Kinder beim Volkstanz um die Menorah vor dem Hauptbahnhof

Russland: Die letzten Juden von Birobidschan

Im fernsten Osten Russlands ließ Josef Stalin im Jahr 1934 einen Landstreifen zur Jüdischen Autonomen Region erklären. Heute kämpft die dortige Glaubensgemeinde um die Erinnerung an ihre Geschichte - und um das Überleben.

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"Versteht ihr Jiddisch?“, ruft Kantor Shmuel Barzilai in den großen Saal des Kulturpalasts von Birobidschan. Stille legt sich über den Raum. Der Obersänger der jüdischen Gemeinde in Wien schaut sich suchend um. Unten sitzen die letzten Juden der Stadt im fernsten Osten Russlands auf leicht abgenutzten, rost-roten Sitzen. Auch die beiden russisch-orthodoxen Priester, die als Ehrengäste zum Konzert gekommen sind, blicken unter ihren hohen schwarzen Zylinderhüten verständnislos auf die Bühne. Da erhebt sich eine Stimme: "Ich!“, ruft eine Frau, "ich versteh dich!“

Jiddisch wird in Birobidschan und Umland nicht mehr oft gesprochen. Dabei sollte hier einmal eine Art Staat für die Juden in der Sowjetunion entstehen - im fernsten Osten Russlands, hinter Sibirien und hart an der Grenze zu China. Im Jahr 1934 wurde die "Evreiskaja avtonomnaja Oblast“ von Josef Stalin geschaffen. In ihrer Hochphase lebten in dem Landstrich rund 30.000 Juden. Es wurde eines der absurdesten und traurigsten Kapitel der Sowjetgeschichte. Heute ist von der Utopie nur ein postsowjetisch-neorussisches Disneyland der jüdischen Nation geblieben.

Vor dem Bahnhof von Birobidschan steht eine riesige Menorah, der siebenarmige Leuchter, um den Kinder zu jüdischen Volksweisen wie um einen Maibaum herumtanzen. Manche von ihnen sind als Schtetl-Juden verkleidet, sie sehen aus wie kleine Tevjes, so heißt der Milchmann aus dem Broadway-Musical "Anatevka“ aus den 1960er-Jahren. Andere kombinieren ihre Kostümierung als biblische oder russische Figuren auf wunderliche Art und Weise mit Luftballons.

Ihr Auftritt ist Teil der Feierlichkeiten zum 80. Jubiläum der Erhebung von Birobidschan zur Stadt, für die der Gouverneur der Region, Alexander Levintal, keine Kosten gescheut hat. Die Choreografie ist gespenstisch präzise, man spürt den Eifer einer russischen Tanzlehrerin. Im richtigen Schtetl hätte es diese Perfektion wohl nicht gegeben. Doch die jüdische Folklore ist längst das Markenzeichen der Stadt geworden - ohne sie gäbe es schließlich außer Gelsen in den umliegenden Sümpfen nur wenig.

Unbeirrter Stalin

Als Stalin die Idee kam, den Juden ihre eigene Region zu geben, fiel die Wahl wohl nicht ganz zufällig auf diesen verlassenen Ort. Vielleicht wollte der sowjetische Diktator sie einfach loswerden. Oder sie als Puffer zu den Chinesen verwenden. Jedenfalls tat die offizielle sowjetische Prüfkommission Anfang der 1930er-Jahre ihr Bestes, den Auftraggeber von seinem irrwitzigen Plan abzubringen: Das Sumpfland an der Grenze zu China sei für die Landwirtschaft ungeeignet, der Winter dauere von Oktober bis Mai, in den verbleibenden kurzen, heißen Sommermonaten würden Mensch und Tier von Moskitoschwärmen gepeinigt.

Unbeirrt ließ Stalin 1934 zwischen den Flüssen Biro und Bidschan die Autonome Region gründen. Auch der jüdische Schriftsteller David Bergelson unterstützte das Unterfangen: Er hatte den Aufstieg Hitlers in Deutschland erlebt und war in die Sowjetunion zurückgekehrt, obwohl er wusste, dass dort längst Repressionen begonnen hatten. Birobidschan schien ihm die beste aller schlechten Überlebenschancen.

