Dossier: Crime

profil-Crime: Was geschah mit Flug MH370?

Die plausibelste Erklärung für das größte Rätsel der Luftfahrt um das Verschwinden der Boeing: Eine mörderische Tat.

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Freitag, 7. März 2014, Flughafen Kuala Lumpur, kurz vor Mitternacht: Eben haben Flugkapitän Zaharie Ahmad Shad, sein junger Co-Pilot Fariq Abdul Hamid und die zehn Flugbegleiterinnen die eher laxen Sicherheitskontrollen passiert. Um 23:46 beginnt das Boarding der Passagiere. Einer nach dem anderen schlüpft durch den Metalldetektor. Eine Chinesin in Kostüm und schickem Hut, den sie nicht abnehmen muss. Ein junges Paar, dem ein tapsiges Kleinkind um die Waden streift. Zwei ältere australische Ehepaare im Urlaubsoutfit, zwei durchtrainierte Ukrainer, ein 76-jähriger Chinese mit weißer Mähne. Ein junger, schlanker Mann im grauen T-Shirt, der einen österreichischen Pass in Händen hält. Insgesamt gehen 239 Menschen an Bord, viele mit müden Gesichtern ob der späten Stunde.

Um 0:41 startet die Boeing 777 ihren Direktflug in die chinesische Hauptstadt Peking, geplante Ankunftszeit: 6:30 Uhr. Das Wetter ist gut, die Reiseflughöhe bald erreicht. Um 1:07 sendet die Maschine ihren ersten ACARS-Bericht an die Bodenstation von Malaysia Airlines und an Boeing. Dieses übliche Kommunikationssystem wird alle 30 Minuten aktualisiert. Um 1:19 Uhr verabschiedet sich Pilot Zaharie mit ruhiger Stimme und dem üblichen Funkspruch von der malaysischen Flugsicherheitszentrale: „Good night, Malaysian three seven zero.“ Normalerweise sollte sich der Kapitän kurz darauf bei der vietnamesischen Luftverkehrskontrolle melden. Doch seine Grußworte bleiben aus. 90 Sekunden nach Zaharies letztem Satz bricht der Kontakt zu MH370 ab. Der Transponder, die Hauptverbindung zum Boden, ist tot.

Der malaysische Fluglotse fühlt sich nicht mehr zuständig und bemerkt das Verschwinden nicht. Seine vietnamesischen Kollegen hingegen sehen MH370 in ihren Luftraum fliegen – und haben sie plötzlich nicht mehr auf dem Radar. Sie versuchen, die Maschine zu kontaktieren, vergeblich. 18 Minuten später benachrichtigen sie den Flughafen in Kuala Lumpur. Es dauert weitere vier Stunden, bis dort endlich ein Notfallprotokoll anläuft.

Was in dieser Zeit an Bord von MH370 geschieht, lässt sich nur ansatzweise rekonstruieren. Der 450 Seiten starke Abschlussbericht der malaysischen Regierung, veröffentlicht vier Jahre nach dem Unglück, kann das Rätsel nicht lösen. Im Gegenteil: „Das Team ist nicht in der Lage, den Grund für das Verschwinden von MH370 zu bestimmen“, so das Fazit. Nichts könne ausgeschlossen werden, auch nicht die „Möglichkeit einer Intervention einer dritten Partei“. War es also eine Entführung? Oder eine Rakete ähnlich jener, die einige Monate später das Schwesternflugzeug MH17 über der Ukraine abschoss? Oder hat der 53-jährige Kapitän erweiterten Suizid begangen?

Chaos in den Tagen danach

Dem Verschwinden folgt heillose Verwirrung. Die überforderten malaysischen Behörden bombardieren verzweifelte Angehörige sowie die weltweite Presse mit Statements, die sie kurze Zeit später revidieren, nur um weitere, teils ungeprüfte Fakten zu verkünden. Noch am 8. März leiten sie eine Suchaktion im Südchinesischen Meer ein, in jener Region, in der der letzte Funkkontakt zustande gekommen ist. Wenige Tage später tauchen jedoch Gerüchte auf, die Maschine habe umgedreht und wieder Kurs auf Malaysia genommen. Soll man die Suche also Hunderte Kilometer weiter nach Westen verlegen?

