Russland: Wie Moskau sich unliebsamer Kritiker entledigt

Der Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexei Nawalny reiht sich in eine lange Liste von Anschlägen auf Kremlkritiker ein. Steckt Präsident Putin dahinter?

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War es das Insektizid E605? Oder ein Nervengift namens Sarin? Vielleicht kam auch Novitschok zum Einsatz, ein Nervengift, das in russischen Labors entwickelt wurde. Bis Ende vergangener Woche wussten die Ärzte im Berliner Krankenhaus Charité nicht genau, womit Alexei Nawalny vergiftet wurde. Gesichert ist vorerst nur, dass der 44-jährige russische Oppositionelle nicht-wie von russischen Ärzten anfangs behauptet-wegen niedrigen Blutzuckers am 20. August auf dem Flug von Tomsk nach Moskau zusammengebrochen war. Nawalny, so vermuten die deutschen Ärzte der Charité, wurde mit einem Organophosphat vergiftet, zu dessen Stoffgruppe alle oben genannten Giftstoffe zählen.

In diesem Sommer 2020 fühlen sich manche an den Sommer von 1978 erinnert. Damals wurde dem bulgarischen Schriftsteller und Dissidenten Georgi Markow in London mit einer Regenschirmspitze ins Bein gestochen. Das Pflanzengift Rizin breitete sich in seinem Körper aus, sein Blutdruck geriet außer Kontrolle. Vier Tage später war Markow tot. Die "Operation Piccadilly",eine nie restlos aufgeklärte Kooperation zwischen dem bulgarischen Geheimdienst und dem russischen KGB, war gelungen.

Der Kalte Krieg scheint längst nicht vorbei zu sein. Selbst in Berlin, wo man mit Kritik an Russlands Langzeitpräsident Wladimir Putin sonst eher sparsam umgeht, ist das Entsetzen über den Giftanschlag auf Alexei Nawalny groß. "Die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden",fordert Bundeskanzlerin Angela Merkel. Manfred Weber, EVP-Fraktionschef im EU-Parlament, wird noch deutlicher: "Unter Druck ist Putin zu vielem fähig, auch zum Töten von Menschen."

Erinnerungen an Fall Litwinenko

Bisher allerdings besteht noch nicht einmal Klarheit darüber, was genau Alexei Nawalny in den Tee gemischt wurde. "Sobald feststeht, welches Gift es war, wissen wir auch, wo der Auftraggeber sitzt", sagt Marina Litwinenko im profil-Interview: "Denn je schwieriger das Gift zu bekommen ist, umso höher hinauf in die russische Machtstruktur müssen wir schauen."

Sie weiß, wovon sie spricht. Am 1. November 2006 brach ihr Mann Alexander Litwinenko in ihrer Londoner Wohnung zusammen. Wenige Stunden zuvor hatte er mit zwei ehemaligen Arbeitskollegen vom russischen Geheimdienst eine Kanne Tee in der Bar des "Millennium Hotel" in Mayfair genossen. Er starb nach drei qualvollen Wochen, in denen das radioaktive Gift Polonium-210 seinen Körper zerfraß.

Andrei Lugavoi, mit dem sich Litwinenko zum Tee getroffen hatte, kehrte damals ungehindert nach Russland zurück. Er wurde nicht, wie von den britischen Behörden gefordert, wegen Mordverdachts nach Großbritannien ausgeliefert. Stattdessen zog der ehemalige Geheimdienstmann und Bodyguard auf der Parteiliste der kremlfreundlichen Liberaldemokraten 2007 in die Duma, das russische Parlament, ein, und genießt seitdem Immunität.

Die Giftanschläge sind nicht das Einzige, was den russischen Oppositionellen Alexei Nawalny und den ehemaligen Geheimdienst-Offizier Alexander Litwinenko verbindet. Beide haben den Mann, der Russland seit 20 Jahren nahezu unumschränkt regiert, immer wieder scharf kritisiert: Wladimir Putin. Die Namen Nawalny und Litwinenko stehen auf einer langen Liste von Giftopfern, die sich allesamt mit dem Kremlchef angelegt hatten.

Zorn gegen unliebsame ehemalige Mitarbeiter

Bevor Putin 1999 zum Premierminister und im Jahr darauf zum Präsidenten der Russischen Föderation aufstieg, verwaltete er das Erbe des KGB in der Nachfolgeorganisation FSB. Sein Zorn scheint sich im Besonderen gegen ehemalige Mitarbeiter zu richten, die wie Litwinenko die Seiten wechselten und westliche Geheimdienste mit Informationen über den ehemaligen Dienstgeber versorgten.

