Polen

Restriktive Gesetze drängen Polinnen zur Abtreibung nach Wien

Für ungewollt schwangere Polinnen wird Wien immer attraktiver. Im eigenen Land wird ihnen der sichere Schwangerschaftsabbruch verweigert – deswegen boomen Medikamenten-Schwarzmarkt und Abtreibungstourismus.

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In manchen Wochen ist jede fünfte ungewollt schwangere Patientin, die im Wiener Gynmed-Ambulatorium abtreibt, extra aus Polen angereist. Der Grund? Schwangere bekommen hier eine sichere Abtreibung, die ihnen in ihrem Heimatland fast immer verwehrt wird. 

Anna Jaskulska* hat vielen von ihnen geholfen. Die Polin lebt seit 2003 in Wien und arbeitete von 2008 bis 2022 als Dolmetscherin und Beraterin im Ambulatorium. Die meisten Schwangeren, die die Wiener Klinik aufsuchen würden, seien Mütter, die sich ein weiteres Kind nicht mehr leisten könnten: „Konservative versuchen, Abtreibende immer als ‚junge Flittchen‘ darzustellen. Dabei sind sie tatsächlich das Gegenteil“, berichtet Anna profil.

Olga* ist eine der Frauen, die zu einem Schwangerschaftsabbruch nach Wien kam und von Anna betreut wurde. Zum Zeitpunkt ihrer ungewollten Schwangerschaft war sie bereits zehn Jahre mit ihrem Mann verheiratet und Mutter zweier Kinder. „Vor dem positiven Schwangerschaftstest trafen mich mehrere Schicksalsschläge hintereinander. Ich verlor meine Arbeit, bekam die Diagnose einer Autoimmunerkrankung und wir mussten aus unserer Wohnung ausziehen. Mein Mann und ich stritten andauernd und dachten über eine Trennung oder Paartherapie nach“, erzählt die Polin.

„Als ich den positiven Schwangerschaftstest in meiner Hand hielt, habe ich nur mehr geweint. Ich habe mir eine Badewanne mit fast kochendem Wasser eingelassen und mehrere Aspirin-Tabletten geschluckt. So wollte ich die Schwangerschaft abbrechen“, berichtet Olga.

Gemeinsam mit Olgas Ehemann suchte die Polin nach Alternativen – sie stießen auf die Gynmed-Klinik in Wien. Dort lernte sie Anna kennen, die mit ihr das Beratungsgespräch auf Polnisch führte und sie zum Eingriff begleitete. Nach Olgas Abtreibung sind nun einige Jahre vergangen. Sie bereut ihre Entscheidung nach wie vor nicht. 

Olgas Geschichte ähnelt der von vielen Polinnen. Durch eine Gesetzesänderung vor drei Jahren wurde die Möglichkeit für Schwangerschaftsabbrüche weiter eingeschränkt. Deshalb zieht es immer mehr Frauen aus Polen nach Wien.

Ich habe mir eine Badewanne mit fast kochendem Wasser eingelassen und mehrere Aspirin-Tabletten geschluckt. So wollte ich die Schwangerschaft abbrechen

Die Polin Olga

über die Reaktion auf ihre Schwangerschaft. Sie kam kurze Zeit später in die Abtreibungsklinik am Mariahilfer Gürtel.

Drei Jahre Haft

Ganz ungefährlich war Olgas Reise jedoch nicht. Menschen, die Schwangeren dabei helfen, abzutreiben, droht laut polnischem Gesetz eine Haftstrafe von bis zu drei Jahren. „Das ist reine Panikmache. Prinzipiell machen sich damit alle strafbar, die die Frau bei ihrem Abbruch unterstützen. Das könnte ihr Mann sein, der zu uns nach Wien telefoniert, ich, die übersetzt und berät, oder die Freundin, die ihr dabei hilft, ein Hotel in Wien zu finden”, erklärt Anna. 

Abtreibung für Polinnen nur schwer leistbar

Eine Abtreibung in Österreich kostet bis zur 10. Schwangerschaftswoche 560 Euro, von der 10. bis zur 14. Schwangerschaftswoche 600 Euro. 