Schließlich weigert sich Vietnam, weiterzusuchen. Auch China, aus dem mit 153 Passagieren der Großteil der Menschen an Bord stammt, ist verärgert. Ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums bezeichnet die aus Malaysia kommenden Informationen als „ziemlich chaotisch“. Parallel dazu veröffentlicht Malaysia die Passagierlisten, auf denen sich ein Österreicher und ein Italiener befinden. Beide melden sich kurze Zeit später lebendig aus ihren Heimatländern – wie sich herausstellt, sind ihre Identitäten von zwei Iranern verwendet worden. Tagelang steht deshalb ein Terroranschlag im Raum. Interpol kann diesen Verdacht schließlich am 11. März ausräumen. Die beiden jungen Männer haben sich lediglich ihren Familien in Europa anschließen wollen.

Die Kehrtwende

Zwei Wochen nach dem Verschwinden verlagert sich die Suche in ein völlig anderes Gebiet, weit unten im Indischen Ozean. Die malaysische Regierung hat inzwischen zugegeben, dass ein Militärradar die Maschine eine Stunde nach dem letzten Funkspruch, um 2:15 Uhr, weit südwestlich des letzten Aufenthaltsorts erfasst hat. MH370 hat also wirklich gewendet: Sie hat die malaysische Halbinsel überflogen, die Meerenge von Malakka durchquert, die Nordspitze Sumatras umrundet und ist in die radarlosen Weiten des Indischen Ozeans entschwunden.

Ihre folgende Route ist das Ergebnis komplizierter mathematischer Berechnungen. Denn trotz ausgeknipster Kommunikation wird das Flugzeug von einem britischen Satelliten registriert. Stündlich tauschen die Maschine und der über dem Äquator kreisende Satellit sogenannte „Handshake-Pings“ aus, acht Mal insgesamt. Um 8:19 Uhr erfolgt der letzte „Gruß“.

Zu diesem Zeitpunkt warten bereits viele Menschen am Pekinger Flughafen auf die Reisenden aus Kuala Lumpur. Die Maschine ist fast zwei Stunden überfällig. Auf den Anzeigen steht „delayed“, verspätet. Erst gegen Mittag werden die Wartenden erfahren, dass MH370 verloren gegangen ist. Indes verzeichnet der Satellit beim letzten Kontakt um 8:19 einen dramatischen Höhenverlust der Boeing 777 – fünf Mal schneller als bei einer normalen Landung. In diesen Minuten muss MH370 ins Meer gestürzt sein. Die Frage ist nur: Wo genau?

Da Flugzeug und Satellit ihre Position ständig verändert haben, bedarf es einiger Rechenkunst, die letzte Position einigermaßen zu bestimmen. Heraus kommt ein riesiges Gebiet im Indischen Ozean, etwa 1800 Kilometer westlich der australischen Stadt Perth. In der Folge übernimmt Australien die Suche nach dem Wrack. Der Aufwand ist riesig, die Suchteams international: Flugzeuge suchen aus der Luft nach umhertreibenden Trümmern, Forschungsschiffe, Tauchroboter und U-Boote scannen den Meeresboden in der Hoffnung, Signale der beiden Flugschreiber aufzuschnappen. Doch MH370 bleibt verschwunden.

Verschwörung: Ferngesteuert durch Aliens

Was aber ist an Bord von MH370 geschehen? Wer hat das Steuer herumgerissen und den Flug Richtung Antarktis gelenkt? Und warum hat niemand einen Notruf abgesetzt? Dazu gibt es wenige mögliche Szenarien – und unzählige Verschwörungsmythen. Der langjährige Premierminister von Malaysia, Mahathir Mohamad, vertritt die Meinung, MH370 sei ferngesteuert worden. „Boeing und manche Geheimdienste haben zweifellos die Möglichkeit, die unterbrechungsfreie Kontrolle über ein Passagierflugzeug wie MH370 zu übernehmen. Das Flugzeug ist noch irgendwo da draußen“, schreibt er im März 2014 in seinem Blog – und er verteidigt seine These bis heute. Eine im Internet sehr prominente Idee kreist um den US-Militärstützpunkt Diego Garcia. Südlich der Malediven gelegen, befindet sich das Atoll zwar weit westlich der Route von MH370, dennoch soll es Ziel von Entführern an Bord der Maschine gewesen sein. Diese hätten einen Anschlag auf Diego Garcia geplant und wären von der amerikanischen Luftwaffe abgeschossen worden, so eine Version.