Die Ärmsten und am meisten Verfolgten machten sich bereits ab 1928 auf die beschwerliche Reise in den Fernen Osten, sie waren die ersten jüdischen Siedler. In der Nähe von Birobidschan gründeten sie eine erste Kolchose, die sie "Waldheim“ tauften. Der Kampf gegen das raue Klima schien aussichtslos, die Ernte drohte in vielen Jahren zu erfrieren, weggeschwemmt zu werden oder zu verdorren.

"Sie haben Unmenschliches geleistet“, erzählt Vera Ivanova, die Direktorin des Museums der Kolchose Waldheim. Sie zeigt mit einem langen, durchsichtigen Plastikstock auf ein Foto aus dem Jahr 1932, das in einer Vitrine hängt. Darauf ist das Gesicht einer Frau mit tiefster Erschöpfung und Verzweiflung in den Augen zu sehen.

Die Direktorin, deren Familie in den 1950er-Jahren aus der Ukraine nach Birobidschan kam, ist selbst keine Jüdin - wie alle, die noch heute im Dorf Waldheim leben. 2000 Russen arbeiten hier in der Landwirtschaft, die im Wesentlichen aus dem Anbau von Wassermelonen besteht. Vor der neuen Schule spielen die Burschen Fußball, die Mädchen trainieren Sprint.

In der Stadt Birobidschan dagegen kämpft eine kleine jüdische Gemeinde ums Weiterleben. 75.000 Einwohner zählt die Metropole der Jüdischen Autonomen Region, nur etwa 2000 von ihnen sind Juden. "Vielleicht sind es auch 3000“, sagt Rabbiner Eli Riss und rudert mit den Armen, als könnte er noch ein paar Gläubige einfangen.

Rabbiner Eli Riss vor dem neuen Gebetshaus der Stadt

Der junge Rabbi ist in Birobidschan geboren. Seine Familie war Anfang der 1990er-Jahre nach Israel ausgewandert, einige Zeit später aber wieder zurückgekehrt. Jetzt versucht Riss mit den Mitteln der Chabad-Lubawitscher, einer missionarischen Strömung des ultraorthodoxen Judentums, die jüdische Gemeinde vor dem Aussterben zu bewahren. Er steht am Vorplatz der 2004 gebauten Synagoge und strahlt fast fieberhafte Fröhlichkeit aus. Das ist Teil des Chabad-Konzepts. Auch auf dem Gartenhäuschen steht "Frejd“, jiddisch für "Freude“. Das jüdische Restaurant "Simcha“ - Hebräisch für "Glück“ - hat gerade den Birobidschaner Wettbewerb um das größte Schnitzel der Stadt gewonnen.

Auf dem schwarzen Gartenzaun davor sind etwas aufdringlich weiße Menorahs abgebildet. In Russland, wo immer ein gewisser Antisemitismus gepflegt wurde, ist diese Demonstration jüdischen Selbstbewusstseins eine Ausnahme. Der siebenarmige Leuchter findet sich als Sujet auch auf den alten metallenen Gittern aus den 1930er-Jahren vor den vielen gepflegten Blumenrabatten der Stadt. Die Straßenschilder sind alle doppelsprachig, in Russisch und in Jiddisch mit hebräischen Buchstaben.

Die Synagoge gibt ihre Adresse offiziell mit Scholem-Alejchem-Gasse 14 an. Der Haupteingang aber liegt auf der Lenin-Straße. Der große jiddische Dichter Alejchem, der im 19. Jahrhunderte noch für Millionen jiddisch sprechender Juden in Osteuropa schrieb, ist der jüdischen Gemeinde eben näher als Wladimir Lenin, der Gründer der Sowjetunion.

