Buchbesprechung

„Man kann die Welt nicht ohne China denken!"

Die Sinologin Susanne Weigelin-Schwiedrzik hat ein Buch über die Rolle Chinas in der Welt geschrieben. Europa, meint sie, komme eine Schlüsselrolle bei der Vermittlung zwischen der Volksrepublik und den USA zu.

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Europa müsse sich klarwerden, dass es mit seiner Haltung zu China über Krieg und Frieden in der Welt entscheide. Das sagte der Ex-Außenminister von Singapur, George Yeo, im Mai dieses Jahres. Die Sinologin Susanne Weigelin-Schwiedrzik hat die Aussage des ehemaligen Politikers zur Schlüsselbotschaft ihres neuen Buchs gemacht. „China und die Neuordnung der Welt“, soeben erschienen im Brandstätter Verlag, befasst sich mit der Rolle Europas im Spannungsfeld zwischen China, Russland und den USA.

Seit dem Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine wird viel über die neue Weltordnung diskutiert, der Einmarsch der russischen Truppen markiert eine Zeitenwende. Doch wohin führt sie uns – und welche Rolle kommt dabei Europa zu?

Susanne Weigelin-Schwiedrzik,

1955 geboren in Bonn, befasst sich seit Jahrzehnten mit China. Sie studierte Sinologie, Politikwissenschaft und Japanologie in Bonn, Peking und Bochum. Von 1989 bis 2002 war sie Universitätsprofessorin für Moderne Sinologie in Heidelberg, von 2002 bis 2020 unterrichtete sie an der Uni Wien. Aktuell ist sie Programmdirektorin für China im Thinktank „Zentrum für
strategische Analysen“.

„Die Vereinigten Staaten sind der wichtigste Verbündete Deutschlands und Europas“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz kurz vor Kriegsbeginn im Februar 2022. Seither ist die Bindung noch enger geworden. Auch im Konflikt zwischen den USA und China steht Europa eindeutig aufseiten der USA. In ihrem Buch macht Weigelin-Schwiedrzik einen Gegenvorschlag: Die EU soll sich – bis zu einem gewissen Grad – vom Drehbuch Washingtons lösen.

Die Europäische Union, so die Analyse der Sinologin, ist im geopolitischen Machtspiel zwischen China, Russland und den USA der Player, der am Ende entscheidend sein könnte.

Nun steht China als Weltmacht vor uns und Europa muss zwei Lernschritte auf einmal bewältigen: die Welt realistisch in den Blick zu nehmen und China dabei mitzudenken.

„Betrachtet man den Konflikt zwischen China und den USA als Hegemonialkonflikt, kann weder der eine noch der andere seine Ziele ohne Europa erreichen“, sagt Weigelin-Schwiedrzik im Gespräch mit profil. Gelinge es der EU, weder einseitig die Interessen Chinas noch der USA zu vertreten, könne der Konflikt am Verhandlungstisch gelöst und ein Krieg vermieden werden.

Europa, so die China-Expertin, sollte die Vermittlerrolle übernehmen – und sich als einer von mehreren Polen der neuen Weltordnung anbieten.

Das Dilemma der EU

In den vergangenen Jahrzehnten hat Europa von seinen Beziehungen zu China profitiert; bis heute sind die Handelsbeziehungen eng.

Das stelle die EU vor ein Dilemma: „Schlagen sich die EU-Mitgliedstaaten auf die Seite der USA, verlieren sie ihren Vorteil, der sich aus der Zusammenarbeit mit Russland und China ergibt; schlagen sie sich auf die andere Seite, verlieren sie den Schutz der USA und haben einer möglichen russisch-chinesischen Dominanz wenig entgegenzusetzen.“

Eine Lösung des Dilemmas steht aus, doch zuletzt gab es vermehrt Anzeichen dafür, dass Europa einen eigenen Umgang mit Peking findet: Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz besuchte Chinas Staatschef Xi Jinping Ende 2022, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron reiste im April 2023 nach Peking.

