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Zeitzeuge werden

Journalismus ist immer auch ein Stück Zeitgeschichte.

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Guten Morgen!

Kürzlich wurde mir wieder einmal bewusst, wie nahe Journalismus und Zeitgeschichte aneinander liegen. In der Theorie habe ich beides getrennt voneinander studiert. In der Praxis läuft das Eine ins Andere über. Der österreichische Journalist Hugo Portisch, der vergangene Woche im Alter von 94 Jahren verstorben ist, hat das eindrucksvoll bewiesen. Sollten Sie das Porträt von Christa Zöchling verpasst haben: Sie können es hier nachlesen.

Aber zurück zur Gemengelage Zeitgeschichte und Journalismus. In der Redaktionsstube kommt das Wort „Zeitzeuge“ oft ungewollt wie eine Beleidigung daher. Insbesondere dann, wenn es von den Jungen kommt. „Ich, ein Zeitzeuge? So alt bin ich doch auch wieder nicht!“, protestiert dann so mancher Redakteur oder so manche Redakteurin.  

Das Erbe der Bomben

Im Idealfall entsteht ein generationenübergreifender Austausch. Als ich meinem Kollegen Robert Treichler von der aktuellen Recherche zu den NATO-Bombardements von vor 22 Jahren erzählte, konterte er mit einer Anekdote. 1998 wollte Treichler, getarnt mit einem Visum als Geschäftsmann, in die damalige Bundesrepublik Jugoslawien reisen. Um die Lage vor Ort besser einschätzen zu können, tätigte er einen Anruf. Am anderen Ende der Leitung: der Kärntner Wolfgang Petritsch, damals österreichischer Botschafter in Belgrad und ein Jahre später EU-Chefverhandler im Kosovokonflikt.

23 Jahre später habe ich Petritsch noch einmal angerufen, diesmal nicht per Telefon, sondern Skype. Er hat mir erzählt, warum seine letzte Verhandlung mit Slobodan Milosević, der später in Den Haag als Kriegsverbrecher angeklagt war, scheiterte. Und warum er zwei Tage vor den Bombardements ein hitziges Gespräch mit Peter Handke in Paris führte.

Kollege Treichler, gewissermaßen genauso Zeitzeuge wie Petritsch, hat für die neue Ausgabe im Archiv recherchiert. Denn die NATO-Bombardements, die völkerrechtlich bis heute umstritten sind, haben damals nicht nur die österreichische Innenpolitik gespalten, sondern auch die profil-Redaktion. Wo verliefen die Fronten? Und wie wurde berichtet? Das lesen Sie hier.

Journalismus ist immer auch ein Stück Zeitgeschichte. Vielleicht, in 23 Jahren oder sogar schon früher, wird eine jüngere Kollegin oder ein Kollege zu mir sagen: „Du warst ja damals dabei.“ Man kann nur hoffen, dass damit kein Krieg gemeint sein wird.

Franziska Tschinderle

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Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.