Entweder Russe oder Jude

Lenin ist auch 100 Jahre nach der Russischen Revolution von 1917 und knapp drei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion noch sehr präsent. Seine Statue steht auf den Plätzen der Russischen Föderation, auch in Birobidschan. Dabei hätte dem überzeugten Internationalisten der Nationalismus in der Jüdischen Autonomen Region, die sein Nachfolger Stalin einrichten ließ, wohl missfallen. Auch mit der Religion war es für die Juden unter Lenin wie unter Stalin und auch der späteren Sowjetunion nicht einfach: Als die "Evreiskaja Oblast“ 1934 eingerichtet wurde, waren Religionen generell verboten. Im ganzen Gebiet gab es daher keine Synagoge. Jiddisch war zwar erlaubt - in den 1930er-Jahren wurden in Moskau und Birobidschan jiddische Bücher gedruckt. Doch die Sowjets deklarierten die Juden als Nation, so wie die deutsche Minderheit oder die Krimtataren. Bis heute steht in russischen Pässen unter "Nationalität“ entweder Russe oder Jude. Beides geht nicht.

Im Jahr 1937 aber erreichte der politische Terror des immer paranoider werdenden Stalins auch den Fernen Osten. Die erste Führung von Birobidschan wurde verhaftet und verschwand im Gulag. Als die Nazis den Ostfeldzug begannen, flohen Juden aus der Ukraine und anderen osteuropäischen Ländern vor der vorrückenden Wehrmacht hierher. Nach Kriegsende folgten jene, die den Holocaust überlebt hatten.

"Meine Großmutter kehrte nach dem Krieg in ihr Dorf in der Ukraine zurück“, erzählt Svetlana Rul. Die stämmige Geschäftsfrau steht im eleganten blitzblauen Kleid in der alten Synagoge von Birobidschan: "Als sie zu ihrem Haus kam, wohnten dort andere Leute. Sie sagten: Das ist jetzt unser Haus.“ Deshalb machte sich Ruls Großmutter auf nach Birobidschan: "Es gab keinen anderen Ort, an den sie gehen konnte.“

In Erinnerung an ihre Familiengeschichte engagiert sich Rul heute für den Erhalt der alten Synagoge, die aussieht wie eine Datscha und 1947 als erstes Gebetshaus der Region eröffnet wurde. Die Thorarolle sperrt man heute aus Sicherheitsgründen lieber in einen Tresor. Der wiederum ist in einer Anrichte untergebracht. An der Decke strahlt ein Davidsstern aus Neonröhren, der in verschiedenen Farben leuchten kann. Ob diese Discolampe mehr junge Leute anzieht? Valeria Bulkina, die Witwe des letzten Rabbiners, seufzt tief: "Wir haben nicht einmal mehr genug Männer für ein Minjan.“ So nennen sie den Gottesdienst nach jüdisch-orthodoxem Ritual, für den man den Geboten zufolge zehn männliche Beter braucht. Die Synagogen-Datscha gleicht einem Museum - aber zumindest darf sie heute geöffnet sein.

Die  alte Synagoge von Birobidschan

Sie war nur ein Jahr in Betrieb, bevor sie wieder geschlossen wurde. Im Jahr 1948 startete Josef Stalin eine Kampagne gegen "wurzellose Kosmopoliten“ - damit gemeint waren die Juden. In Moskau wurden jüdische Ärzte und Intellektuelle verhaftet. Dem Schriftsteller David Bergelson wurde mit anderen Dichtern der Prozess wegen antisowjetischem, jüdischem Nationalismus gemacht. Zum Verhängnis wurde dem alten Poeten unter anderem sein Aufruf, nach Birobidschan zu ziehen. Deswegen wurde Bergelson 1952 zu Tode verurteilt und erschossen.

