„Rasche Entwaffnung“: Gelingt der Frieden mit der PKK?

Von Raphael Bossniak
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Grimmig blicken die Kämpfer der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in die Kamera. Es ist Anfang Mai, und im irakisch-kurdischen Kandil-Gebirge haben sich rund 200 Führungskader der kurdischen Untergrundbewegung versammelt. In den Höhlensystemen Kandils verschanzt sich die Miliz seit Jahrzehnten. Türkische Militärbasen umzingeln das PKK-Rückzugsgebiet. Die Organisation, die in der EU auf der Terrorliste steht, ist geschwächt. Am Kongress zieht man die Konsequenzen: Die PKK möchte sich auflösen. „Das ist kein Ende, sondern ein Neuanfang“, beruhigt Murat Karayılan, einflussreicher Kommandant. Doch die Organisation blickt in eine ungewisse Zukunft. Denn es ist unklar, ob die Türkei zu Zugeständnissen bereit ist.
Für Freitag (nach profil-Redaktionsschluss) planten PKK-Kämpfer, aus den Kandil-Bergen hinabzusteigen und nahe der Großstadt Sulaimaniyya unter dem Schutz der dortigen kurdischen Autonomieregierung ihre Waffen niederzulegen. Die Zeremonie findet im Geheimen statt: Journalisten wurden spontan ausgeladen, lediglich einige ausländische Beobachter sollen anwesend sein. Von einer „Goodwill-Geste“ an die Türkei spricht die PKK gegenüber dem kurdischen Fernsehsender Rûdaw.
Ein Gefangener als Chefverhandler
Obwohl der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan bereits im Februar von einer „terrorfreien Türkei“ sprach, gab es von türkischer Seite noch kein Angebot an die PKK. „Erdoğan wartet schlicht ab, wie weit die PKK mit ihrem Friedensangebot gehen wird“, sagt Nahostexperte Walter Posch von der Landesverteidigungsakademie des Österreichischen Bundesheeres. „Er möchte seinen Ruf als Erlöser, der über der Parteipolitik steht, nicht verlieren.“
Der Chefverhandler für die türkische Seite, Devlet Bahçeli, ist ein Vertrauter Erdoğans. Der Vorsitzende der ultranationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) hetzte in der Vergangenheit am aggressivsten gegen die 15 bis 20 Millionen in der Türkei lebenden Kurden. „Dass mit Bahçeli der Kopf der sonst unnachgiebigen Nationalisten bereit für Verhandlungen ist, hat Symbolkraft“, sagt Türkei-Expertin Aliza Marcus, die ein Buch über die PKK geschrieben hat. Bahçeli verhandelt nun mit jemandem, dessen Hinrichtung er wiederholt gefordert hatte: PKK-Gründer Abdullah Öcalan.

© AFP/APA/AFP/MEZOPOTAMYA NEWS AGENCY
PKK-Gründer Öcalan
Abdullah Öcalan, umringt von anderen PKK-Gefangenen, adressiert seine Anhänger.
PKK-Gründer Öcalan
Abdullah Öcalan, umringt von anderen PKK-Gefangenen, adressiert seine Anhänger.
Öcalan bleibt der Kopf hinter den Verhandlungen. Von seinen Unterstützern nahezu fanatisch als „Serok“ (Vorsitzender) und „Rêber“ (Führer) verehrt, hält er alle Zügel in der Hand. „Öcalan ist PKK-intern der unangefochtene Anführer und zugleich oberster Richter und Chefideologe“, erklärt Posch. Auf Demos hissen Sympathisanten traditionell gelbe Fahnen, zu erkennen an dem Konterfei Öcalans mit seinen buschigen Augenbrauen und großem Oberlippenbart.