Eine andere: Das US-Militär wollte das Flugzeug verschwinden lassen, hat es nach Diego Garcia umgeleitet und hält die Passagiere dort gefangen. Es könnte sich um einen Organspende-Skandal handeln, meint hingegen die ehemalige Fox-News-Managerin Darlene Tipton. Ihre Idee, die sich in einschlägigen Foren zu einem handfesten Mythos ausgewachsen hat, besagt: Die chinesische Mafia habe das Flugzeug gekapert, um die Organe der Passagiere zu „ernten“. Weitere beliebte Legenden ranken sich um feindlich gesinnte Außerirdische, gefräßige schwarze Löcher und Zeitschleifen, in denen MH370 gefangen sei.

Buch: Doch ein Abschuss?

Die französische Journalistin Florence de Changy hat von Beginn an über die verschollene Maschine berichtet. In ihrem 2022 auf Deutsch erschienen Buch „Verschwunden“ zeichnet sie ihre Recherchen minutiös nach. Die Hongkong-Korrespondentin der Tageszeitung „Le Monde“ hat mit Angehörigen gesprochen, mit der Familie des Kapitäns, mit unzähligen Expertinnen und Experten. Sie ist in den vergangenen Jahren Trümmern und Gerüchten hinterhergereist und konnte vertrauliche Dokumente einsehen. Im Gespräch mit profil zweifelt sie an der durch die Satellitendaten berechneten Route: „Es gibt keinen endgültigen Beweis, dass MH370 im Indischen Ozean geendet ist, geschweige denn, dass die Maschine umgedreht ist.“ Ein Crash im Südchinesischen Meer sei viel naheliegender.

„Das einfachste Szenario,wonach das Flugzeug etwa 90 Minuten nach seinem Verschwinden abstürzte, wurde innerhalb kürzester Zeit unterdrückt und manipuliert“, sagt Florence de Changy. Das Verlegen der Suche in den Indischen Ozean sei eine groß angelegte Desinformationskampagne gewesen, ein „Verschwinde-Trick“. Aber wer wollte das Flugzeug loswerden und warum?

„Nehmen wir einmal an, auf Basis von fundiertem Hörensagen, dass sich in der Fracht von MH370 ein Spionagegerät, vermutlich amerikanischen Ursprungs und von hohem technologischen Wert, befand. Ein Gerät, das die Chinesen dringend in ihren Besitz bringen wollten“, so de Changy. Als die USA den Diebstahl bemerkten, hätten sie die Maschine mit zwei Abfangjägern begleitet und sie gegen jegliche Kommunikationskanäle abgeschirmt. Den Piloten zu einer Zwischenlandung zu zwingen und die heikle Fracht herauszurücken, sei vermutlich missglückt, weshalb die Amerikaner schließlich beschlossen haben könnten, das Flugzeug abzuschießen. „Nachdem ich dieses hypothetische Szenario aus Hunderten Hinweisen zusammengestellt habe, kann ich jedoch die Möglichkeit nicht ausschließen, dass MH370 einfach von China abgeschossen wurde, als die Chinesen sahen, dass mehrere Flugzeuge in dieser hochsensiblen Region unangekündigt in ihren Luftraum eindrangen“, so die Autorin.

Was sie in dieser abenteuerlichen Erzählung außer Acht lässt: Die Satellitendaten, die den Weg von MH370 in den Indischen Ozean nachzeichnen, sind in einem wissenschaftlichen Fachmagazin veröffentlicht und von keinem seriösen Experten je in Zweifel gezogen worden. Und: Die in den Jahren 2015 und 2016 an den Küsten von La Réunion, Madagaskar und Tansania angeschwemmten Trümmer sprechen für einen Crash im Indischen Ozean.

Stundenlanger Geisterflug

Was in der Boeing 777 nach 1:19 Uhr wirklich geschah, wird wahrscheinlich nie restlos geklärt werden. Der wahrscheinlichste Ablauf ist aber folgender: Einer der Piloten sperrt den anderen aus dem Cockpit, deaktiviert den Autopiloten und vollzieht die enge Kehrtwende per Hand. Da weder die Crew noch die Passagiere einen Hilferuf absetzen, liegt die Vermutung nahe, dass der Pilot einen Druckabfall in der Kabine herbeiführt. Das lässt sich durch ein gezieltes Aufsteigen der Maschine auf 40.000 Fuß noch beschleunigen – wovon manche Experten ausgehen.

