Stichwahlen in der Türkei: Der letzte Strohhalm

Am 28. Mai wird in der Türkei die wichtigste Wahl des Jahres entscheiden. Ausschlaggebend für die Stichwahl ist auch, wem die Wähler des drittplatzierten Ultranationalisten Sinan Oğan ihre Stimme geben – und ob Erdoğans Herausforderer Kılıçdaroğlu die gesamte Opposition hinter sich vereinen kann.

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In der Türkei war die Enttäuschung nach dem ersten Wahlgang vor einer Woche groß: Bei den Anhängern von Recep Tayyip Erdoğan, weil er sich als erster türkischer Präsident überhaupt einer Stichwahl stellen muss. Und bei den Fans seines Herausforderers Kemal Kılıçdaroğlu von der sozialdemokratischen CHP, weil dieser unter den Erwartungen geblieben ist. Kılıçdaroğlu liegt fast fünf Prozentpunkte hinter Erdoğan. Am Sonntag in einer Woche wird eine Stichwahl darüber entscheiden, wer der nächste türkische Präsident wird – oder bleibt.

Ausschlaggebend wird dabei auch sein, wie sich die Anhänger des drittplatzierten Sinan Oğan verhalten. Der Ultranationalist hat im ersten Wahlgang zwar nur rund 5,2 Prozent der Stimmen erhalten. Doch das würde ausreichen, um dem einen oder anderen zum Wahlsieg zu verhelfen.

Und so wurde Oğan über Nacht zu einem der gefragtesten Männer in der Türkei. Die Drähte in seinem Büro liefen heiß, doch der Ultranationalist hat bis Redaktionsschluss am Freitagabend keine Empfehlung für die Stichwahlen abgegeben. Eine solche wird er sich, wenn überhaupt, teuer abkaufen lassen.

Wer ist Sinan Oğan – und wer hat ihn gewählt?

Der 55-Jährige Ökonom aserbaidschanischer Herkunft ist schon länger politisch aktiv. Bevor Erdoğan 2018 das Präsidialsystem einführte, war Oğan, damals noch Abgeordneter der rechtsextremen MHP, einer der schärfsten Kritiker des geplanten „Ein-Mann-Regimes“. Oğan flog aus der Partei, klagte und trat wieder ein, um wenig später erneut ausgeschlossen zu werden. Im März 2023 verkündete er für die rechtsnationalistische ATA-Allianz seine Kandidatur für das Amt des Präsidenten – und strich mit 5,2 Prozent der Stimmen mehr ein, als ihm zugetraut worden war.

Bei den Stichwahlen gilt Oğan nun als Königsmacher, dabei ist unklar, ob seine Wähler einer Empfehlung überhaupt folgen würden. Sicher ist lediglich, dass Oğans rund 2,8 Millionen Wählerinnen und Wähler sowohl Erdoğan als auch Kılıçdaroğlu verhindern wollten. „Wir wissen nicht, wer Oğans Wählerinnen und Wähler bei dieser Wahl waren, denn dazu liegen keine Studien vor“, sagt die Politologin Bilgin Ayata von der Uni Graz. „Es waren sicher auch Protestwähler dabei, die ihren Unmut über Erdoğans und Kılıçdaroğlu ausdrücken wollten, denn Oğan hatte keine Chance, die Wahlen zu gewinnen.“ Oğans Basis mache ein bis zwei Prozent der Wahlberechtigten aus, ein Großteil seiner Wähler hätte auch für einen anderen Dritten gestimmt. „Für wen sie sich in der Stichwahl entscheiden, ist ungewiss.“

Ayata erinnert daran, dass es diesmal nicht nur um Persönlichkeiten geht, sondern um eine Frage, die viel größer ist: „Wird die Türkei ihr hundertjähriges Bestehen am 29. Oktober dieses Jahres als ein autokratischer, religiös geprägter Nationalstaat begehen– oder als säkulare, demokratische Republik?“

Welche Chancen hat Kılıçdaroğlu?

Für Erdoğan ist es peinlich, dass es überhaupt zu einem zweiten Wahlgang kommt – trotz autokratischer Herrschaft und Dominanz in allen Medien. Doch für die Stichwahl am kommenden Sonntag gilt er als Favorit. Kılıçdaroğlu werden nur geringe Chancen eingeräumt.

Für den Herausforderer geht es in der kommenden Woche um alles. Um zu siegen, muss er die gesamte Opposition hinter sich vereinen. Das Problem: Der Drittplatzierte Oğan hat seinen Wahlkampf auf den Kurden als Feindbild aufgebaut. Seine Wähler zu gewinnen, ohne die Kurden zu vergraulen, ist die Quadratur des Kreises, die Kılıçdaroğlu nun gelingen müsste.

„Wir wissen nicht, wer Oğans Wählerinnen und Wähler bei dieser Wahl waren. Für wen sie sich in der Stichwahl entscheiden, ist ungewiss."

Bilgin Ayata

Politologin, Uni Graz

Hinzu kommt, dass viele religiöse Menschen in der Türkei fürchten, ihre Rechte unter Kılıçdaroğlus Bündnis zu verlieren. Im Wahlkampf hat die AKP behauptet, die CHP wolle das Kopftuchverbot wieder einführen. Das stimmt zwar nicht, hat aber einen wahren Kern: Bis 2008 war Kopftuchträgerinnen die Mitgliedschaft in der Partei untersagt, 2020 zog erstmals eine Kandidatin mit Hijab in die Parteiversammlung ein. Deshalb verfängt Erdoğans Behauptung, die CHP wolle das Kopftuch verbieten.

