der beste Weg dorthin.

Robert Treichler ist Leiter des Ressorts Ausland des profil. Er berichtet als Reporter seit 1998 über Konflikte und über geglückte wie misslungene Versuche, sie zu lösen.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur