Rosen und eine Kerze als Gedenken auf der Insel Utøya

Rechtsterrorismus: Das Trauma von Utøya

2011 erschoss der rechtsextreme Terrorist Anders Breivik 69 Jugendliche auf der Insel Utøya. Die Anschläge trafen die Norweger ins Herz.

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Als Miriam Einangshaug zu Bewusstsein kommt, liegt sie unter einem Bett im Schlafsaal einer Holzhütte. Jemand muss sie aus der Schusslinie gezerrt haben, als der Mörder mit seiner Automatikwaffe durch die Dielen feuerte. Im Dunkeln tippt die 16-Jährige eine SMS an ihre Familie in ihr Handy, ohne sich zu rühren, aus Angst, er könne zurückkommen: „Ich liebe euch.“

Es ist der 22. Juli 2011. Damals, vor genau zehn Jahren, besucht die 16-jährige Norwegerin mit rund 560 anderen das Sommercamp der sozialdemokratischen Jugend „Arbeidernes Ungdomsfylking“ (AUF). Einmal jährlich findet es auf Utøya statt, einer etwa 500 Meter langen und 300 Meter breiten Insel in einem Binnensee unweit der Hauptstadt Oslo. Am Ostufer befindet sich ein kleiner Steg zum Anlegen von Fähren. An jenem 22. Juli 2011 ist er mit in weißen Tüchern gewickelten Leichen bedeckt. Die 16-Jährige sieht, wie Sicherheitskräfte den Mann festnehmen, der diese Menschen – ihre Freunde – erschossen hat. Der rechtsextreme Terrorist Anders Behring Breivik, damals 33 Jahre alt, trug eine Polizeiuniform, während er auf der Insel 69 Menschen tötete. Am Steg sieht Miriam Einangshaug ihn zum ersten und letzten Mal. Zuvor hatte sie nur das Stampfen seiner Stiefel gehört, kurz bevor sie jemand unter das Bett zerrte und ihr damit das Leben rettete.

Der Attentäter ging vor den Schlafräumen auf und ab. Er suchte offenbar nach einer Lücke, durch die er auf die Jugendlichen schießen konnte. Dann hörte die damals 16-Jährige einen Knall. Es klang, als würde etwas in ihrem Kopf explodieren. „Das Geräusch war so laut, es hat sich angefühlt, als hätte er mich getroffen.“

Zehn Jahre später sitzt Miriam Einangshaug auf einer Bank im Botanischen Garten von Oslo und erinnert sich an den Tag, der alles veränderte.

Denkt sie über Antworten auf Fragen nach, die sich um den Anschlag drehen, wendet sie den Blick ab und starrt ins Leere. Der Tag vor dem Anschlag sei der letzte Tag ihrer Kindheit gewesen. Es fällt ihr schwer, etwas über die ersten 16 Jahre ihres Lebens zu erzählen. Da sei alles so normal gewesen. Nichts habe sich so tief eingebrannt wie jene Stunden auf Utøya. Nach einer Weile meint sie: „Meine Jugend war okay, ich habe viel gelesen und mich für Politik interessiert. Deshalb bin ich der AUF beigetreten.“

Nach dem 22. Juli 2011 muss sich Miriam Einangshaug entscheiden, an welcher Beerdigung von welchem auf Utøya erschossenen Freund sie teilnimmt. Es sind zu viele – an Orten über ganz Norwegen verteilt. Oft finden sie am selben Tag statt,  jede einzelne ist unerträglich. Mit dem Beginn des neuen Schuljahrs im Herbst 2011 soll Einangshaug dann wieder Platz finden in einer von Hormonen, Schulnoten und Pop geprägten Welt.

Es hat nicht funktioniert.

Ihre Geschichte ist eine des jahrelangen Kampfes gegen Dunkelheit und Verzweiflung. Sie scheint ihn mit der Hilfe von Therapeuten gewonnen zu haben. Einangshaug hat die Matura gemacht und den Bachelor in Notfall- und Krisenmanagement, auch wenn sie wegen einer Konzentrationsschwäche mehr Zeit dafür benötigte. Noch heute muss sie beim Lesen eines Buches regelmäßig Pausen einlegen, ihre Gedanken schweifen nach ein paar Seiten ab. Einangshaug engagiert sich seit einem Jahr bei „Støttegruppen 22. Juli“, der norwegischen Vereinigung zur Unterstützung der Opfer des Breivik-Attentats mit 1600 Mitgliedern. Das sei ihre Art, im Heilungsprozess voranzukommen.