"Verräter müssen bestraft werden", sagte Wladimir Putin 2019 in einem Interview mit der "Financial Times".Im Jahr zuvor war im englischen Salisbury ein Giftanschlag auf Sergei Skripal und dessen Tochter Julia verübt worden. Skripal war als Doppelagent enttarnt und 2010 auf dem Wiener Flughafen Schwechat gegen in den USA festgehaltene russische Agenten ausgetauscht worden. Der heute 69-jährige Skripal lebte zurückgezogen in England, war aber noch immer für den britischen Geheimdienst aktiv. Vater und Tochter überlebten den Anschlag knapp.

Doch Putins Zorn trifft keineswegs nur Spione, wie Nawalnys Schicksal beweist. Seit einigen Jahren gelten in Russland tätige NGOs und Medien laut Gesetz als "Agenten",wenn sie aus dem Ausland finanziert werden. Die Kriterien dafür, wer in Putins Augen ein Verräter ist, dürften sich verlagert haben. Heute trifft es nicht nur ehemalige Kollegen aus dem Geheimdienst, sondern auch Oppositionelle, Bürgerrechtler und Journalisten.

Nawalny hat bereits eine Vielzahl von Repressionen erlitten. Oft bedroht die "Vlast" (Macht),wie die Russen ihre Machthaber salopp nennen, unliebsame Kritiker mit bürokratischen Schikanen und physischen Angriffen. Als der Kreml Nawalnys aufrührerisches Potenzial während der Massenproteste 2011 erkannte, häuften sich die Angriffe. 2017 wurde Nawalny antiseptische grüne Farbe ins Gesicht gespritzt, was zwar schmerzte, den Oppositionellen aber nicht aufhielt. Verhaftungen und Schikanen waren für den Aktivisten im Lauf der Jahre Teil seines Alltags geworden.

Im Juli musste er seine Antikorruptionsstiftung (das russische Akronym lautet FBK) auflösen. Ein Moskauer Gericht hatte Nawalny und seine Mitarbeiter dazu verurteilt, umgerechnet eine Million Euro Schadensersatz an die Firma Moskovsky Schkolnik zu zahlen, die Schulkinder in Moskau mit Essen versorgt. Nach Nawalnys Recherchen hatte das Unternehmen ein Monopol auf Schulessen. Hygienestandards seien missachtet worden, über 100 Kinder schwer erkrankt.

"Putins Chef"

Jewgeni Prigoschin, der Chef von Moskovsky Schkolnik, höhnte vor einigen Tagen auf Twitter: "Sollte Genosse Nawalny abkratzen, werde ich die Schulden nicht eintreiben können." Doch wenn Nawalny überlebe, sei er dran. Prigoschin trägt den Spitznamen "Putins Chef", weil sein Catering-Unternehmen Konkord oft im Kreml aufkocht. Laut der Rechercheplattform Bellingcat finanziert er außerdem den privaten Söldnerdienst Wagner.

Da Alexej Nawalny sich jedoch weder mit Giftfarbe noch durch Verhaftungen und Verurteilungen einschüchtern ließ, bekam er nun mit dem Gifttee in Tomsk härtere Medizin verabreicht.

Ähnlich erging es 2004 auch Anna Politkovskaya. Die russisch-amerikanische Journalistin hatte von 1999 bis 2005 für die regierungskritische Zeitung "Nowaja Gazeta" über den zweiten Tschetschenienkrieg berichtet. Russische Soldaten bedrohten und verhafteten sie mehrmals; einmal unterzog man sie sogar einer Scheinexekution.

Im September 2004 wurde die Journalistin (übrigens kurz nach einem profil-Interview) im Flugzeug auf dem Weg in die nordossetische Stadt Beslan vergiftet. Dort hatten islamistische Terroristen am Tag zuvor eine Schule besetzt und sie als Verhandlerin angefordert. Doch Politkovskaya konnte nicht mehr eingreifen, weil sie ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Russische Spezialeinheiten stürmten Tage später die Schule. 333 Menschen starben, darunter 186 Kinder.

Politkovskaya wurde wieder gesund. Sie schrieb weiter Artikel über Gewalt gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung und die grassierende Korruption in Russland. Am 7. Oktober 2006 wurde Politkovskaya im Eingang ihres Wohnblocks erschossen. Dieser tödlichen Höchststrafe für Kremlkritiker wird Nawalny, wenn er überlebt, zwar entgehen, doch dass er nach Russland zurückkehren kann, ist unwahrscheinlich-selbst wenn er es wollte.

Dass niemand vor einer Exekution sicher ist, musste auch die Familie Nemtsow erfahren. In den 1990er-Jahren galt Boris Nemtsow als demokratische Hoffnung und liberaler Reformer. Der charismatische Moskauer verlor jedoch an Bedeutung, als Putins Aufstieg begann und dieser mit seinen Geheimdienstkollegen den russischen Machtapparat übernahm. Aber Nemtsow gab nicht auf. Er kandidierte für das liberale Oppositionsbündnis Solidarnost, verfasste Berichte über staatliche Korruption. Am 27. Februar 2015 wurde er in der Nähe des Roten Platzes erschossen.