Den wenigen Menschen, die nach diesem Manöver noch leben und es geschafft haben, sich die Sauerstoffmasken aufzusetzen, geht nach spätestens 15 Minuten die Luft aus. So lange reicht der Vorrat für die Passagiere. Jener im Cockpit hält hingegen deutlich länger vor. Mit hoher Geschwindigkeit durchquert MH370 anschließend den Radarbereich der malaysischen Luftabwehr. Offenbar wird die Boeing von den Verantwortlichen auf den Radarschirmen auch gesehen, aber nicht als gefährlich eingestuft.

In einem Interview mit dem australischen Fernsehen sagt der malaysische Verteidigungsminister später: „Wenn man nicht vorhat, es abzuschießen,warum sollte man also Abfangjäger hinschicken?“ Wäre das Militär aktiv geworden, wüssten wir heute vermutlich, wer zu diesem Zeitpunkt im Cockpit von MH370 gesessen ist. Könnte etwas anderes verantwortlich für diesen kontrollierten Zickzackkurs sein als ein Mensch? „Computerfehler, Kollaps der Kontrollsysteme, Sturmböen, Eis, Blitzschlag, Vogelschlag, Meteoriten, Vulkanasche, mechanische, elektrische, sensorische Fehler, Instrument- oder Radarversagen, Rauch, explosiver Druckabfall, Explosion im Frachtraum, Verwirrung des Piloten, medizinischer Notfall, Bomben, Krieg oder Gottesgewalt – nichts davon kann diese Flugroute erklären“, resümiert der Pilot William Langwiesche in einem Artikel, den er für das US-Magazin „The Atlantic“ verfasst hat. Er glaubt nicht an einen Eindringling, der das Cockpit gekapert hat. In so einem Fall hätten die Piloten Zeit gehabt, per Funk einen Notfall zu melden.

Wer hat MH370 gesteuert? 

Übrig bleiben damit Flugkapitän Zaharie und Co-Pilot Fariq. Es ist ein schwer zu ertragender Gedanke, aber amoklaufende Piloten gibt es immer wieder. 2015 nutzte der Co-Pilot Andreas Lubitz den Toilettengang des Kapitäns, um sich im Cockpit zu verbarrikadieren, und steuerte den Airbus von Germanwings mit 149 Menschen an Bord geradewegs in eine französische Gebirgskette. Wer aber bringt es fertig, 238 Menschen zu ermordenund dann stundenlang mit den Toten in ihren Sitzen durch die Nacht zu gleiten, bis der Treibstoff ausgeht? Die Expertinnen und Experten streiten, ob der Verantwortliche die Maschine bis zum bitteren Ende unter Kontrolle gehabt hat oder ob er sich irgendwann das Leben genommen haben könnte.

So oder so: Es ist eine monströse und unbegreifliche Tat, so überlegt und irrsinnig zugleich, dass alle rationalen Erklärungsmuster daran scheitern müssen. Man wird es wohl nie mit Sicherheit wissen, aber der Hauptverdächtige ist Kapitän Zaharie. Während sein 27-jähriger Co-Pilot eine glänzende Karriere und eine Hochzeit vor sich gehabt hat, berichten Kollegen Zaharies hinter vorgehaltener Hand von möglichen Depressionen – auch wenn seine Familie dies vehement dementiert.

Und: Auf Zaharies privatem Flugsimulator haben FBI-Ermittler eben jenen Kurs ins Nirgendwo gefunden, den er am 8. März 2014 mutmaßlich in die Tat umgesetzt hat.

Die Nadel im Heuhaufen

Die aufwendigste Suche in der Geschichte der Luftfahrt zieht sich am Ende über drei Jahre. Die Rettungsteams durchkämmen ein Gebiet von 120.000 Quadratkilometern (zum Vergleich: Österreich misst knapp 84.000 Quadratkilometer), die Kosten belaufen sich auf 127 Millionen Euro. Dass dieser Aufwand erfolglos bleibt, ist für die Angehörigen unerträglich und für viele Menschen bis heute schwer zu akzeptieren.

Verwunderlich ist es ob der schieren Größe des Indischen Ozeans allerdings nicht: Als die Air-France-Maschine 447 im Juni 2009 auf dem Weg von Rio de Janeiro nach Paris infolge eines Unwetters in den Atlantik stürzt, wissen die Rettungsteams ziemlich genau, wo sie suchen müssen. Trotzdem dauert es zwei Jahre, bis das Wrack geborgen wird.

Franziska   Dzugan

Franziska Dzugan

schreibt für das Wissenschaftsressort und ist Moderatorin von tauwetter, dem profil-Podcast zur Klimakrise.