Einen Bruch mit dem mittlerweile 76-Jährigen kann sich die Arbeiterpartei nicht leisten. Zu sehr hat die PKK ihre eigene Identität an Öcalan geheftet. Gerade deswegen kann Öcalan die Verhandlungen auch auf Kosten der PKK vorantreiben. Am Mittwoch forderte er eine „rasche“ Entwaffnung der Organisation. „Das ist keine Niederlage, sondern ein historischer Erfolg“, beteuerte er in einem am Mittwoch von der Türkei veröffentlichten Video. Doch die Arbeiterpartei ringt insgeheim nach Luft, erzählt PKK-Expertin Marcus: „Die PKK versucht, sich selbst zu schützen. Ohne Garantien möchte sie nicht beginnen, ihre Kämpfer zu entwaffnen.“ Die führenden PKK-Kader gelten als skeptisch.
Das ist keine Niederlage, sondern ein historischer Erfolg
Abdullah Öcalan
PKK-Gründer
Doch Öcalan agiert nicht uneigennützig: Immer wieder stellte die Türkei eine Begnadigung in den Raum. Denn Öcalan sitzt seit über 25 Jahren auf der Gefängnisinsel İmralı ein, eine Art türkisches Alcatraz – lange Zeit als einziger Gefangener und viele Jahre in Isolationshaft. Sein Bart ist längst weiß geworden, wie man im jüngsten Videoschnipsel sieht, in dem Öcalan seine Anhänger das erste Mal seit mehr als 20 Jahren direkt anspricht.
„Der Staat hat Öcalan zur Strecke gebracht“, verkündete 1999 der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit stolz. In Kenia war eine Falle des türkischen Geheimdiensts zugeschnappt. Öcalan war verhaftet worden. Teils gewaltsame Großproteste erschütterten in Folge Europa. Auch Österreich war betroffen: PKK-Sympathisanten stürmten die Botschaften Kenias und Griechenlands, wo Öcalan vergeblich um Asyl angesucht hatte, und hinderten Botschaftsmitarbeiter daran, das Haus zu verlassen. Unter „Ich bin PKK“-Rufen stapelten Kurden damals vor der kenianischen Botschaft in Wien-Landstraße Autoreifen. Es roch nach Heizöl. Die Botschaftsbesetzer drohten, sich selbst und das Gebäude in Brand zu setzen.
40 Jahre Krieg
Maschinengewehr- und Raketenfeuer lassen türkische Soldaten in der Kleinstadt Eruh in der Südosttürkei in der Nacht im August 1984 hochschrecken. PKK-Kämpfer überrennen eine Armeebaracke und besetzen die Stadt für einige Stunden. Über einen Lautsprecher einer nahen Moschee verkünden sie die Gründung ihres bewaffneten Arms. Es ist die Kriegserklärung der PKK an den türkischen Staat. Der darauffolgende, mehr als 40 Jahre dauernde Krieg kostet über 40.000 Menschen das Leben.

© AFP/APA/AFP/MUSTAFA OZER
PKK-Kämpfer im irakischen Sindschar
Die rund 5000 PKK-Rebellen gelten als hochideologisch: Sie folgen Öcalan aufs Wort.
PKK-Kämpfer im irakischen Sindschar
Die rund 5000 Fußsoldaten der sozialistisch ausgerichteten PKK gelten als hochideologisch: Sie folgen Öcalan aufs Wort.
In den 1990er-Jahren kontrollierte die PKK ganze Landstriche in den kurdischen Gebieten der Türkei. „Die PKK verfügte damals über ein riesiges Unterstützungsnetzwerk“, erzählt PKK-Expertin Marcus. Ziel ist ein kurdischer Staat. Doch die Türkei, die zweitgrößte NATO-Armee, drängt die PKK aus dem Land. Die PKK, die heute kurdische Autonomierechte fordert, findet Unterschlupf im Nordirak. Sie gilt als geschwächt, aber nicht besiegt. Denn noch immer strömen Freiwillige ins Kandil-Gebirge.