Rigoroser Umgang mit kremlkritischer Opposition

Wladimir Putin, der selten Gefühlsregungen zeigt, wirkte damals durchaus betroffen über die Nachricht von Nemtsows Ermordung in Sichtweite des Kreml. Er schickte Nemtsows Mutter ein Telegramm, in dem er schwor, den Mord aufzuklären. 2017 wurden fünf tschetschenische Auftragskiller für die Tat verurteilt; ihr Auftraggeber jedoch blieb unbekannt.

Dass Putin Nemtsow ermorden ließ, kann keineswegs mit Sicherheit behauptet werden. Im Umgang mit der kremlkritischen Opposit

ion hat sich der Fokus der russischen Machthaber allerdings auffällig verschoben. Während die Opposition früher vorzugsweise mit juristischen Mitteln bekämpft wurde, endet die Auseinandersetzung heute schneller mit Giftmord oder Exekution.

Mikhail Chodorkowski, einst reichster Oligarch Russlands, wurde zu Beginn der Ära Putin 2003 verhaftet, seines Unternehmens Yukos beraubt und für zehn Jahre in ein sibirisches Straflager gesteckt. Er lebt heute in London und hilft mit seiner Stiftung Open Russia demokratischen Aktivisten in Russland und Osteuropa.

Der autoritäre Staat, den Putin mit einer gleichgeschalteten Justiz, einem Parlament auf Kremllinie und einer fast durchgehend regierungstreuen Medienlandschaft geschaffen hat, übt immer härtere Kontrolle auf Kremlkritiker aus. Die Strafen für Ungehorsam werden drastischer. Und die Anschläge wirken immer schlampiger geplant. Die beiden Attentäter von Sergei Skripal 2018 wurden von der Rechercheplattform Bellingcat bald als Agenten des russischen Militärgeheimdienstes GRU enttarnt. Will Putins Machtapparat damit zeigen, wie egal ihm sein Image im Westen ist? Oder sind die Schlampereien als Provokation gedacht, um die Spannungen weiter anzuheizen?

"Monopol auf politischen Mord verloren"

Denkbar ist auch, dass Russland den Herbst des Patriarchen erlebt und der oberste Kremlherr längst nicht mehr alles im Griff hat. "Die ungemütliche Wahrheit ist, dass der Staat unter Putin das Monopol auf politischen Mord verloren hat",schreibt der Russland-Experte Mark Galeotti in der "Moscow Times". Galeotti führt die erste Reaktion der Ärzte in Omsk darauf zurück, dass der Kreml von Nawalnys Vergiftung "kalt erwischt" wurde.

Es kann gut sein, dass einzelne "Silowiki",die grauen Männer des Sicherheitsapparats, sich selbst zu Richtern über die Kritiker des Präsidenten aufschwingen. Ein Auftragsmord ist in Russland dank mafiöser Strukturen, die vom Kreml bis in den Kaukasus reichen, schnell organisiert. Auf jeden Fall trägt Wladimir Putin die Verantwortung dafür, dass er als Langzeitpräsident eine Atmosphäre geschaffen hat, die staatlichen Terror und Exekutionen von Kremlkritikern ungestraft lassen.

Doch selbst davon lassen sich die Kritiker nicht einschüchtern. Seit Wochen demonstrieren Tausende Bürger im sibirischen Chabarowsk gegen die Verhaftung ihres Gouverneurs Sergei Frugal. Und auch die Massenproteste gegen den von Wladimir Putin gestützten Alexander Lukaschenko in Belarus haben gezeigt, wie schnell Diktaturen ins Wanken geraten können.

Je härter der Kreml seine Oppositionellen behandelt, umso wütender wird deren Widerstand. Aktivist Sergei Boiko kandidiert in Novosibirsk für die Regionalwahlen am 13. September. Wie Alexei Nawalny tritt er mit offenem Hemdkragen in YouTube-Videos auf und klagt die Korruption der Führung im Kreml an. "Alexei ist ein Problem für die Machthaber",sagt Boiko. "Doch wir haben die Proteste in Chabarowsk, wir haben Weißrussland, und bei den Wahlen hier wird es auch nicht gut aussehen für Putins Partei Geeintes Russland."

Zwei Tage vor dem Giftanschlag trank Boiko in Novosibirsk einen Tee mit seinem Idol. Jetzt liegt Alexei Nawalny in Berlin im Koma. In Sibirien aber geht sein Kampf weiter.

Tessa   Szyszkowitz

Tessa Szyszkowitz