Während Scholz’ Besuch als Signal gesehen werden kann, dass Deutschland die wirtschaftliche Abschottung der USA von China nicht mitmachen möchte, ging Macron deutlich weiter, schreibt Weigelin-Schwiedrzik. Frankreichs Präsident unterzeichnete ein Abkommen, das es der chinesischen Marine erlaubt, jederzeit in die Häfen der französischen Pazifikinseln einzulaufen. Macron geht es also um deutlich mehr als um die wirtschaftlichen Interessen seines Landes: „Frankreich könnte in der Region eine dritte Position einnehmen: weder einseitig proamerikanisch, noch prochinesisch.“

Vorbereitungen auf den Krieg

Experten und Politiker, darunter Xi Jinping, sehen den Aufstieg Chinas zur Weltmacht in drei Etappen. Unter Mao Zedong sei China „aufgestanden“ und habe sich von den Fesseln des Kolonialismus befreit. Unter der Führung Deng Xiaopings und mit Einbeziehung marktwirtschaftlicher Methoden sei es danach darum gegangen, ein reiches Land zu werden. Und nun, da dies erreicht ist, soll China unter Xi Jinping zu alter Größe zurückfinden. „Nun steht China als Weltmacht vor uns“, schreibt Weigelin-Schwiedrzik, „und Europa muss zwei Lernschritte auf einmal bewältigen: die Welt realistisch in den Blick zu nehmen und China dabei mitzudenken“, denn: "Man kann die Welt nicht ohne China denken!".

Dafür müsse Europa seine eigenen Interessen ins Zentrum und jene Amerikas in den Hintergrund rücken.

Auch China bereitet sich auf einen Krieg vor.

Dort mehren sich die Stimmen, die vor einem Krieg gegen China warnen. Es sei nur eine Frage der Zeit, meinen führende US-Militärs. Außenminister Antony Blinken hält einen Angriff Chinas auf Taiwan gar schon 2027 für möglich. Weil die USA als Schutzmacht Taiwans dann auf die eine oder andere Weise eingreifen müssten, droht bei einem Konflikt um Taiwan nichts Geringeres als der Dritte Weltkrieg.

„Auch China bereitet sich auf einen Krieg vor“, sagt Weigelin-Schwiedrzik, dabei würden sowohl Peking als auch Washington ihre politischen Ziele lieber friedlich durchsetzen.

Wertvolle Tiefseehäfen

Das strategische Interesse Pekings an Taiwan macht die Expertin in erster Linie an den Tiefseehäfen an der Südküste des Landes fest. Die USA wollen einen Zugriff Chinas darauf jedenfalls verhindern: „Sie sind die dominierende Kraft im Pazifik. Sollte in einem Krieg um Taiwan China siegen, kann Amerika nicht mehr als einziger Hegemon die Welt beherrschen.“

Um die Wahrscheinlichkeit eines Weltkrieges einzudämmen, müsse alles getan werden, um einen – möglicherweise sogar ungewollten – Zusammenstoß der Gegner in der Region zu vermeiden. Als erster Schritt, so Weigelin-Schwiedrzik, müsse das Gebiet entmilitarisiert werden. Danach gehe es darum, am Verhandlungstisch akzeptable Lösungen für China, Taiwan und die USA zu finden. Taiwan könnte die Bewahrung des Status quo und möglicherweise der Beitritt zu den Vereinten Nationen angeboten werden; China könnte man mit der Garantie entgegenkommen, die für den Handel mit Europa und Afrika zentrale Straße von Malakka unter keinen Umständen zu schließen – und mit dem militärischen Rückzug der USA aus dem Gebiet.

Es gilt, China nicht einfach aus unseren Überlegungen auszuklammern, nur weil es angeblich so fremd und anders ist. Wir müssen die Welt mit China denken!

Und was bekämen die USA? „Das ist der schwierigste Punkt“, räumt Weigelin-Schwiedrzik ein. Denkbar wäre etwa eine Denuklearisierung Nordkoreas – und eine Strategie, die garantiert, dass auch die Nuklearwaffen Chinas die USA nicht mehr bedrohen.

Von der EU fordert Weigelin-Schwiedrzik nicht weniger, als in diesen schwierigen Verhandlungen zu vermitteln. Gelingt es, die Wogen zwischen China und den USA zu glätten, könnte es künftig tatsächlich mehrere Pole geben, die die Welt bestimmen. Europa wäre einer davon.

Weigelin-Schwiedrzik hätte ihre Betrachtungen und historischen Exkurse ohne Weiteres auf 1000 Seiten ausdehnen können. Dass sie es schafft, ihre Analysen in kompakte 210 Seiten zu packen, macht das Buch umso lesenswerter.

China und die Neuordnung der Welt

Susanne Weigelin-Schwiedrzik, Brandstätter Verlag.  216 Seiten, EUR 22,–. Buchpräsentation am 13. September, 19 Uhr, im Thalia Mariahilfer Straße.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.