„Jede kurdische Familie hat eine lange Geschichte, jeder hat einen Onkel oder eine Tante, die im Gefängnis gefoltert oder deren Dorf niedergebrannt wurde“, erzählt die niederländische Journalistin Fréderike Geerdink, die ein Jahr in PKK-Camps verbracht hat. „Viele junge Kämpfer sind frustriert, wenn sie nicht sofort in den Kampf, sondern in die Ausbildung geschickt werden.“
Doch warum scheint gerade jetzt Frieden möglich? „Es gibt eine höhere Chance auf Frieden, wenn keine der beiden Seiten die Möglichkeit zum einfachen Sieg sieht“, erklärt die Extremismus-Expertin Alexandra Phelan. Sie hat über Jahre den Friedensprozess mit den Revolutionären Streitkräften (FARC) in Kolumbien begleitet: Die linksradikalen Guerillas gaben bis 2017 ihre Waffen ab. Ähnlich wie die PKK seien die FARC in dem jahrzehntelangen Konflikt ausgeblutet, sagt sie.
Denn während die Kandil-Berge nach wie vor eine Todeszone für türkische Infanteristen sind, setzten besonders Drohnenschläge der PKK hart zu. 1700 Menschen starben seit 2015 in Irakisch-Kurdistan, so eine Auflistung der Nichtregierungsorganisation International Crisis Group. 1400 der Todesopfer, also ungefähr 80 Prozent, sollen PKK-Kämpfer sein. Herbe Verluste für die illegale Arbeiterpartei, die laut Schätzungen über rund 5000 Guerillas verfügt.
Der Ball liegt bei Erdoğan
Kann der Frieden gelingen? „Wir müssen uns hüten, in eine ‚Du zuerst, ich zuerst‘-Logik zu verfallen“, warnte Öcalan am Mittwoch. Der PKK-Gründer hatte schon 2013 versucht, Frieden zu schließen. Doch das Warten auf gegenseitige Zugeständnisse ließ den Prozess erstarren. „Öcalan scheint daraus gelernt zu haben“, glaubt Marcus.
Mit jedem Schritt der PKK wächst der Druck auf die Türkei, die Friedensgespräche offiziell zu verankern. Öcalan pocht auf eine parlamentarische Kommission in Ankara. Die PKK will er in Rekordzeit, in zwei bis fünf Monaten, komplett entwaffnet sehen. „Das Parlament wird in naher Zukunft eine 30- bis 40-köpfige Kommission einsetzen“, prophezeite erst kürzlich Abdurrahim Fırat, ein Verbündeter Erdoğans. „Weil er die Verhandlungen führt, weiß Öcalan mehr als die PKK selbst. Er glaubt, dass die Türkei handeln wird“, sagt Expertin Marcus.
Weil er die Verhandlungen führt, weiß Öcalan mehr als die PKK selbst. Er glaubt, dass die Türkei handeln wird.
Aliza Marcus
PKK-Expertin
Was einer Kommission folgen soll: Amnestie für PKK-Kämpfer und Zugeständnisse der Türkei bei Sprach- und Kulturrechten für die Kurden. Denkbar, aber weniger wahrscheinlich ist eine Umwandlung der PKK-Strukturen in eine legale Partei, ähnlich wie bei der FARC in Kolumbien. „Der Partei der ehemaligen FARC wurden zehn Sitze im Kongress über zwei Amtsperioden garantiert, doch die ursprünglich versprochenen strukturellen Reformen ließen auf sich warten“ sagt Extremismus-Forscherin Phelan. Einzelne FARC-Kämpfer griffen erneut zu den Waffen. „Ein Friedensprozess ist ein Langzeitprojekt“, warnt sie.
Während Öcalan Druck macht, bleiben PKK und Erdoğan skeptisch. Der Friedensprozess hat gerade erst begonnen.

Raphael Bossniak
seit Juli 2025 im Außenpolitik-Ressort. Davor freier Journalist für APA, Kurier und die deutsche Nahostfachzeitschrift zenith. Interessiert an Nahost, Kaukasus und Osteuropa.