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Michael Thumann: "Der neue Nationalismus führt zum Krieg"

Der deutsche Journalist Michael Thumann hat ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit geschrieben: "Revanche - Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat".

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Man muss sich Michael Thumann als Reporter auf dem Rad vorstellen. Viele jener Beobachtungen, von denen der Russland-Korrespondent der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" in "Revanche" berichtet, sind Resultat seiner Moskauer Fahrradtouren. Zur Bike-Begeisterung gesellt sich bei Thumann, 60, immer die Wachheit des Augenblicks: "Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat" ist "Revanche" untertitelt.

"Der neue Nationalismus führt zum Krieg. Es gibt keine verträgliche Dosis von autoritärem Nationalismus."

Michael Thumann in "Revanche"

Den Kern von "Revanche" bilden Thumanns Überlegungen zu Putins "neuem Nationalismus", jener alten Ideologie in neuem Gewand, die Europa im 20. Jahrhundert zweimal zerstört hat und die für den Tod von über 100 Millionen Menschen verantwortlich ist. Putin, so Thumanns stichhaltige These, reifte in seiner nunmehr 24-jährigen Amtszeit als Ministerpräsident und Langzeitpräsident vom KGB-Simpel zum rigiden Verfechter patriotischer Ideologie. Bereits 2012 bezeichnete sich Putin als "den größten Nationalisten in Russland"-inzwischen komplettiert vom Macho-Männerkartell Recep Tayyip Erdoğan, Viktor Orbán und Donald Trump. "Putin beweist", schreibt Thumann: "Der neue Nationalismus führt zum Krieg, und die staatliche Stabilisierung auf Biegen und Brechen mündet in die Diktatur. Es gibt keine verträgliche Dosis von autoritärem Nationalismus."

Wladimir Putin, der den Zerfall der Sowjetunion 1991 als "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" betrachtet, nimmt Rache: "Sein Krieg ist auch ein Versuch, die Zeit zurückzudrehen."

"Revanche" ist ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit. Das ausgedehnte Moskauer Wegenetz, das sich Thumann in den Jahren zwischen 1996 und 2001 sowie zwischen 2014 und 2015 und neuerlich ab 2021 als außenpolitischer "Zeit"-Korrespondent mit Sitz in Russlands Hauptstadt erradelt hat, spiegelt sich in anderem Aggregatzustand in "Revanche" als dichtes Gedankengeflecht und großflächige Sammlung von Fakten und Daten wider: Thumann weitet den Blick auf den vom russischen Präsidenten Wladimir Putin angeordneten Angriffskrieg gegen die Ukraine, indem er historisches Erklärstück, Gegenwartsdiagnose, Reportage und Beschreibungspräzision souverän mischt-vom System der Straflager über das Kriegsgeheul russischer TV-Propaganda bis zur Rechtsprechung, die diesen Namen nicht verdient. Das vage Putin-Psychogramm ist Thumanns Sache nicht.

"Revanche" ist ein Therapeutikum gegen all jene infamen Verwässerungstendenzen in Ost und West, die Putins Brutalität der Kriegsführung zu relativieren versuchen: "Weil die Ukraine von Nazis beherrscht sei. Weil der Westen den Nazis Waffen liefere. Wie die Ukraine einen Genozid verübt habe und viele Kinder gestorben seien. Wie die Ukraine wieder Atombomben bauen wolle. Weil die Amerikaner aus der Ukraine ein 'antirussisches Projekt' gemacht hätten." Eine weitere wichtige Argumentationshilfe der russischen Macht sei dazu da, den zentralen Entscheider Putin zu entlasten, den der ehemalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder 2004 einen "lupenreinen Demokraten" nannte: "Krieg sei keine Entscheidung, sondern ein Schicksal, eine Fügung, eine Heimsuchung, der man nicht entrinnen könne." Warlord Putin: Seit seinem Amtsantritt als Ministerpräsident 1999 führte der 1952 in Sankt Petersburg geborene Politiker Kriege in Tschetschenien, Georgien und Syrien, mit Söldnern in Libyen und Westafrika. Seit einem Jahr überzieht er die Ukraine mit Tod und Verderben.

Um ein letztes Mal auf das rollende Vehikel zurückzukommen. Thumann wohnt in der Nähe des Moskauer Gorki-Parks, direkt am Fluss Moskwa, wo im Spätsommer 2022 buntes Treiben herrschte, während es auf die Ukraine Bomben regnete. Viele von Thumanns Radausflügen beginnen entlang der Moskwa. Nach einem solchen lief er seiner Nachbarin in die Hände. "Der Biden muss aufpassen, dass er keine Atomrakete abkriegt", empfing ihn die gute Frau. "Dann würde Moskau wohl auch eine abkriegen", sagte ich und biss mir sofort auf die Zunge." Kurze Pause: "Na, dann ist das Schicksal. Putin sagt immer, wenn es Russland nicht mehr geben wird, dann gibt es auch die Welt nicht mehr. Hat er nicht recht?"

Michael Thumann: Revanche-Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat

C. H. Beck. 287 S.

EUR 25,70

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.