Interview

Russland-Ukraine-Konflikt: „Der Hauptkampf wird nicht im Donbass stattfinden“

Der Militärexperte Franz-Stefan Gady beurteilt die Lage nach der Ankündigung von Präsident Putin, Truppen in die Ostukraine zu entsenden.

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profil: Russlands Präsident Wladimir Putin hat gestern angekündigt, Truppen in die nicht anerkannten und von Russland kontrollierten Volksrepubliken Luhansk und Donezk zu entsenden. Welcher militärische Plan steckt dahinter?
Franz-Stefan Gady: Ich schicke voraus: Wir können immer nur einen Teil dessen wissen, was vor Ort tatsächlich militärisch passiert. Die russische Armeeführung verschleiert natürlich die Schwerpunktbildung ihrer Streitkräfte. Sicher ist, es handelt sich um relativ schwache Teile der regulären russischen Armee, die im Donbass einmarschieren.
 
profil: Warum nur schwache?
Gady: Das deutet darauf hin, dass, wenn es tatsächlich zu einer militärischen Eskalation kommt, die militärischen Operationen nicht auf das Donbass-Gebiet beschränkt blieben. Der Hauptkampf – wenn es dazu kommt – wird wahrscheinlich nicht im Donbass stattfinden.
profil: Sondern im Norden, wo jetzt schon der Großteil der russischen Truppen stationiert ist?
Gady: Ja. Entlang der weißrussisch-ukrainischen und der russisch-ukrainischen Grenzen, also nord-westlich des Flusses Dnjepr. Die Russen wollen Kämpfe im urbanen Raum vermeiden. Sie würden Kiew umzingeln und weiter vorstoßen, um zu verhindern, dass sich die ukrainischen Streitkräfte, die sich im Donbass an der sogenannten Kontaktlinie befinden, entlang des Dnjepr positionieren. Das ist aus heutiger Sicht das militärische Lagebild.
 
profil: Der Westen befürchtet dennoch, dass die russischen Streitkräfte, die jetzt in den Volksrepubliken Donezk und Luhansk stationiert werden, eine Invasion in weitere Teile dieses Gebietes beabsichtigen. Ist das anzunehmen?
Gady: Sie könnten natürlich von ihren derzeitigen Stellungen ausbrechen, zumal diese Volksrepubliken alleine auch schon über etwa 15.000 eigene Streitkräfte verfügen. Ich sehe darin aber keinen wirklichen militärischen Sinn. Es geht eher darum, im Falle einer großen Invasion von Norden flankierende Manöver von Osten her durchzuführen und den ukrainischen Gegner flankierend aufzurollen und einzukesseln.
 
profil: Wie würde diese große Invasion in den ersten Tagen aussehen?
Gady: Die russische Armee verfügt – im Gegensatz zu westlichen Streitkräften – über besonders große Feuerkraft am Boden: Mehrfachraketenwerfer, ballistische Raketen, weitreichende Artillerie… In den ersten Tagen würden wir im Falle eines Vormarsches mehrere tausend Verwundete und Tote sehen. Diesen Kampf können die Ukrainer nicht gewinnen, sie können den Russen aber große Verluste zufügen. Dabei ist eines wichtig: Der oft angestellte rein zahlenmäßige Vergleich von Truppenstärken sagt im Grunde gar nichts aus. Militäranalyse ist viel komplexer. Außerdem muss man mit Prognosen auch deshalb vorsichtig sein, weil sich, wenn einmal der erste Schuss fällt, eine nicht absehbare Dynamik entwickelt. Wie Graf von Moltke einst meinte: „Kein Plan überlebt die erste Feindberührung.“!
 
profil: Könnten die russischen Streitkräfte von Donezk und Luhansk aus kleinere Angriffe starten?
Gady: Meiner Meinung nach werden sie allein nicht offensiv tätig werden. Ich sehe sie als Teil einer größeren militärischen Operation.
profil: Auch nicht auf kleinem Niveau?
Gady: Kleinere Scharmützel können stattfinden. Ein Frontalangriff, der versuchen würde, die Front aufzurollen, würde jedoch nach meiner Analyse nur mit Unterstützung der Truppen stattfinden, die entlang der nördlichen Grenzen der Ukraine stationiert sind in einer Art Zangenbewegung. Aber das ist wie gesagt eine rein militärische Analyse. Politische Motive können dazu führen, dass es anders kommt. In jedem Fall wäre eine groß angelegte Invasion auch für Russland eine neue Erfahrung.
 
profil: Inwiefern?
Gady: Eine solch komplexe Bodeninvasion solchen Ausmaßes haben die russischen Streitkräfte seit Jahrzehnten nicht mehr durchgeführt. Vor allem die Luftwaffe ist in der Bekämpfung von modernen Luftabwehrsystemen unerfahren. Der sogenannte Kampf der verbundenen Waffen ist die militärische Königsdisziplin. Hier hat Russland wenig Erfahrung.   Zuletzt traten die Russen in einem konventionellen Krieg 2008 gegen Georgien an. Da erwiesen sie sich im taktischen Bereich als überraschend schwach. Seither wurden die russischen Streitkräfte reformiert.
 
profil: Was kann man über die Kampfmoral der Ukraine sagen?
Gady: Aus der Ferne wenig. Es ist ein enorm wichtiger Faktor für den Ablauf der Kämpfe. Die Kampfmoral steht gegenüber den physischen Faktoren bei militärischen Operationen im Verhältnis 3 zu 1. Die ukrainischen Streitkräfte des Jahres 2022 haben gegenüber denen von 2014 enorm an Kampfkraft gewonnen. Sie haben einzelne, gut trainierte Einheiten, aber letztlich zu wenige. Die Eliteeinheiten würden in einem Krieg früher oder später zerschlagen und könnten nicht rasch genug neu aufgestellt werden. Das Hauptproblem der ukrainischen Armee ist, dass sie sich gerade in einer massiven Strukturreform befindet. Sie steht da wie ein halbfertiges Haus, bei dem noch das Dach fehlt – und jetzt kommt der Sturm.

 

Zur Person

Der Österreicher Franz-Stefan Gady (39) ist Analyst auf dem Gebiet militärischer Kriegsführung und internationaler Sicherheit am Institute for International Strategic Studies in London.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur