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profil-Crime: Zum Schweigen gebracht

Eine Serie von Morden an tschetschenischen Regimekritikern hat bereits mehr als ein Dutzend Menschenleben in ganz Europa gefordert - zwei davon in Österreich. Die Spuren führen nicht nur zu Präsident Ramsan Kadyrow nach Grosny, sondern auch in den Kreml.

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Diese Geschichte von Siobhán Geets und Martin Staudinger ist am 12.07.2020 erschienen.

Irgendwie hatte Musa Lomajew die Todesnachricht bereits erwartet. Als sie dann kam, traf sie ihn dennoch völlig unvorbereitet. Samstag, 4. Juli, gegen acht Uhr abends: Lomajew sitzt in seiner Wohnung in Finnland und wartet auf den Anruf eines Freundes aus Österreich - Mamichan Umarow, genannt "Anzor". Beide Männer stammen aus Tschetschenien; beide sind Exilanten und Gegner des Regimes in ihrem Heimatland; beide arbeiten sich als Blogger an Ramsan Kadyrow, dem unumschränkten Machthaber der autonomen Republik in der russischen Föderation, ab.

An diesem Samstag planen die zwei Männer etwas Besonderes. Bislang hat Anzor seine Brandreden gegen Kadyrow nur auf Tschetschenisch verbreitet. Jetzt soll ihm ein gemeinsames Video mit Lomajew in russischer Sprache zu breiterer Aufmerksamkeit verhelfen.

Es ist knapp vor 20 Uhr, als das Telefon von Lomajew läutet. Der Anrufer ist aber nicht Anzor, sondern ein gemeinsamer Freund aus Wien. Anzor sei tot, durch mehrere Schüsse auf dem Parkplatz eines Betriebsgeländes in Gerasdorf exekutiert worden, berichtet der Mann direkt vom Tatort. Wenig später werden der mutmaßliche Täter und ein weiterer Verdächtiger festgenommen -beides ebenfalls Angehörige der tschetschenischen Diaspora (siehe Seite 36), die vorerst beharrlich schweigen.

Seither fürchtet Lomajew, dass er der Nächste sein könnte, den eine Kugel trifft. "Vor ein paar Wochen habe ich einen Brief aus dem Umfeld von Kadyrow bekommen. Darin stand, dass das erste Ziel Anzor sei - und das zweite ich", sagt er gegenüber profil.

Was Lomajew erzählt, ist nicht das einzige Indiz dafür, dass die Hintergründe der Bluttat über Gerasdorf und die tschetschenische Community in Österreich hinausreichen. Anzor ist nur einer von vielen regimekritischen Exil-Tschetschenen, die in den vergangenen Jahren in Europa ermordet wurden. Mindestens 15 waren es seit Kadyrows Machtübernahme 2007. Wie viele andere durch Einschüchterung zum Schweigen gebracht wurden, lässt sich nicht beziffern.

Allein im vergangenen Jahr wurden in Europa drei einschlägige Morde bekannt; ein vierter Mann überlebte. Es traf Opfer in Wien und Berlin, im französischen Lille und in einer schwedischen Kleinstadt, und allen ist eines gemeinsam: Sie haben sich Kadyrow, der in Tschetschenien mit Unterstützung der Moskauer Zentralregierung ein Schreckensregime führt, zum Feind gemacht - und/oder den Kreml.

Häufig sind es Blogger mit vielen Tausend Followern, die Kadyrow ein Dorn im Auge sind. So dürfte es etwa bei einem Fall in Frankreich Anfang des Jahres gewesen sein. In einem Hotel in Lille machten Mitarbeiter am 30. Jänner einen grausigen Fund: In einem Zimmer lag ein Mann, dem mehr als 130 Mal in den Hals gestochen worden war. Es handelte sich um einen 44-jährigen Tschetschenen namens Imran Alijew. In seinem Blog hatte er sich immer wieder kritisch über das Regime in seinem Herkunftsland geäußert. Französische Ermittler bescheinigten der Tötung "alle Anzeichen eines politischen Motivs".

Der Fall schlug Wellen: Anfang Februar äußerte sich ein weiterer tschetschenischer Blogger zum Fall Alijew: Tumso Abdurachmanow, der Kadyrow schon seit Jahren aus seinem schwedischen Exil kritisiert. Diesmal schien er einen besonderen Nerv getroffen zu haben. Nachdem Magomed Daudow, Präsident des tschetschenischen Parlaments, blutige Rache geschworen hatte, drang ein Mann in die Wohnung des Bloggers ein und attackierte den Schlafenden mit einem Hammer.

Abdurachmanow schaffte es, den Angreifer zu entwaffnen und zu einem Geständnis zu zwingen, das er mit seinem Handy aufzeichnete und ins Internet stellte. "Wer hat dich geschickt? Woher kommst du?", fragt Abdurachmanow in dem verwackelten, unmittelbar nach dem Überfall aufgezeichneten Video den am Boden liegenden Angreifer. "Aus Moskau", antwortet der Mann: "Sie haben meine Mutter."