Ayata hält es dennoch für möglich, dass Kılıçdaroğlu eine Chance hat. Der Termin für die Stichwahl fällt auf den zehnten Jahrestag der Gezi-Proteste von 2013. Im Kampf gegen Erdoğan versammelten sich damals unterschiedlichste Bevölkerungsgruppen auf dem Gezi-Platz in Istanbul. „Gläubige Muslime, Feministinnen, Veganer, Ultranationalisten und LGBTQ-Aktivisten verband ausschließlich die Opposition zu Erdoğan“, sagt Ayata. Es sei durchaus denkbar, dass sich diese heterogene Gruppe zehn Jahre später erneut zu einer unmöglichen Koalition gegen Erdoğan zusammenfindet: „Die vereinende Kraft könnte auch diesmal der Motivator sein.“

Welche Strategie verfolgt Kılıçdaroğlu im Wahlkampf-Finale?

Bisher trat Kılıçdaroğlu als besonnener, wenn auch langweiliger Bürokrat auf: versöhnlich, friedliebend, aber auch ohne großes Charisma. Im Wahlkampf inszenierte er sich als „Anti-Erdoğan“. Während der amtierende Präsident seine Kampagne auf Hetze gegen seinen Herausforderer, Shaming des Westens und Hass gegen Kurden und andere Minderheiten aufbaute, verfolgte der Oppositionsführer die Gegenstrategie und betonte stets das Verbindende.

In der Woche nach dem ersten Wahlgang ist Kılıçdaroğlu von seiner Positiv-Strategie abgekommen. Der 74-Jährige warnte vor „weiteren zehn Millionen Flüchtlingen“, vor „Plünderungen“ und davor, dass „Mafia und Drogenhändler“ die Kontrolle in den Städten übernehmen würden, sollte Erdoğan noch einmal gewinnen.

Die Türkei beherbergt rund vier Millionen Menschen aus Syrien, die hohe Zahl birgt gesellschaftliche Sprengkraft und war eines der zentralen Themen im Wahlkampf. In den vergangenen Monaten hat Kılıçdaroğlu angekündigt, im Falle eines Sieges Geflohene innerhalb von zwei Jahren nach Syrien zurückzuschicken. Am Donnerstag betonte er, „alle Flüchtlinge“ nach Hause zu schicken, „sobald ich an der Macht bin“.

Mit seiner scharfen Rhetorik will Kılıçdaroğlu offenbar die Hardliner abholen, die hinter Oğan vermutet werden. Die Syrer in der Türkei – allen voran ihre Ausweisung – und der „Kampf für die türkische Identität“ waren in dessen Kampagne zentral.

Ayata hält diese Strategie für falsch: „Diese fünf Prozent sind nicht nur Hardliner, da waren auch viele dabei, die Erdoğan einen Denkzettel verpassen wollten.“ Für Kılıçdaroğlu wäre es klüger, bei seiner verbindenden Strategie zu bleiben, sagt die Politologin.

Was würde sich unter einem Präsidenten Kılıçdaroğlu ändern?

Bei den Wahlen in der Türkei dreht sich alles um die Frage, ob es einen demokratischen Neuanfang geben kann. Erdoğan regiert das Land seit mehr als 20 Jahren – zunächst als Premier, seit 2014 als Präsident – und hat die Türkei zu einer Autokratie umgebaut.

Befürchtet wird, dass Erdoğan, sollte er noch einmal gewinnen, die säkuläre Ordnung weiter aufheben und die Rechte von Minderheiten und Frauen noch mehr einschränken wird. Einige Parteien in Erdoğans rechtsnationalem Bündnis befürworten die strafrechtliche Verfolgung Homosexueller, Geschlechtertrennung in Schulen und Eheschließungen im Kindesalter.

Ein Präsident Kılıçdaroğlu könnte zwar am Parlament, in dem die AKP und ihr Koalitionspartner MHP ihre absolute Mehrheit halten konnten, vorbei regieren. Doch der Sozialdemokrat hat versprochen, den Rechtsstaat wiederherzustellen und das Land in die parlamentarische Demokratie zurückzuführen.

„Wird die Türkei ihr hundertjähriges Bestehen am 29. Oktober dieses Jahres als ein autokratischer, religiös geprägter Nationalstaat begehen– oder als säkulare, demokratische Republik?“

Bilgin Ayata

Politologin, Uni Graz

Von heute auf morgen ist das aber nicht möglich. Der Soziologe Kenan Güngör spricht von einer „AKPisierung“ aller staatlichen Strukturen wie des Rechtssystems, des Sicherheitsapparates, der Ökonomie und nahezu der gesamten Medienlandschaft: „Ein Präsident Kılıçdaroğlu würde drei bis vier Jahre brauchen, um die nötigen Reformen durchzusetzen.“ Erst danach könnte der Übergang vom autokratischen Präsidialsystem in eine parlamentarische Demokratie stattfinden.

Der Ausgang der Wahlen in der Türkei ist auch für Europa von großer Bedeutung. Das Land ist – zumindest auf dem Papier – EU-Beitrittskandidat; es ist Mitglied der NATO, Gastland für vier Millionen Geflüchtete aus Syrien und (gescheiteter) Vermittler im Ukrainekrieg.

Kılıçdaroğlu würde wohl auch mit der EU einen Konsens suchen – auch, was das Flüchtlingsabkommen mit Brüssel betrifft, das er neu verhandeln will. Im Falle eines Wahlsieges hat er angekündigt, „sämtliche demokratischen Standards der Europäischen Union vollständig umzusetzen“.

Ayata geht von einem Aufleben der Beziehungen zwischen der Türkei und der EU unter einem Präsidenten Kılıçdaroğlu aus: „Die Opposition in der Türkei, so enttäuscht sie auch sein mag, ist bereit für einen Neuanfang.“

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort und gehört zum "Streiten Wir!"-Kernteam.