Nur fünf Jahre nach dem Ende des Holocaust brannten nun in der Sowjetunion jüdische Bücher. Bergelsons Werke wurden 1950 im Hof der Bibliothek von Birobidschan abgefackelt. Danach versteckten die Juden ihren Glauben, ihre Identität und ihre Sprache so gut es ging. In der alten Synagoge zeigt Valeria Bulkina ein altes Buch mit dem Titel "Der astronomische Kalender“. Unter dem Deckel verbirgt sich eine Thora: "So gingen die Gläubigen durch die Stadt, um sich heimlich zu einem Gottesdienst zu treffen.“

Wer konnte, wanderte in den 1970er-Jahren über Wien in die USA aus. Als der Sowjetkommunismus zusammenbrach, verließen die meisten verbliebenen Juden die Autonome Region Richtung Israel. Ob die russischen Juden dort heute glücklich werden, bezweifelt zumindest Rostislav Goldstein, Senator in der oberen Kammer des russischen Parlaments: "Hier bei uns in Birobidschan ist es doch ruhiger und sicherer als in Israel. Hier gibt es keine Araber, die auf den Straßen herumschießen.“

Für Goldstein ist Russland Heimat und der Führer des Landes ein Held. In jedem zweiten Satz erwähnt er ehrfürchtig den russischen Präsidenten Wladimir Putin, den er mit Vor- und Vatersnamen anspricht: "Wladimir Wladimirowitsch legt großen Wert darauf, unsere Region zu fördern“, sagt er. Aber nicht nur deshalb habe Birobidschan Zukunft, sondern auch wegen seiner geografischen Lage an der chinesischen Grenze: "Der Handel wächst jedes Jahr, das ist eine riesige Chance.“

China profitiert vom Grenzhandel

Vorerst profitiert vor allem das Nachbarland vom Grenzhandel. Am Markt der Stadt verkaufen zwar russische Babuschkas Beeren und Honig, die meisten Stände aber sind im Besitz chinesischer Geschäftsleute. Birobidschan hingegen hat nicht viel für den Export zu bieten.

Auf Dauer wird Chinesisch wohl Jiddisch als Zweitsprache verdrängen. An der Universität wird die alte Sprache schon nicht mehr unterrichtet, in der Schule Nr. 23 wird der jiddische Zweig vornehmlich von russischen Mädchen besucht, weil es kaum jüdische Schülerinnen gibt.

Selbst die Lokalzeitung "Birobidschaner Stern“ wird heute von einer Nichtjüdin geleitet. Vielleicht war es wegen ihres damaligen, jüdischen Ehemannes, vielleicht empfindet sie das Jiddische als Teil ihrer Identität als Birobidschanerin. Jedenfalls studierte Elena Sarashevskaya in den 1990er-Jahren Jiddisch an der Uni, begann 1999 als Übersetzerin bei der Zeitung und übernahm die Chefredaktion, als der letzte jüdische Journalist das Handtuch warf. Die tatkräftige Frau übersetzt jede Woche zwei Seiten der sonst russischen Zeitung ins Jiddische. Gedruckt werden nur noch 1000 Exemplare, aber die Website erfeue sich regen Zulaufs, sagt Sarashevskaya. Es ärgert sie ganz offensichtlich, wenn so getan wird, als sei ihre Stadt nur noch ein Museum: "Immerhin sind wir doch da!“

Aus Birobidschan, das dem moskitoverseuchten Sumpfland abgetrotzt wurde und Stalin überlebt hat, ist eine beschauliche Kleinstadt geworden. Am Platz vor dem Kaufhaus Tsum tanzen am frühen Abend dieses lauen Septembertags die Kinder der Stadt zu "Bei mir bistu schejn“. Den Text des jiddischen Liedes kennen alle, vor allem die Mädchen singen laut mit, während sie ihre Hüften schwingen und ihre Kopftücher festhalten, an denen der Spätsommerwind zieht.

Es gibt zwar nicht mehr viele Juden hier. Doch auch die nichtjüdischen Birobidschaner halten die Menorah hoch. Das ist, gemessen an der großen Grausamkeit der sowjetischen Geschichte, zumindest ein kleine, ironische Pointe.

Tessa   Szyszkowitz

Tessa Szyszkowitz