Proteste in Georgien: Die Verhaftung eines Dichters
„‚Du siehst mich nicht mehr‘ hat Zviad zuletzt zu mir am Telefon gesagt“, sagt Manana. Die Georgierin lebt seit langem im Ausland, mittlerweile mit anderer Staatsbürgerschaft. Ihr Freund Zviad Ratiani ist Dichter und Übersetzer, vier Jahre lang verbrachte er in Österreich sein Exil, nachdem er 2018 in seinem Herkunftsland Georgien von der Polizei angegriffen worden war. Seit 2022 ist er wieder in seiner Heimat. Ein Video machte am Montag spätnachts die Runde: Zviad wurde am Heimweg von der Polizei festgenommen. Vorgeworfen wird ihm Widerstand gegen die Staatsgewalt.
Es ist Tag 209 der Proteste, der Dienstagabend nach der Festnahme. Ob Ratiani in Haft muss, wird heute entschieden. „Vorsicht, Vorsicht“, rufen Polizisten, die sich vor dem georgischen Parlament formiert haben. Die Beamten begrüßen einander, sie tragen keine Uniformen und kommen teilweise in Zivilfahrzeugen.
In Georgien wird seit dem 24. Oktober 2024 protestiert. Die Regierungspartei „Georgischer Traum“ hat die Parlamentswahlen offiziell gewonnen, doch die Opposition wirft ihr Wahlbetrug vor. Seither gehen die Menschen auf die Straße.
Im aktuellen Regierungsprogramm wurde die Aussetzung des EU-Beitritts von Georgien beschlossen, viele Georgier und Georgierinnen hatten darin ihre Hoffnungen gesetzt. Mit der absoluten Regierung des „Georgischen Traums“ sind diese Hoffnungen geplatzt. Die Demonstranten beschuldigen die Regierung, das Land wieder an Russland heranzuführen und von der EU zu entfernen.
Seit Dezember liegt auch das Präsidentenamt in den Händen der Regierungspartei. Michail Qawelaschwili gewann die Wahlen gegen die vorherige Präsidentin Salome Surabschwili, die Fäden im Land zieht aber ohnehin ein anderer: Unternehmer und Parteigründer Bidsina Iwanischwili.
Vor wenigen Monaten gingen Tausende Menschen auf die Straße, Ende Juni sind es nur noch einige Hundert. Auch nach der Verhaftung Ratianis erlangten die Proteste nicht ihre anfängliche Schlagkraft. Ratiani ist eine der wichtigsten Stimmen der Proteste. Der Schriftsteller saß bereits mehrmals im Gefängnis, dennoch sei er einer, „der den Mund aufmacht“, erzählt Manana. Ratanis Verhaftung ist ein Schlag ins Gesicht der Bewegung. Los geht es täglich um 20 Uhr, um 22 Uhr trifft der vom alten Fernsehgebäude ausgehende Protestzug mit den Protestierenden vor dem Parlament zusammen.
Verschriftlicht wird der Protest durch Graffitis und Banner vor dem Regierungsgebäude. Zu Beginn der Protestbewegung wurden sie entfernt, mittlerweile bleiben sie. Genannt wird der georgische Kriegsheld Giorgi Antsukhelidze, der nach dem Einmarsch Russlands im Jahr 2008 sein Land auch unter Folter nicht verleumdnete. Er wurde im Krieg ermordet. Seine mutmaßlichen Folterknechte wurden laut ukrainischen Medien 2022 im Ukraine-Krieg getötet. „Er ist unsterblich“, übersetzt Manana ein Graffiti. „Wir haben geschworen, dass wir nicht aufgeben“, verkündet ein weiteres. „Streik“, „Kein Schritt zurück, wir haben geschworen“. „Sanction Ivanishvili“ steht auf einem weißen Stoffbanner am Eingangsportal des Parlaments.
In der georgischen Hauptstadt Tiflis gibt es eine lange Kultur des Protests. Seit 1987 wird immer wieder vor dem Parlament protestiert, „es sah nie anders aus“, sagt Manana. Am Platz vor dem Gebäude befindet sich das Denkmal für die Proteste des 9. April 1989. Auch damals wurde für ein unabhängiges Georgien demonstriert, das sowjetische Militär schoss in die Menge, 21 Menschen starben, mehr als 100 wurden verletzt. Manana war damals dabei.