Bis heute Probleme mit der psychologischen Hilfe für Opfer

Nicht alle Opfer von Utøya hätten nach dem Anschlag die richtigen Therapeuten gefunden, sagt Einangshaug. Mehr als 500 Jugendliche befanden sich auf Utøya, als Anders Behring Breivik auf Menschenjagd ging. Jene, die keine Kugeln trafen, rannten um ihr Leben. Sie versteckten sich im Wald oder unter den über den Strand ragenden Felsen. Sie hörten, wie andere um ihr Leben flehten und Breivik sie mit Schüssen für immer zum Schweigen brachte. Viele Jugendliche, die jüngsten erst 14 Jahre alt, kamen wie Einangshaug aus kleinen Gemeinden. Bis heute gäbe es Probleme mit der psychologischen Hilfe für die Opfer, meint Einangshaug. Gibt es in dem als Inbegriff eines friedlichen Landes geltenden Norwegen zu wenige Traumatherapeuten? „Ich glaube, manchmal ist einfach der Wille nicht da. Viele sind der Meinung, wir sollten endlich darüber hinwegkommen“, sagt die Überlebende.

Miriam Einangshaug schätzt, dass jeder Vierte der rund fünf Millionen Norweger von den Anschlägen am 22. Juli 2011 betroffen war. Sie kannten jemanden, der auf Utøya erschossen wurde oder traumatisiert von dort zurückkam. Oder sie hielten sich im Stadtzentrum von Oslo auf, als Breivik im Regierungsviertel entlang der Straße Akersgata fast eine Tonne Ammoniumnitrat aus Kunstdünger zündete und die Innenstadt in eine Kriegszone verwandelte. Dennoch werde in Norwegen von Jahr zu Jahr weniger über die Anschläge gesprochen, sagt Einangshaug. „Viele Überlebende haben das Gefühl, dass sie vergessen werden.“

Abriss der beschädigten Regierungsgebäude wird nicht von allen begrüßt

Dort, wo Anders Behring Breivik am 22. Juli 2011 seinen weißen Kleintransporter parkte, zwischen dem früheren Öl- und Energieministerium und dem Büro des damaligen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg, mittlerweile NATO-Generalsekretär, zieht heute ein Kran Lasten in die Höhe. Bauzäune umgeben das Regierungsviertel. Stoltenbergs Nachfolgerin Erna Solberg von der konservativen Høyre-Partei beschloss 2014, dass alles bis 2029 neu werden soll, grüner und vor allem besser geschützt vor Attentaten. Die beschädigten Gebäude sollen dafür weichen.

Am 22. Juli 2011 fegte eine Druckwelle durch die umliegenden Straßen mit ihren teuren Geschäften und schicken Cafés. Sie drückte Fensterscheiben ein und riss Passanten zu Boden. Es regnete Glassplitter, aus den Büros der Ministerien segelte Papier auf die Straße. Das nach dem Anschlag wieder hergerichtete Innenstadtviertel um die Akersgata erscheint wie eine Blaupause für das künftige Zentrum der norwegischen Regierung: modern, blank gewienert und bis auf ein Kunstwerk aus eisernen Rosen vor der Kathedrale von Oslo ohne sichtbare Spuren der Anschläge.

Nicht alle Norweger waren glücklich damit, dass Solberg die beschädigten Regierungsgebäude nicht erhalten wollte. Schnell war von Geschichtspolitik mit der Abrissbirne die Rede und von einer Regierung, die unter der Beteiligung der rechtspopulistischen Fremskrittspartiet von 2013 bis 2020 kein besonderes Interesse an einer architektonischen Mahnung an die Tat eines Rechtsterroristen und Rassisten zeige.

„Breivik wollte uns umbringen, weil er unsere Werte gehasst hat“

Einer, der vielleicht eines Tages in einem der neuen Regierungsgebäude in Oslo sitzen könnte, schwamm am 22. Juli 2011 um sein Leben. Gaute Børstad Skjervø sprang ins Meer, als Breivik auf der Insel das Feuer eröffnete. „Vielleicht 500 oder 600 Meter von der Insel haben mich Touristen auf einem Boot aus dem Wasser gezogen“, erzählt er. Er war mit fünf Klassenkameraden aus der Kleinstadt Levanger in Zentralnorwegen zu dem Sommercamp auf Utøya aufgebrochen. Børstad Skjervø kam als Einziger zurück.