Das durchschnittliche Nettogehalt in Polen liegt bei zirka 1000 Euro monatlich – genauso viel soll laut dem polnisch-österreichischen Kollektiv „Ciocia Wienia“ eine Abtreibung für polnische Schwangere inklusive Anreise und Unterkunft kosten – das sei für viele Polinnen nur schwer leistbar. Die Teuerung verschärft die Situation zusätzlich: Innerhalb des letzten Jahres haben sich in Polen die Lebensmittelpreise fast verdoppelt, die Inflationsrate lag im Mai 2023 bei 12,5 Prozent.

„Ciocia Wienia“ steht für Tante Wienia ­– der Spitzname des polnischen Frauennamens „Wieslawa” wurde gewählt, weil er eine Ähnlichkeit zur österreichischen Bundeshauptstadt hat.

Das Kollektiv wurde im Sommer 2020 gegründet und soll Menschen aus Polen dabei helfen, sicher in Wien abzutreiben. Seitdem Anna nicht mehr in der Gynmed-Klinik arbeitet, sind die polnischen Tanten – wie sie sich nennen – die neue Ansprechpersonen für Schwangere. Das Kollektiv besteht aus sieben fixen Mitgliedern, „Ciocia Wienia” informiert ungewollt Schwangere über Möglichkeiten telefonisch oder via Mail, unterstützt sie finanziell und begleitet sie teilweise bis zum OP-Saal. Über 200 Personen haben die Mitglieder von „Ciocia Wienia” bereits zu ihrer Abtreibung begleitet. Rund zwei Drittel der Schwangeren, die mit Hilfe von „Ciocia Wienia“ den Schwangerschaftsabbruch durchführen, können die Abtreibung nicht alleine bezahlen.

„Wir sind oft die letzte Chance auf eine spontane Abtreibung“, erzählt eine der Volontärinnen im Gespräch mit profil. Obwohl man in Polens Nachbarland Deutschland laut dem Gesetz zwar auch bis zur 14. Woche abtreiben kann, suchen Polinnen bevorzugt Österreich auf, da es in Deutschland ein verpflichtendes Vorgespräch mit einem Sozialarbeiter braucht und das zusätzlichen Zeitaufwand und damit Kosten bedeutet. Auch in der Slowakei und Tschechien können Polinnen prinzipiell abtreiben – in den beiden Ländern sind Schwangerschaftsabbrüche jedoch nur bis zur 12. Woche erlaubt, „Ciocia Wienia” berichtete im Gespräch mit profil außerdem, dass einige Schwangere, die zuvor in Tschechien abtreiben wollten, abgezockt wurden oder wirkungslose Abtreibungspillen bekamen.

Papst erkämpfte erste Verschärfungen

Bis in die frühen Neunziger waren Schwangerschaftsabbrüche in Polen legal und wurden von der Krankenkasse bezahlt – allerdings nur, wenn gewisse Parameter erfüllt waren: schwierige Lebenslage, gesundheitliche Gefährdung der Schwangeren und des Fötus. Der bereits verstorbene polnische Papst Johannes Paul II. machte Anfang der 1990er-Jahre Druck auf die damalige Regierung seines Heimatlandes und forderte ein komplettes Verbot für Schwangerschaftsabbrüche. Die Regierung konnte sich 1993 mit dem Geistlichen schließlich auf einen „Kompromiss“ einigen: Polnischen Frauen war es ab diesem Zeitpunkt möglich, in drei Ausnahmefällen abzutreiben: Wenn ihr eigenes Leben in Gefahr, der Fötus nicht überlebensfähig oder die Schwangerschaft das Ergebnis einer Straftat – etwa einer Vergewaltigung – war.

Das umstrittene Gesetz zählte zu einem der restriktivsten in Europa – bis sich Polen selbst übertraf und die rechte PiS-Regierung im Herbst 2020 eine weitere Verschärfung beschloss. Schwangeren wird seitdem, auch wenn der Fötus nicht überlebensfähig ist, verboten, abzutreiben. Die Gesetzesänderung sorgte 2020 für heftige Proteste auf der ganzen Welt. Jedoch ohne Erfolg  – das umstrittene Gesetz wurde trotzdem umgesetzt.

Sechster Todesfall 

Mitte Mai starb die 33-jährige Dorota aus der Kleinstadt Nowy Targ im Süden Polens. Sie war in der 20. Woche schwanger, als ihre Fruchtblase plötzlich platzte. Dorota suchte ein Krankenhaus in ihrer Stadt auf, Ärzte stellten fest: Ihr Fötus war nicht überlebensfähig – sie brauchte einen dringenden Schwangerschaftsabbruch. Doch das medizinische Personal weigerte sich, abzutreiben, Dorota wurde im Spital drei Tage lang nicht behandelt, bis sie schließlich einer Sepsis erlag. Das ist seit der Verschärfung der Gesetze der sechste Tod einer Schwangeren, der eine Abtreibung verwehrt wurde.