Die Spuren enden also nicht im Präsidentenpalast der tschetschenischen Hauptstadt Grosny. Denn Kadyrow wäre nichts ohne Wladimir Putin, der ihn 2007 offiziell als Präsidenten der autonomen Teilrepublik ins Amt hob.

"Es gibt zwei Kategorien von Anschlägen auf Tschetschenen", analysiert Christo Grozev, führender Russland-Rechercheur der Investigativplattform Bellingcat: "Entweder steckt Kadyrow dahinter - dann besteht das Motiv im Regelfall darin, dass er sich beleidigt oder verraten fühlt; oder der russische Geheimdienst -dann geht es darum, dass die Opfer im Tschetschenienkrieg oder später gegen Russland gekämpft haben und daher vom Kreml als Terroristen betrachtet werden."

So wie Zelmkhan Kangoshvili, der im Sommer 2019 im Kleinen Tiergarten in Berlin getötet wurde. Kangoshvili, ein Tschetschene aus Georgien, hatte im Tschetschenienkrieg und in jüngerer Vergangenheit auch in der Ukraine gegen russische Truppen gekämpft. Als mutmaßlichen Täter nahm die deutsche Polizei einen Russen namens Vadim Krasikov fest, der nicht nur einen hochprofessionell gefälschten russischen Reisepass mit sich trug, sondern dem auch enge Verbindungen zu den Kreml-Geheimdiensten nachgewiesen wurden. Die Ermittler gehen davon aus, dass seine Auftraggeber dort zu finden sind. Mitte Juni erhob die Bundesanwaltschaft Anklage gegen Krasikov.

Sowohl Kadyrow als auch die Regierung in Moskau weisen jede Verwicklung in all diese Fälle zurück. Was Gerasdorf betrifft, so verbreitet der tschetschenische Machthaber abenteuerliche Theorien, die darauf hinauslaufen, dass in Wahrheit westliche Geheimdienste hinter der Exekution von Anzor steckten. Der Kreml wiederum erklärt den Ermordeten Anzor - der als anerkannter Konventionsflüchtling (und mit einigen Vorstrafen) in Wien lebte -umstandslos zum Österreicher, um Verwirrung zu stiften: Es sei doch nicht anzunehmen, dass Kadyrow ausländische Staatsbürger ins Visier nehme, so Kreml-Sprecher Dmitri Peskow: "Das hat nichts mit Logik zu tun. Wenn er Kadyrow kritisiert hat und wenn es ein tschetschenischer Bürger wäre, dann müsste es Kadyrow sein", wird Peskow von der APA zitiert, ließ damit aber immerhin durchblicken, dass die Tötung von Tschetschenen durch das Kadyrow-Regime denkbar sei. Aber wenn es so ist: Kann sich die Regierung in Moskau dann so einfach aus der Verantwortung für Verbrechen stehlen, die der Machthaber von Grosny möglicherweise begeht?"

Das wäre, als gäbe es gegen einen österreichischen Landeshauptmann den Vorwurf, Auftragsmorde angeordnet zu haben - und die Regierung in Wien würde das einfach hinnehmen. Russland ist eine föderale Republik wie Österreich", sagt der Menschen-und Grundrechtsexperte Manfred Nowak über das Verhalten der Regierung in Moskau: "Dass Kadyrow Menschenrechtsverletzungen in großem Ausmaß begehen kann, ist nur möglich, weil der Kreml voll hinter ihm steht."

Ähnlich sieht das auch der Völkerrechtsexperte Ralph Janik: "Ein Staat ist als Völkerrechtssubjekt für seine Gesamtheit verantwortlich. Er hat also auch gegenüber autonomen Republiken auf seinem Territorium Sorgfaltspflichten", so der Jurist gegenüber profil: "Im Klartext: Russland kann dafür verantwortlich sein, was die Führung in Tschetschenien anstellt - das liegt auf der Hand. Für eine mögliche individuelle Verantwortlichkeit müsste jedoch nachgewiesen werden, dass es eine Befehlskette bis ganz oben gibt; dass der Killer also Anweisungen von der tschetschenischen Führung ausgeführt hat oder die tschetschenische Führung Anweisungen aus Moskau."

Das erinnert an ein zweites, ähnlich gelagertes Attentat in Österreich. 2009 wurde in Wien-Floridsdorf der tschetschenische Exilant Umar Israilow erschossen. Dem früheren Paramilitär und späteren Menschenrechtsaktivisten war nach Folter und Einkerkerung in Tschetschenien 2007 die Flucht gelungen. Er musste sterben, nachdem er gegen Kadyrow ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in die Wege geleitet hatte. Damals gingen die österreichischen Behörden von einer Verwicklung des tschetschenischen Präsidenten in die Tat aus -allerdings nur inoffiziell. Offiziell wurde Kadyrow deswegen nie beschuldigt.

Stattdessen wies das Wiener Landesverwaltungsgericht Jahre später der Republik Österreich eine Mitschuld für den Tod von Israilow zu: Die hiesigen Behörden hätten es trotz konkreter Bedrohung unterlassen, ihn ausreichend zu schützen.