Zehn Jahre nach den Anschlägen sitzt der 26-Jährige in seiner Wohnung in der Stadt Frogner, rund 30 Kilometer nördlich von Oslo, und erzählt, wie er dem Todesschützen entkam. Er behält dabei die Uhr im Auge. Der Vizepräsident der AUF hat wenige Tage vor dem Jahrestag allerhand zu erledigen. Da wäre das offizielle Gedenken der Überlebenden in Anwesenheit der norwegischen Ministerpräsidentin Erna Solberg am 22. Juli. Oder die Organisation des  Sommercamps, das die AUF im August auf Utøya veranstalten wird. Bei der Parlamentswahl im September will Børstad Skjervø als Vierter auf der Liste der sozialdemokratischen Arbeiderpartiet für den Wahlkreis Nord-Trøndelag ins norwegische Parlament Storting einziehen.

Woher nimmt er für all das die Kraft? Børstad Skjervø spricht von einer Trotzhaltung, die ihn vor einem dunklen Loch bewahrt habe. Breivik habe die AUF enthaupten wollen, als er ihr Sommerlager auf Utøya angriff. Immerhin müsse jemand an die Stelle der ermordeten Führungskräfte treten – warum sollten das nicht die Überlebenden des Anschlags sein? „Breivik wollte uns umbringen, weil er unsere Werte gehasst hat“, sagt Børstad Skjervø. „Es kann keinen besseren Grund geben, heute für sie einzutreten.“

Nicht einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort

Die Jugendlichen auf Utøya sind nicht gestorben, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Breivik hat sie als Ziel ausgewählt und das Attentat penibel geplant. Am Nachmittag des 22. Juli 2011, etwa eine Stunde nach der Explosion im Osloer Regierungsviertel, nimmt Breivik eine Fähre zur Insel. Er trägt eine dunkelblaue Polizeiuniform und gibt vor, die Jugendlichen über den Bombenanschlag in Oslo informieren zu wollen. Als sie sich am Versammlungsplatz einfinden, eröffnet Breivik das Feuer.

Nach dem Massaker will die AUF ein Zeichen setzen, dass der Attentäter sie nicht von ihrem Kurs abgebracht hat. 2015 versammeln sie sich zum ersten Mal wieder auf Utøya – wie auch in den Jahrzehnten davor. Seither findet das Feriencamp wieder jährlich statt. Nun allerdings unter dem Schutz bewaffneter Sicherheitskräfte. Børstad Skjervø war 2017 zum ersten Mal wieder auf der Insel, auf der er fünf Klassenkameraden verlor. „Das war schwierig“, sagt er.

Der Nachwuchspolitiker gehört zu einer Gruppe von Utøya-Überlebenden, denen im Fall eines Wahlsiegs der Sozialdemokraten auch ein Ministeramt in der künftigen Regierung zugetraut wird. Der Preis für den Erfolg scheint hoch. Denn die Zeit der Rosen, die sich nach dem 22. Juli 2011 rund um die Kathedrale von Oslo zu Bergen türmten, ist vorbei. Wer das Attentat überlebte und die Stimme in der Öffentlichkeit erhebt, werde heute in den sozialen Netzwerken beschimpft, beleidigt und manchmal mit dem Tod bedroht, erzählt Børstad Skjervø.

Dann erzählt der Nachwuchspolitiker von der Polarisierung in Norwegen. Die Frage, wie die Bluttaten am 22. Juli 2011 zu bewerten sind, habe die politischen Lager auseinanderdriften lassen. Für die einen sei der Anschlag ein politisches Verbrechen gegen Norwegens Werte, die von der über Jahrzehnte regierenden Sozialdemokratie maßgeblich geprägt wurden. Dazu zählt auch eine für Einwanderer aus aller Welt offene Gesellschaft. Mit keinem Namen ist der liberale Kurs gegenüber Migranten in Norwegen mehr verbunden als mit der langjährigen Ministerpräsidentin und Landesmutter Gro Harlem Brundtland von der Arbeiderpartiet. Breivik sagte vor Gericht aus, er habe Brundtland wegen ihrer Haltung in der Einwanderungspolitik vor laufender Kamera auf Utøya enthaupten wollen. Aber die ehemalige Regierungschefin hatte ihren öffentlich angekündigten Besuch bei der Parteijugend früher als geplant beendet. Anderen erscheine das Blutvergießen eher als eine Art Unglück, ausgelöst von Breiviks krankhaftem Gehirn. Für sie verbiete sich jede politische Betrachtung des Massakers. „Viele mögen es nicht, wenn Überlebende Fragen stellen. Zum Beispiel, inwiefern die Art, wie manche Politiker oder Medien über Migranten oder Muslime in Norwegen diskutiert haben, Breivik ermutigt hat. Und unserer Partei wird jetzt vorgeworfen, sie spiele mit der Kandidatur von Überlebenden die Utøya-Karte, um wieder an die Macht zu kommen“, sagt Børstad Skjervø.  