„Abtreibungen lösen Probleme”

Anna hat vor einem Jahr in der Gynmed-Klinik gekündigt – Der Grund für ihren Jobwechsel war vor allem ihre psychische Gesundheit: „Es war mittlerweile einfach nur frustrierend. Ich habe Tausende Frauen betreut, sie alle teilten dasselbe Schicksal – sie lebten in Polen. Solange sich dort nichts ändert, werden Schwangere weiterhin zu uns kommen müssen. Mit vielen ehemaligen Patientinnen ist sie aber selbst nach ihrer Kündigung bis heute in engem Kontakt. „Es herrscht das Narrativ, dass Abtreibungen das Problem wären. Dem ist aber nicht so. Abtreibungen lösen Probleme, die durch die Politik verursacht werden.“ – Mit den Problemen meint die 46-Jährige etwa den fehlenden Sexualunterricht auf polnischen Schulen, oder die wirtschaftliche Lage in dem Land. 

Boomender Schwarzmarkt

Die Reise ins Ausland ist jedoch nicht die einzige Option für Polinnen – seit der Verschärfung des Gesetzes 1993 boomt der Schwarzmarkt für Abtreibungspillen. Ungewollt Schwangere bestellen über suspekte Internetseiten Medikamente, die die Schwangerschaft abbrechen sollen. Gynäkologe Christian Fiala warnte im Gespräch mit profil jedoch davor: „Viele Betrüger nutzen die Verzweiflung gerne aus. Sie schicken den Frauen Pillen, die gar nicht wirken und kassieren das Geld ein.“ Mittlerweile könne man sich auf Websites von gemeinnützigen Organisationen wie womenonweb.org informieren.

Trotz offiziellem Verbots warben selbst polnische Zeitungen für Abtreibungen

Hier erkennt man, wie in Polen trotz strengem Verbots für Schwangerschaftsabbrüche geworben wurde. Mit Codebegriffen wie "Aaaantykonepcja" (Deutsch: "Vvvvvvverhütung") oder "Menstruationsauslösung" warben Gynäkologen, Aktivisten aber auch Betrüger bereits 2007 für Abtreibungen. Das Bild zeigt die Kleinanzeigen der Warschauer Zeitung "Gazeta" aus dem Jahre 2007. 

Österreichische „Fristenlösungen“

Obwohl Frauen in Österreich im Vergleich zu Polinnen leichter eine Abtreibung durchführen lassen können, wird die „Fristenlösung“ seit Jahren kritisiert. Eine Schwangerschaft abzubrechen, ist laut Gesetz nämlich nicht legal, sondern lediglich unter gewissen Voraussetzungen straffrei. Außerdem werden Abtreibungen hierzulande nicht von der Versicherung übernommen. Auch Österreicherinnen sehen sich mittlerweile dazu gezwungen, weit für ihren Schwangerschaftsabbruch zu reisen – in Vorarlberg und im Burgenland gibt es keine Möglichkeit mehr, abzutreiben. In Wien wird das Angebot auch immer schmaler, seitdem das pro:woman-Ambulatorium in der Innenstadt im April schließen musste.

Egal, ob Österreich oder Polen: Schwangerschaftsabbrüche sind und bleiben tabuisiert. Dabei wird laut der WHO weltweit rund jede 5. Schwangerschaft abgebrochen. „Nur weil Abtreibungen verboten werden, heißt das nicht, dass weniger Frauen sie machen werden. Schwangere werden durch restriktive Gesetze dazu gezwungen, ohne medizinische Aufsicht oder in anderen Ländern abzutreiben und das ist ein großes Problem“, warnt Ex-Beraterin Anna.

Diesen Herbst wird in Polen ein neues Parlament gewählt. Vor allem junge Menschen hoffen, dass eine neue Regierung Veränderung bringt – und die Gesetze ändern wird. 

*Die Namen der Frauen sind der Redaktion bekannt und wurden auf deren Wunsch geändert, um sie vor allfälligen Strafen in Polen zu schützen

Natalia Anders

Natalia Anders

ist Teil des Online-Ressorts und für Social Media zuständig.