Heute ist sie Mitte 50, ihre Studienzeit ist für Manana untrennbar mit dem Kampf für die Unabhängigkeit Georgiens verbunden. „Die jungen georgischen Ex-Soldaten haben damals eine Kette gebildet, sonst wäre es noch schlimmer ausgegangen“, sagt sie. „Sie hatten Erfahrung im Krieg, viele von ihnen hatten ihren Militärdienst in Afghanistan geleistet.“ Manana deutet auf eine Eiche am Rande des Platzes. „In diesem Baum saßen damals Studierende aus Litauen“, sagt sie. Diese Solidarität habe sie damals sehr bewegt.
Menschen aller Altersgruppen sind zu den Protesten gekommen, auch Kinder sind dabei, dazwischen riesige georgische Straßenhunde. Viele haben schon in den 1990ern für die Unabhängigkeit Georgiens demonstriert. Manche sind vermummt, andere zeigen ihr Gesicht. In der Menge sind Prominente Georgier, Journalistinnen, deren Sendungen abgesetzt wurden, und Kunstschaffende. Verhaftungen wie die von Schriftsteller Ratiani schaffen Unsicherheit unter den Georgiern und Georgierinnen. Auch die Presse ist vermummt.
Nina, die Tochter des inhaftierten Autors Zviad Ratiani, steht abseits vom Platz vor dem Parlament. Sie ist um die 30 und möchte nicht in der Mitte des Getümmels sein. Die Polizei ist zurückhaltend, aber präsent an allen Ecken des Platzes, überwacht wird auch mit Drohnen und Kameras.
„Ich habe damit gerechnet, dass er festgenommen wird. Leute wie mein Vater, die das Regime offen und kompromisslos kritisieren, werden oft ins Visier genommen. Er war jeden Tag bei den Protesten“, sagt Nina. Die Chance, dass ihr Vater bald wieder freikommt, sei gering. In vergleichbaren Fällen habe es keine Möglichkeit gegeben, Kaution zu bezahlen. Nina erwartet, dass er zwischen fünf und sieben Jahren Haft ausfasst. „Leute wurden wegen komplett absurden Vorwürfen festgenommen, und jene, die mit Gewalt gegen protestierende Journalisten und Bürger vorgingen, wurden bis heute nicht bestraft.“
Nicht untersucht wurde auch der Vorfall am 28. November 2024, als ihr Vater von der Polizei zusammengeschlagen wurde. „Es geht nicht nur um meinen Vater. Was mit ihm und vielen anderen passierte, ist Teil eines gezielten Durchgreifens gegen Dissidenten und den zivilen Widerstand. Die Welt muss das klar sehen und zu uns stehen.“
Am Platz vor dem Parlament wehen ukrainische und amerikanische Fahnen, auch die EU-Flagge ist dabei. Diese hängt auch vor dem Parlament. Die Regierungspartei Georgischer Traum spielt ein Verwirrspiel. Die Europafahne weht an vielen öffentlichen Plätzen, nur hat die Regierung ihre Bemühungen für einen georgischen EU-Beitritt ad acta gelegt.
„Freiheit für die Gefangenen“, rufen die Menschen, als der Protestzug kurz vor 22 Uhr auf die Menge vor dem Parlament trifft. Dann Werden die Namen aller 50 Inhaftierten verlesen. Viele Demonstranten leuchten mit ihrer Handy-Taschenlampe oder filmen das Geschehen.
Bald sind die Bilder in den Sozialen Medien zu sehen.
Georgiens Proteste sind geprägt von schnell getakteten Online-Medien. Dort beziehen die Georgier und Georgierinnen ihre Informationen zu den Protesten und Verhaftungen. Ihre Höhepunkte fanden die Proteste nach der Verabschiedung des sogenannten „Foreign Agent“-Gesetzes und der Präsidentschaftswahl im Dezember 2024. Wer kritisch ist, wird als Privatperson mit hohen Geldstrafen belegt, auch Gefängnisstrafen sind möglich. Zur Anwendung des Gesetzes herrscht Unklarheit und somit auch viel Angst.
Zum ersten Mal bei den Protesten dabei ist heute Mananas Nichte. „Ich habe die Videos gesehen, es ist nichts Neues“, sagt die 18-Jährige unbeeindruckt von der Bewegung.
Die Staatsanwaltschaft fordert am Mittwochnachmittag eine Freiheitsstrafe von vier bis sieben Jahren gegen den Dichter Ratiani. Er wird nun bis zum Urteil in Haft bleiben. Aktuell ist in Georgien ein Gesetz geplant, mit dem Berichte über Gerichtsprozesse verboten werden sollen.
Der Protest geht weiter: Am Samstag wird der Marsch zum neuen Fernsehgebäude ausgedehnt, die Menschen fordern die Möglichkeit, im Öffentlich-Rechtlichen ihre Meinung zu sagen. Zviad Ratiani wird zum ersten Mal seit Beginn der Demonstrationen nicht dabei sein.