„Dann kommen die Wut und die Suche nach Sündenböcken“

Die Schriftstellerin Erika Fatland war vor zehn Jahren eine renommierte Expertin für Terrorismus. Bekannt wurde sie durch ihr Buch über das Geiseldrama im südwestrussischen Beslan von 2004. Tschetschenische Terroristen hatten damals Hunderte Schulkinder ermordet. Nach dem Anschlag von Utøya gelang es Fatland, Zeugnisse von Überlebenden und Hinterbliebenen zu einer mehr als 500 Seiten langen Reportage zusammenzufassen. Ihr Buch „Die Tage danach“ wühlte 2012 eine Nation auf, die während des Jahrhundertprozesses gegen Anders Behring Breivik von April bis August 2012 jeden Tag das mal reglose, mal feixende Gesicht des Mörders in den Nachrichten ertragen musste. Am Ende wurde er wegen Terrorismus und vorsätzlicher Tötung zu 21 Jahren Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt – die höchste mögliche Strafe in Norwegen. Doch für viele ist der Fall damit noch lange nicht abgeschlossen.

Einige von Fatlands ehemaligen Interviewpartnern erhalten Drohungen und Schmähungen in den sozialen Netzwerken. „Sie lesen dann so was wie: Schade, dass Breivik dich vergessen hat.“

Die Verrohung der Sprache erschreckt Fatland, die verhärteten Fronten in der Diskussion um die Anschläge vom 22. Juli 2011 erstaunen sie aber nicht. Nach einem Ereignis, das jeden betreffe, lägen sich die Menschen erst einmal in den Armen. „Dann kommen die Wut und die Suche nach Sündenböcken“, sagt Fatland. Für viele sind das offenbar ausgerechnet jene, die durch ihr Überleben an den Anschlag erinnern – und an das Ende der Illusion eines heilen Norwegens.

Vielleicht überfordert die Dimension des Erlebten das Land, in dem das Vertrauen zueinander vor dem Rohstoffboom und dem Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg die Basis für das Zusammenleben bildete. Der Täter war ein Mann, der so unscheinbar wie norwegisch schien. Die auf die islamistische Gefahr konzentrierten Sicherheitsbehörden überprüften Breivik nicht einmal dann, als sie davon erfuhren, dass er fast eine Tonne explosiven Kunstdünger gekauft hatte. Er hatte ja einen Bauernhof außerhalb von Oslo und war nicht etwa durch Kontakte zu radikalen Muslimen aufgefallen.

Immerhin hätten die Behörden und die Regierung Stoltenberg ihre Arglosigkeit und ihre Fehler eingeräumt, sagt Fatland. Sicherer sei das Land nicht unbedingt geworden, findet sie. Die Norweger hielten an ihrer Vorstellung einer offenen Gesellschaft fest, Taschenkontrollen in öffentlichen Gebäuden vertrügen sich damit nicht. Fatland kann die Haltung nachvollziehen: Norwegen war und ist trotz aller digitalen Hassorgien kein Land mit einer großen gewaltbereiten rechten Szene. Und doch sind die Anschläge geschehen. Es brauchte nur einen Täter, den die Sicherheitsbehörden nicht auf dem Schirm hatten. „Es ist auch ziemlich schwierig, sich vor jemandem wie Breivik zu schützen. So etwas kann überall passieren“, sagt die Schriftstellerin.

Erika Fatland hat nach ihrem Buch über die Anschläge in ihrem Land nie wieder auch nur eine Zeile über Terrorismus geschrieben. Heute veröffentlicht sie Reisebücher.